Читать книгу Pultstar - Martin Geiser - Страница 14
6
ОглавлениеMein Vater war mächtig, das wusste er, und er verstand es auch vortrefflich, seine Macht auszuspielen. Er war sich bewusst, welche gottähnliche Erscheinung er mit seinem Auftritt als Dirigent für einen Konzertbesucher darstellte.
»Es ist ein merkwürdiges Gefühl, das jeder eigentlich einmal erleben sollte: Sie vollführen eine Geste in der Luft – und es entsteht Klang«, pflegte er gerne in Gesellschaft zu sagen, wenn er von jemandem auf das Wunder des Dirigierens angesprochen wurde, und weiter meinte er: »Es ist vollkommenes Glück, vor dem Orchester zu stehen und von den Musikern das zu hören zu bekommen, was ich in den Vorbereitungen tief in mir drin gespürt habe. Jeder sollte solch ein Glücksgefühl selber einmal spüren dürfen.«
Ich wusste in solchen Situationen genau, dass er damit bloß kokettierte und sich volksnah geben wollte. Nie und nimmer hätte er einem anderen Menschen den Triumph gegönnt, den er Mal für Mal in Form von tosendem Applaus entgegennehmen durfte.
Jetzt lag er vor mir, in seiner Dirigentengarderobe, und war tot. Umgebracht von seinem Sohn, dem einzigen, der ihn wahrscheinlich verstanden und begriffen hatte, durch welch einsames und isoliertes Leben der tote Mann am Boden gewandelt war. Gefangen in seiner eigenen Welt, in der Welt der Musik, ein Suchender. Aber auch jemand, der gefunden hatte, der die Einmaligkeit des musikalischen Aktes erlebt hatte, dem sein ganzes Leben lang nichts als Klänge im Kopf herum geschwirrt waren, der in der Sprache der Musik gelebt und sich dadurch nicht mehr im Stande gesehen hatte, den Außenstehenden sein Erlebtes mit Worten mitzuteilen.
Der Mann, der vor mir auf dem Boden lag, hatte mich auf wundersame Weise in die Welt der Musik eingeführt, er war mein einflussreichster Lehrer, mein abgöttisch geliebtes Vorbild. Er hatte mich gelehrt, dass man Musik nicht erklären, sondern nur erleben kann, dass Musik hinter unserem Denken liegt und eigentlich nichts anderes ist als die Wirklichkeit und die Wahrheit selbst.