Читать книгу O Samael - Martin Francis Forster - Страница 9
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Montag, 16. Mai 1881
Der Barbier merkt, dass ich nicht zu Gesprächen aufgelegt
bin und hält sich bedeckt. Doch heute sitzt einer von Georgs Brüdern (ich weiß nicht welcher, denn ich kann sie nur schwer auseinander halten) neben mir auf dem Rasierstuhl und fängt eine Unterhaltung an. Er spricht über das Wetter, über Politik, gibt ein wenig Dorftratsch von sich. Als ihm kein Thema mehr einfällt, über das er sich auslassen kann, erkundigt er sich nach meiner Frau. Wie es ihr gehe, fragt er. Ob es Besserung gäbe, möchte er wissen.
Ich bedanke mich kurz angebunden für die freundliche Nachfrage, doch er versteht nicht, dass ich meine Ruhe haben möchte, und hakt nach, will es genauer wissen. Ich antworte, dass es ihr an manchen Tagen besser als an anderen gehe, aber nein, leider gebe es im Gesamten keine Besserung zu verzeichnen.
Was für ein Jammer, dass die Wurzel-Nele nicht mehr da sei, meint er. Die hatte für jedes Wehwehchen die passende Medizin parat. Die hätte sicher auch in diesem Fall gewusst, was zu tun gewesen wäre.
Sicher nicht, denke ich. Aber die Nele kann man ohnehin nicht mehr zu Rate ziehen. Denn Nele ist tot, in ihrer Hütte im Wald verbrannt.
Der Barbier ist fertig und wischt die letzten Seifenreste mit dampfenden Tüchern von meinem Gesicht.
Ich stehe auf, und obwohl ich es mir schon vor geraumer Zeit abgewöhnt habe, mich im Spiegel zu betrachten, fällt mein Blick unweigerlich auf den Mann, der sich jetzt erhebt, und ich blicke kurz in die Augen des Menschen, der ich geworden bin.
Einen Gruß soll ich ausrichten, bittet Georgs Bruder. Das werde ich gerne tun, sage ich, bezahle die Rasur und verlasse den Laden.
Auf dem Weg zum Hirschen grüßen ein paar Leute. Sie wünschen mir einen schönen Tag. Ich hebe meinen Hut, nicke ihnen höflich zu und wünsche ihnen Dasselbe.
Ich mache einen kleinen Abstecher zur Bäckerei. Das unbeschwerte Bimmeln der Glöckchen über der Tür lässt ein junges Mädchen aufblicken.
»Guten Morgen, Onkel Adam!«, ruft sie.
»Guten Morgen, Klärchen! Du siehst wieder hinreißend aus, wenn ich das sagen darf.«
Sie freut sich über das ehrliche Kompliment. Ihr Lächeln ist von bezaubernder Herzlichkeit, Augen und Gesicht verraten die Aufgewecktheit der Jugend.
Durch die Tür zur rückwärtig gelegenen Backstube tritt Elena mit einem Korb voller frischer Brote hinter die Theke und stellt ihn ab.
»Klara, beeil dich! Du kommst zu spät zur Schule. Oh, guten Morgen, Adam!«, grüßt auch sie.
Das Mädchen kichert, winkt mir zu und huscht an mir vorbei zur Tür hinaus.
Ich stehe der Mutter meines Sohnes gegenüber. Ein zweites Mal werde ich heute auf meine Frau angesprochen. Ein zweites Mal gebe ich zur Antwort, dass es unverändert schlecht um sie steht, dass der Arzt sein Bestes tut, sich aber keinen Rat weiß. Dass wir nur hoffen können.
»Die Tage werde ich einmal vorbeischauen, wenn die Arbeit es zulässt. Du weißt ja ...«
Ja, ich verstehe das verlegene Unwohlsein, mit dem sie ihre Besuche in der Schreinerei aufschiebt. Sie fühlt aufrichtig mit, macht sich Sorgen. Doch sie ist hilflos. Sie erträgt den verstörenden Anblick meiner Frau nur schwer, kann mit dem Kummer, der endlosen Trauer nicht umgehen.
»Sag ihr einen lieben Gruß, und richte ihr meine besten Wünsche aus, wenn sie ...« Sie bricht ab.
Wenn sie bei Verstand ist, wenn sie einen ihrer wenigen, klaren Momente hat, in denen sie zu begreifen scheint, was man ihr sagt, meint sie damit. Ich verspreche es.
Im Dorf nimmt man regen Anteil. Man bekommt alles mit, sieht und hört alles, kennt die Neuigkeiten und bleibt auf dem Laufenden. Man unterhält sich, tauscht sich aus. Die Leute wissen Bescheid. Jeder weiß etwas anderes. Wenn sie miteinander reden, vermengen sich Wahrheit und Vermutung zu neuen Gerüchten.
Die Leute wissen nichts.
Im Hirschen hänge ich meinen Mantel an die Garderobe und nehme eine in schwarzes Leder gebundene Kladde aus der Tasche. Ich lege sie vor mir auf den Tisch, doch ich schlage sie nicht auf. Dann zünde ich mir eine Zigarette an und warte auf meine Tasse Kaffee.
Meine Geschichte neigt sich dem Ende zu. Alles ist geschehen, was nicht geschehen sollte. Mehr vielleicht.
*