Читать книгу Pultstar - Martin Geiser - Страница 22

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1940 – 1962

Wenn Victor Steinmann in einem seiner selten gegebenen Interviews nach seinen ersten musikalischen Erinnerungen gefragt wurde, so zeichnete sich ein feines Lächeln in den Mundwinkeln ab. Es war eine der Fragen, auf die er sorgfältig eine ausführliche Antwort vorbereitet hatte. Er besaß die Gabe, den Verlauf eines Gesprächs, je länger es dauerte, zu bestimmen und den Journalisten so zu beeinflussen, dass dieser von seinem vorbereiteten Manuskript abwich und stattdessen diejenigen Fragen stellte, die der Maestro ihm quasi aufzudrängen wusste. Victor pflegte sich in solchen Situationen entspannt zurückzulehnen – ganz in der Manier eines wortreichen Geschichtenerzählers –, nahm eine Denkerpose ein, indem er die Fingerkuppen aneinanderlegte und schien seine Gedanken in die Vergangenheit schweifen zu lassen, in seinem Gedächtnis zu kramen und nach den richtigen Worten zu suchen.

Victor Steinmann wusste exakt, wie er seine Zuhörer fesseln konnte, nicht nur im Konzertsaal, wenn er Orchester und Publikum gleichermaßen im Griff hatte, sondern auch bei jedem anderen beliebigen Auftritt in der Öffentlichkeit. Diese waren allerdings sehr selten und wurden sorgfältig von ihm ausgewählt. Ein Interview mit Victor Steinmann, das in einer Zeitung oder einer Musikzeitschrift erschien, musste einen triftigen Grund haben und so wohldosiert gestreut werden, dass es von der Leserschaft gierig aufgesogen wurde.

Er hielt sein Privatleben, soweit es ihm möglich war, streng unter Verschluss und äußerte sich nur zu seiner Arbeit und zu musikalischen Themen. Am liebsten klagte er den Journalisten über den Zerfall der klassischen Musik in unserer Zeit, über die Schnelllebigkeit der Gesellschaft und den damit verbundenen Mangel an Konzentrationsfähigkeit der jungen Menschen und deren Unfähigkeit, sich somit auf musikalische Erlebnisse im Konzertsaal einzulassen.

Doch als Person des öffentlichen Lebens waren seine Aktivitäten außerhalb der Konzertsäle natürlich ein beliebtes Sujet, und zahlreiche Boulevard-Journalisten und Paparazzi waren sehr interessiert daran, den Teil seines Lebens der Leserschaft näher zu bringen, den der Dirigent am liebsten unter Verschluss gehalten hätte. Und da er sich zu solchen Themen selber nie äußerte, rankten sich unzählige Mythen und Legenden um das Privatleben des großen Maestros.

Wenn man sich die Zeit nahm, die Gespräche mit Victor Steinmann in den Medien aufmerksam miteinander zu vergleichen, so musste man unweigerlich zum Schluss kommen, dass der Maestro eigentlich selten etwas Neues zu verkünden hatte. Eigentlich glichen die Reportagen oder Interviews einander wie ein Ei dem anderen; nicht zuletzt dadurch bedingt, dass es ihm eben immer wieder gelang, seinem Gegenüber die von ihm gewünschten Fragen in den Mund zu legen und somit seine gründlich von ihm vorbereiteten Antworten zum Besten geben zu können – so wie zum Beispiel seine ersten musikalischen Erinnerungen.

Es gehörte auch zur systematisch einstudierten Inszenierung, dass er die Fragen bedächtig entgegennahm und sich mit der Formulierung der Antworten reichlich Zeit ließ, sodass der Fragesteller in der Tat den Eindruck haben musste, dass sich sein Gegenüber sehr genau überlegt, was er nun antworten und mit welchen Worten er es formulieren will.

»Meine ersten musikalischen Erinnerungen ... Ja, das ist gar nicht so einfach. Lassen Sie mich einen Moment überlegen, man wird ja schließlich nicht jünger, nicht wahr? Eine gute Frage übrigens; ich erinnere mich, sie auch schon gestellt bekommen zu haben.«

Dann wurden die Augen geschlossen, um die Konzentrationsfähigkeit scheinbar zu erhöhen, die aneinandergelegten Fingerkuppen pochten ganz sanft auf die Lippen. Und dann plötzlich ein weises Lächeln, wie ihn die Erinnerung just in diesem Moment wieder eingeholt hatte, die Augen wurden wieder geöffnet, der Körper leicht nach vorne gebeugt, die Hände gefaltet auf den Tisch gelegt – sofern einer vorhanden war. Alles sorgfältig zurecht gelegt und vor dem Spiegel bestimmt dutzendmal eingeübt.

»Ich erinnere mich an meine Mutter, eine begnadete Pianistin, welche aber zum Wohl der Familie auf eine musikalische Karriere verzichtet hat, um meinen Vater in seiner ärztlichen Praxis unterstützen zu können und um für mich da zu sein – ich bin ein Einzelkind, müssen Sie wissen.«

Tatsächlich war Victors Mutter Gertrud völlig unmusikalisch gewesen und hatte sich aufrichtig für ihre Strickarbeiten und den Berner Sennenhund interessiert, welchen sie anstelle ihres nie geborenen zweiten Kindes verhätschelte und verwöhnte. Musik war ihr ziemlich gleichgültig gewesen, und es ist nicht sicher, ob sie Bach von Brahms hätte unterscheiden können.

Gertrud Steinmann war eine etwas korpulente, mittelgroße Frau, die sich umtriebig und mit viel Energie um den Haushalt und die Erziehung ihres einzigen Sohnes gekümmert hatte und darüber hinaus erst noch Zeit fand, ihrem Ehemann Bruno in dessen Praxis zur Hand zu gehen.

Sie trug meistens dunkle und dicke Stoffe, und ihr blondes Haar war stets zu einem Dutt hochgesteckt. Stolz auf das dunkle, wellige Haar ihres Sohnes kümmerte sie sich emsig darum und kämmte es mit dem notwendigen Wachs streng nach hinten – eine Angewohnheit, die Victor bis ins hohe Alter übernommen hatte und seinem mittlerweile schlohweiß gewordenem Haar die gleiche sorgfältige Pflege zukommen ließ.

»Musik war in unserer Familie allgegenwärtig«, pflegte Victor fortzufahren. »Keine Tonträger, wie das heute leider der Fall ist, wie sich die Leute ja nur noch von Musik berieseln lassen, unfähig selber eine Tonleiter zu singen oder gar Dur von Moll unterscheiden zu können. Es gab damals noch keine akustische Umweltverschmutzung, allgegenwärtige Schlager oder wie man diesen Lärm heute nennt, welcher nicht einmal selber komponiert sondern nur noch neu aufbereitet wird.«

Er vermied es strikt, moderne Begriffe zu verwenden, obwohl ihm Bezeichnungen wie Hits oder Coverversionen natürlich bekannt waren; das passte aber nicht zum Vokabular eines Pultstars, der sich eigenmächtig zum Gralshüter der klassischen Musik ernannt hatte.

Die Aussage betreffend der musikalischen Allgegenwärtigkeit in der Familie Steinmann enthielt tatsächlich einen, wenn auch sehr geringen Wahrheitsgehalt. Vater Bruno, ein geschätzter allgemeinpraktizierender Mediziner mit einer eigenen Hausarztpraxis, war der Musik nicht abgeneigt, hörte sich gerne Konzerte im Radio an und besuchte vielleicht dreimal im Jahr eine Aufführung im Berner Casino oder eine Oper im Stadttheater. Bereits bei Richard Strauss endete allerdings sein musikalisches Verständnis und eine Symphonie von Gustav Mahler löste bei ihm lediglich Kopfschütteln aus.

Er war ein groß gewachsener, sehr ruhiger, bedächtig und besonnen wirkender Mann, von dem Victor die Körpergröße und seine aufrechte Haltung geerbt hatte, obschon er im Kindes- und Jugendalter durch seinen rasch voranschreitenden Körperwuchs eher schlaksig und beinahe etwas linkisch gewirkt hatte.

Bruno Steinmann war bei seinen Patienten wegen seiner geduldigen und andächtigen Art und Arbeitsweise sehr beliebt. Er nahm sich jeweils viel Zeit, um ihren Problemen zu lauschen, auch wenn das Wartezimmer brechend voll war – eine Eigenschaft, die er sich leider nicht für seinen Sohn reserviert hatte. Er kannte keinen Zeitdruck und mit den Hausbesuchen arbeitete er häufig bis in die späten Abendstunden, sodass der kleine Victor seinen Vater manchmal nur an den Wochenenden zu Gesicht bekam – vorausgesetzt natürlich, dass dieser keinen Bereitschaftsdienst hatte und nicht zu einem Notfall abberufen wurde.

Wenn die Mutter in der Praxis aushalf, nahm sie ihren Sohn und den Berner Sennenhund mit, und so krabbelte der Junge im Empfangsbereich herum und verirrte sich schon manchmal ins Wartezimmer, wo er interessiert die dort wartenden Patienten musterte und unter fürsorglichen Niedlichkeitsbekundungen junger Damen auf deren Schoss landete, wo Mutter Gertrud oder die jeweilige Sprechstundenhilfe ihn dann selig vor sich hin schlummernd vorfand.

»Mein Vater war, durch seinen anstrengenden und verantwortungsvollen Beruf, selten bei uns zu Hause. Am Abend musste er häufig, nachdem er seine Praxis geschlossen hatte, noch Hausbesuche bewältigen und so war ich häufig mit meiner Mutter alleine und konnte ihrem Klavierspiel lauschen. Sie war eine wunderbare Pianistin, spielte einen wundervollen Mozart, einen kraftvollen Beethoven und einen leidenschaftlichen Chopin. Da sind wohl meine ersten musikalischen Erinnerungen anzusiedeln, um wieder auf Ihre Frage zurück zu kommen: Meine Mutter, die am Flügel sitzt und sich mit geschlossenen Augen ihrem Klavierspiel hingibt – so habe ich das auf jeden Fall in meiner Erinnerung. Ich, der kleine Bub, lag daneben auf der Chaiselongue oder durfte sogar neben ihr auf dem Klavierstuhl Platz nehmen und die Noten mitverfolgen. Manchmal spielte sie mir ganz einfache Melodien vor, die ich dann nachzuspielen versuchte. So hat das Ganze wohl angefangen.«

Ende der Ausführungen, jeder Satz sorgfältig zurecht gelegt, manchmal improvisierend das eine oder andere ausschmückende Adjektiv hinzugefügt und jetzt mit einem milden Lächeln auf die nächste Frage des Journalisten wartend, welche dann meistens lautete, wie sich denn das ungeheuer musikalische Talent des kleinen Victors gezeigt und weiterentwickelt habe.

Der Flügel hatte tatsächlich im Haus der Familie Steinmann im bernischen Köniz gestanden; allerdings handelte es sich dabei um ein Erbstück von Brunos Vater, und da im großen und geräumigen Heim der Arztfamilie genug Platz vorhanden war, hatte man einen Raum als Musikzimmer und Bibliothek eingerichtet, Büchergestelle an die Wände platziert, um die unzähligen Bücher – darunter auch sehr viele Erbstücke – zu versorgen, und den Flügel in die Mitte gestellt. In einer Ecke fand außerdem noch eine Chaiselongue ihren Platz, welche Ruhe und Entspannung bei Musik und Literatur ausdrücken sollte, und auf einer kleinen Louis-Seize-Kommode unterhalb des Fensters standen zwei Büsten – eine von Mozart und eine von Goethe –, welche den Eindruck von einem großen kulturellen Geist, der diesen Raum erfüllen sollte, abrundeten.

»So kann man also sagen, dass Ihre Mutter Ihre erste musikalische Förderin gewesen ist und Sie in die Geheimnisse der Musik eingeführt hat?«

»Man kann alles sagen«, pflegte Victor in solchen Momenten den Journalisten auf die unsorgfältige Formulierung seiner Frage hinzuweisen und stellte zufrieden fest, dass das Gespräch den von ihm vorgesehenen Verlauf angenommen hatte.

»Meine Mutter ließ mich Tonleitern und Akkorde spielen, gab mir die ersten einfachen Übungsstücke und unterwies mich in Harmonielehre. Es sind sehr glückvolle Momente, an die ich mich häufig zurückerinnere. Als ich die ersten Fortschritte gemacht hatte, durfte ich sogar gemeinsam mit ihr ganz einfache Kompositionen spielen – Stücke, welche sie selber für vier Hände gesetzt hatte, damit wir zusammen musizieren konnten. Später meinte sie dann, dass sie bei ihrem eigenen Sohn nicht mehr die nötige Strenge aufbringen würde, um meinen musikalischen Werdegang noch mehr zu fördern. Und so trat dann die wundervolle, von mir aufs Äußerste verehrte und leider viel zu früh verstorbene Mademoiselle Szábo in mein Leben.«

Krisztina Szábo, eine in ganz Europa bekannte Klavierlehrerin, hatte den jungen Victor tatsächlich unter ihre Fittiche genommen, erst allerdings, als dieser zehn Jahre alt war und bereits während fünf Jahren eine fundierte musikalische Grundausbildung bei Wilhelm Frank, seinem ersten Klavierlehrer, genossen hatte.

Da die große ungarische Klavier- und Musikpädagogin kurz nach Victors Abschluss am Konservatorium verschieden war, war es ihr jedoch verwehrt, dem Familienleben der Steinmanns in der Öffentlichkeit die notwendigen Korrekturen anzubringen und somit den Wahrheitsgehalt von Victors Aussagen ins richtige Licht zu rücken.

Bruno Steinmann fand, dass das Musikzimmer – und vor allem der Flügel – wenigstens von einem Familienmitglied häufiger genutzt werden sollte. Der kleine Victor, der als Einzelkind manchmal selber nach Beschäftigungen Ausschau halten musste, hatte das Musikinstrument für sich entdeckt und liebte es, auf die Tasten zu hämmern – am liebsten mit den Fäusten – und damit zum einen schräge Töne zu erzeugen und zum anderen seine Mutter Gertrud in den Wahnsinn zu treiben.

Weil der Sohn also am Flügel Gefallen gefunden hatte, und da genug Geld vorhanden war – obschon sehr sparsam damit umgegangen wurde –, schickte Bruno den kleinen Knaben zu einem stadtbekannten Klavierlehrer, zu eben bereits erwähntem Wilhelm Frank, dem schon nach wenigen Lektionen das äußerst sensible Musikgehör des jungen Steinmanns auffiel. Fünf Jahre später fand er, dass Victor reif sei für die strenge Unterweisung von Krisztina Szábo, und diese zögerte nach einem Vorspielen keinen Moment, sich des jungen Talents anzunehmen.

»Mademoiselle Szábo hat enorm hohe Forderungen an mich gestellt und hat neben Technik und Ausdruck mich auch mit der Harmonielehre vertraut gemacht und mir ständig kleine kompositorische Aufträge erteilt. Sie war meine größte Förderin in musikalischem Grundwissen und Klaviertechnik – sehr viel, was ich heute bin, habe ich ihr zu verdanken. Aber ohne die große Liebe und Geduld meiner Mutter hätte ich es gar nie soweit gebracht. Sie war immer für mich da, unterstützte mich und wies mich immer wieder auf den richtigen Weg, wenn ich mich im Dickicht der Musik verloren hatte.«

Es war für Victor Steinmann von enormer Bedeutung, dass in seiner Biografie als musikalisches Wunderkind Parallelen mit Mozart zu finden waren. So wie dieser vom Vater unterrichtet worden war, sollte auch bei Victor ein Familienmitglied wegweisend für seine musikalische Laufbahn gewesen sein.

Einen plausiblen Grund für diese Lügengebilde war in Victors Biografie nicht eindeutig auszumachen. Wie weit die enorme Eitelkeit des Dirigenten mit hineinspielte oder ob einfach dem Wunsch nach einem harmonischen Familienleben, das durch seine Schilderungen entsprechend verklärt wurde, Gerechtigkeit getan werden sollte, konnte nie ganz abgeklärt werden.

Gewiss kann man allerdings sagen, dass er mit der Überbetonung auf das glückliche Verhältnis mit seinen Eltern und die fiktionale Förderung durch seine Mutter von seinem eigenen Scheitern als Vater ablenken wollte.

Erkundungen nach seinem Sohn Fabrice hatte er jedenfalls bei seinen Interviews nicht mit eingerechnet, und wenn er es durch seine manipulative Art nicht verhindern konnte, dass ihm diese Fragen gestellt wurden, so beantwortete er diese sehr vage und ausweichend und versuchte jeweils mit den richtigen Formulierungen wieder auf ein ihm angenehmeres Terrain einzuschwenken.

*

Tatsächlich wurde die besondere Begabung von Victor Steinmann schon früh festgestellt. Bereits im Kindergarten störte es ihn, wenn seine Kameraden falsch sangen, und später in der Schule korrigierte er seinen Musiklehrer, als dieser den Choral zum Stundenbeginn einen Halbton zu tief anstimmen wollte. Victor selber fand nichts Besonderes daran, für ihn war das absolute Musikgehör selbstverständlich, und er konnte nicht begreifen, wieso andere Menschen die falschen Töne nicht auch deutlich benennen konnten.

»Man erkennt den Buchstaben A ja auch deutlich und kann ihn von anderen Schriftzeichen unterscheiden«, klagte er während einer Lektion seinem Klavierlehrer. »Weshalb können andere denn die Note C nicht eindeutig heraushören?«

Wilhelm Frank unterrichtete seine Schüler nicht aus Passion, sondern war auf diesen Verdienst angewiesen, um seinen Lebensunterhalt finanzieren zu können. Seine Leidenschaft gehörte der Alten Musik, Johann Sebastian Bach war sein Abgott, und er spielte das Cembalo in verschiedenen Ensembles, was finanziell allerdings nicht besonders einträglich war.

Er war ein kleiner, runder Mann mit einer Glatze und einem gewaltigen Schnurrbart, den er jeden Tag mit Kamm und Schere kürzte und zurecht schnitt. Anschließend zwirbelte er ihn mit Bartwichse kunstvoll an den Enden und zupfte minutenlang daran herum, bis er endlich mit dem Resultat zufrieden war.

Er trug stets eine weinrote oder eine olivgrüne Strickjacke, welche er beide schon seit vielen Jahren besaß und die über seinem mächtigen Bauch so sehr spannten, dass er sie nicht mehr zuknöpfen konnte.

Seine Klavierschüler mochten ihn, weil er alles andere als streng war, aber trotzdem mit viel Geduld und Beharrlichkeit ihnen alles abverlangte. Mit sanfter Stimme konnte er sie eindringlich auf ihre Fehler hinweisen und wurde auch nicht lauter, wenn es beim x-ten Mal immer noch nicht klappen wollte.

Er hatte stets ein Bonbon oder ein Stück Schokolade bereit – obschon es sich in der damaligen Zeit dabei um einen Luxusartikel gehandelt hatte –, das er seinen Schülern reichen konnte, sei es als Belohnung für einen besonders gelungenen Vortrag oder als Trost, wenn die Fortschritte sich einfach nicht wie gewünscht einstellen wollten. Er erhielt dafür den Spitznamen Zuckerfrank, mit dem er selbst bis weit in die Musikerkreise hinein bekannt war.

Sein Arbeitszimmer, in dem Flügel und Cembalo untergebracht waren, war von oben bis unten mit Büchern gefüllt; außerdem waren die beiden Instrumente komplett mit Noten überstellt. In der ganzen Wohnung roch es nach Zigarrenrauch, und die Aschenbecher waren meistens mit Stummeln überfüllt. Trotz des deutlichen Geruchs nach Tabak war die Luft im Arbeitszimmer noch am frischsten, da es der einzige Raum war, der regelmäßig durchgelüftet wurde.

Dafür wurden die Schüler mit dem starken Mundgeruch von Zuckerfrank konfrontiert, wenn er sich zu ihnen hinüberbeugte, um einen Fingersatz näher zu erklären. Wenn man Pech hatte, und die Lektion unmittelbar nach der Mittagspause stattfand, konnte man außerdem noch erraten, was er zum Essen eingenommen hatte, wenn man nicht schon vorher von seinen Knoblauchausdünstungen umgeworfen worden war.

Doch Zuckerfrank war ein herzensguter Mensch, dem man die Anerkennung als Solist verwehrt hatte und der deshalb auf die Klavierstunden angewiesen war.

Manchmal saß er verträumt neben seinen Schülern und war abgetaucht in die klangvolle und sakrale Welt seines Johann Sebastian Bachs. Die Studenten bemerkten während ihres Vorspiels natürlich nichts von seiner geistigen Abwesenheit, waren vertieft in ihre Etüde, konzentrierten sich auf die Noten, die vor ihrer Nase aufstellt waren und waren beschäftigt damit, die richtigen Tasten zu treffen. Wenn sie erschöpft am Ende des Klavierstückes angekommen waren, innerlich fluchend und resümierend, wie oft sie den falschen Ton getroffen hatten, und ihren Klavierlehrer mit einem seligen Lächeln neben sich sitzen sahen, verträumt an seinem ordentlich gezwirbelten Schnurrbart zupfend und das Vorspiel angeregt lobend, – »Das hast du aber fein gespielt. Machen wir’s doch gleich nochmals.« – dann, ja, dann wussten sie, dass sie ihn gerade mitten aus seinen Träumen wieder in die reale Welt zurückgeholt hatten.

Da Victor Steinmann eine sehr rasche Auffassungsgabe besaß, sich schnell von den Noten lösen und auswendig spielen konnte, warf er Zuckerfrank während des Vorspielens heimliche Seitenblicke zu, und wenn er merkte, dass sein Lehrer geistig wieder abwesend war, so erlaubte er sich etwa den Spaß, seine Übungen mit kleinen Improvisationen auszuschmücken und freute sich diebisch darüber, wenn dieser nichts davon bemerkte und ihm am Ende der Etüde sogar ein Lob dafür aussprach.

Zuckerfrank hatte das absolute Gehör – die Fähigkeit, die Höhe eines beliebigen Tones zu bestimmen – bei seinem Schützling Victor Steinmann schon lange erkannt, ihn aber explizit nicht darauf hingewiesen, da er dachte, der Knabe sei noch zu jung, um diese Begabung verstehen und richtig einordnen zu können.

»Schau, Victor«, meinte er, nachdem er sich gründlich überlegt hatte, mit welchen Worten er dem jungen Knaben seine besondere Fähigkeit genauer erklären sollte und dieser wegen des starken Mundgeruchs bereits etwas auf Distanz gerutscht war, »es ist etwas sehr Besonderes, wahrscheinlich wurde dir diese Begabung vererbt. Sehr wenige Menschen sind mit dieser Fähigkeit ausgestattet. Man nennt sie das absolute Musikgehör.«

Die Forschung, besonders die Neuropsychologie, sollte sich erst viele Jahre später mit der genaueren Erforschung dieser Begabung auseinandersetzen. So war dies zu dieser Zeit die einzige Erklärung, die Zuckerfrank für Victor eingefallen war und die er für angemessen hielt.

»Aber«, erwiderte Victor, »dann müssten Vater oder Mutter das ja auch können.« Natürlich hatte er bereits gemerkt, dass seine Eltern durchaus Gefallen an seinem Klavierspiel fanden, selber aber nicht unbedingt viel mit Musik anfangen konnten – Vater Bruno noch mehr als Mutter Gertrud.

Zuckerfrank faltete seufzend die Hände und sehnte sich nach einer Zigarre. Er konnte seinem Schützling keine plausible Erklärung liefern und versteckte sich hinter Plattitüden: »Das Leben geht manchmal merkwürdige Wege, die man nicht immer nachvollziehen kann. Lass uns die Sonatine noch einmal etwas genauer ansehen.«

Damit war das Thema abgeschlossen und Victor hatte mit Zuckerfranks Erklärung, die ihm etwas nebulös erschien, zur Kenntnis genommen, dass er scheinbar eine besondere Fähigkeit hatte, welche seinen Schulkollegen sehr fremd war und die leider keinen Grund bot, in der Klassenhierarchie etwas höher zu steigen, was bei einem fußballerischen Talent zum Beispiel gewiss eher der Fall gewesen wäre.

Er musste das bereits ein paar Tage später feststellen, als sein Pultnachbar Franz Pfister im Rechenunterricht vom Lehrer gelobt wurde. Es war wieder, wie immer zu Beginn der Stunde, wettkampfmäßiges Kopfrechnen geübt worden. Die ganze Klasse musste dazu aufstehen, der Lehrer stellte Rechenaufgaben, die aus drei oder sogar vier Operationen bestanden, und wer das Resultat als Erster rausschreien konnte, durfte sich setzen. So blieben am Ende des Spiels diejenigen stehen, die nach mehreren Durchgängen immer wieder hängen geblieben waren und das richtige Ergebnis nicht hatten nennen können. Überflüssig zu erwähnen, dass es sich dabei immer um die gleichen Knaben handelte, die deshalb schon von Beginn weg nicht mehr mitrechneten, da sie wussten, dass sie gegen die Schnellrechner der Klasse ohnehin keine Chance hatten.

Franz Pfister, Victors Nachbar, war also fast immer der Erste, der sich setzen konnte, was der Lehrer an diesem Tag mit einem Sonderlob auszeichnete. Da hob Victor die Hand und meinte stolz, als der Lehrer ihn aufrief: »Ich bin wohl nicht so ein guter Rechner, aber dafür habe ich das absolute Musikgehör.«

Man hätte in der darauf folgenden Stille eine Stecknadel fallen hören. Der Lehrer starrte Victor an und wusste nicht, was er darauf sagen sollte – vielleicht kannte er die Bedeutung dieses Begriffs überhaupt nicht – und ließ nach einem Moment der Besinnung mit einem ironischen Unterton in der Stimme verlauten: »Natürlich hast du das, Victor. Und du wirst es damit bestimmt noch ganz weit bringen.« Dann setzte das laute Gelächter seiner Klassenkameraden ein, das sofort mit drohenden Worten des Lehrers unterbunden wurde, und Victor versteckte seinen hochroten Kopf in den aufgestützten Armen.

In der Pause wollte Kollege Franz aber dann doch noch wissen, was das denn genau sei, was sein Pultnachbar angeblich so gut könne und setzte sich im Pausenhof zu ihm auf die Treppe, um nachzufragen.

Victor hatte das Pausenbrot, das ihm seine Mutter liebevoll zusammengestellt hatte und auf das er sich immer im Voraus freute – manchmal so fest, dass in die Stille der Klasse hinein sein Magen zu knurren begann, was ihm grinsende Gesichter seiner Mitschüler und einen tadelnden Blick des Lehrers einbrachte –, nicht angerührt. Seine Gedanken kreisten immer noch um die peinliche Situation in der vergangenen Unterrichtsstunde.

Sein Ansehen in der Klasse war ohnehin nicht besonders hoch; da er immer daran interessiert war, seine Aufgaben korrekt und sorgfältig zu erledigen, wie ihm das seine Eltern gebetsmühlenartig eintrichterten, nannten ihn seine Mitschüler einen Streber und drangsalierten ihn dementsprechend – außer natürlich, wenn es darum ging, von ihm die Hausarbeiten abschreiben zu können. Wenn die stärkeren Knaben ihn herumschubsten, wehrte er sich nicht und ließ es geschehen, auch wenn die Stöße manchmal so heftig waren, dass er hinfiel und sich dabei die Knie aufschürfte.

Als Franz Pfister sich neben Victor setzte, dachte dieser, es gehe um sein Pausenbrot oder aber es sei ein herablassender Spruch seines Mitschülers zu erwarten. So war er ganz erstaunt, als Franz noch einmal nachfragte, was diese merkwürdige Sache mit dem Gehör denn auf sich habe.

Victor zierte sich nach der Peinlichkeit im Unterricht und wollte zunächst nicht mit einer Erklärung herausrücken. Erst auf Franz’ Drängen, begann er, ihm eifrig zu erzählen, wie er Töne voneinander unterscheiden und benennen könne.

Franz hörte ihm zu und sagte, nachdem Victor geendet hatte, zunächst einmal nichts. Dann fragte er: »Du meinst also, Steinmann, dass du mir sagen kannst«, und damit ließ er einen lauten Rülpser erschallen, »ob das gerade ein C oder ein Fis gewesen ist?«

Er hielt sich den Bauch vor Lachen und lief zu seinen Kameraden, um ihnen die Neuigkeit zu erzählen. So wurde Victor in den nächsten Monaten auf dem Schulhof auf schmerzhafte Weise immer wieder an seine Begabung erinnert.

So stellte sich beispielsweise ein Mitschüler ihm in den Weg, ließ einen lauten Furz ertönen und wandte sich mit gestelzter Stimme an ihn: »Steinmann, ich bin mir nicht ganz sicher, aber du kannst mir sicher sagen, ob ich das A getroffen habe.« Oder man schleppte ihn zu den Mädchen, welche auf dem Schulhof kreischend Völkerball spielten, stellte ihn an den Rand des Spielfeldes und fragte lauthals: »Sag mal, Steinmann, schreien die Weiber eigentlich in Dur oder Moll?«

Victor konnte seine Tränen nicht immer zurückhalten, und häufig musste der Lehrer, der Pausenaufsicht hatte, einschreiten, den weinenden Knaben von seinen laut lachenden Kollegen entfernen und sich um ihn kümmern.

Es war eine schmerzhafte Zeit für Victor, und er verfluchte sich häufig dafür, der Klasse im Allgemeinen und Franz im Speziellen von seiner Begabung erzählt zu haben. Er zog sich immer mehr zurück, verbrachte die Pausen alleine auf den Stufen der Schulhaustreppe oder unter einem Baum, wo er einen Apfel aß und tief verinnerlicht die Klavieretüden durchging, die er momentan zu bewältigen hatte.

Er blieb während seiner Schulzeit ein Außenseiter, erzählte seinen Eltern nichts von den Hänseleien seiner Mitschüler und bemühte sich, gute Noten zu erhalten, denn das war dasjenige, was seinen Vater interessierte und wozu er Victor auch stetig anhielt.

*

Krisztina Szábo wurde zu Victors Klavierlehrerin, als dieser zehn Jahre alt war. Zuckerfrank hatte den Eindruck, dass er dem talentierten und ungeheuer wissbegierigen jungen Steinmann mit seinem Unterricht nicht mehr gerecht werden könne und riet Vater Bruno, seinen Sohn einer Kapazität auf dem Gebiet der Klavierschule anzuvertrauen.

Mademoiselle Szábo, wie sie angesprochen zu werden bat, war das pure Gegenteil von Zuckerfrank. Sie war im Januar 1942 aus Budapest in die Schweiz geflohen, nachdem die ungarische Regierung einen Monat zuvor den Vereinigten Staaten den Krieg erklärt hatte. Das Bündnis ihrer Heimat mit dem nationalsozialistischen Deutschland hatte sie zuvor schon missbilligend zur Kenntnis genommen, und als sich ungarische Truppen im Juni 1941 am Krieg gegen die Sowjetunion beteiligten, begann sie, in aller Stille ihren Abgang aus dem Königreich ohne König zu planen.

Sie war damals gerade fünfzig Jahre alt geworden, hatte keine näheren Verwandten mehr und kannte ein paar befreundete Ungaren, die sich in der Schweiz niedergelassen hatten. Zunächst wohnte sie in Zürich bei einem ungarischen Violinisten, mit dem sie ein mehr als freundschaftliches Verhältnis unterhielt. Als sich die erste Leidenschaft gelegt hatte und der Geigenspieler sich lieber etwas jüngeren Frauen zuwandte, verließ sie ihn und ließ sich in Bern nieder, einer Stadt, die sie schon oft besucht und die ihr besonders wegen ihres gemütlichen Treibens gefallen hatte. Oft erzählte sie mit ihrem scharfen ungarischen Akzent: »Im Vergleich zu Zürich ist Bern ein Dorf, aber ein sehr urbanes Dorf!« Obschon sie die städtische Hektik aus Budapest gewöhnt war, gefiel es ihr, sich im Alter an einem etwas ruhigeren Ort niederzulassen, ohne jedoch das kulturelle Angebot einer Stadt vermissen zu müssen.

Als sie von der Judenverfolgung in ihrer Heimat erfuhr, war sie entsetzt und sah sich als Außenstehende mit einer traurigen Realität konfrontiert, die sie in Budapest immer erfolgreich zu verdrängen gewusst hatte. Sie kannte viele jüdische Musiker und Künstler in Budapest und warf sich jetzt auf ihre melodramatische Art und Weise selber vor, sie im Stich gelassen zu haben, als sie in die Schweiz gekommen war.

Sie reagierte auf ihren ins Unermessliche gestiegenen Hass auf die Nazis auf ihre eigene, spezielle und eigenwillige Weise: Sie verbannte Richard Wagner, Hitlers Lieblingskomponisten und bis anhin neben Frédéric Chopin ihre eigene große Devotionalie, aus ihrem Haus und vor allem aus ihrem Geist, dadurch, dass sie seine Büste zerstörte, die Schallplatten mit Wagner-Opern zerbrach und die entsprechenden Partituren in den Ofen schmiss. Damit war sie der Meinung, Abbitte für ihre Ignoranz in Bezug auf die Judenverfolgung geleistet zu haben.

Krisztina Szábo war eine kleine, energische Frau, die stets nach der neusten Mode gekleidet war und sich ihre schulterlangen Haare regelmäßig kastanienbraun färbte, nachdem sie die ersten grauen Strähnen entdeckt hatte. Auch während den Klavierlektionen war sie immer tadellos geschminkt und so angezogen, als wenn sie zum Ausgehen bereit wäre.

Sie war eine Disziplinfanatikerin, die ihren Schülern kein Detail durchgehen ließ und sie sofort unterbrach, wenn ihr die kleinste Nuance nicht passte und ihnen auch schon mal gebieterisch auf die Finger klopfte, wenn ihr die Fingerhaltung nicht gefiel. Um die Korrekturen anzubringen, sprach sie nicht viel, sondern rutschte von ihrem Sessel neben ihre Schüler auf den Klavierstuhl, spielte ihnen nachdrücklich und bestimmt vor, wie diese Passage zu gestalten sei und beharrte unerbittlich darauf, dass diese Interpretation die einzig Richtige sei und daher übernommen werden müsste.

Das Musikzimmer war sehr spartanisch eingerichtet. Außer ein paar Bildern aus ihrer Heimat an der Wand stand bloß eine Büste von Chopin auf dem Flügel – Wagner hatte ja bekanntlich Hausverbot –, neben der sich ein säuberlich geordneter und akkurat ausgerichteter Stapel mit Notenblättern ansammelte – was für ein Gegensatz zu den Räumlichkeiten bei Zuckerfrank! Das Zimmer war so klein, dass sich neben dem Instrument nur noch Platz für einen mächtigen Ohrensessel fand, in dem Mademoiselle Szábo dem Vorspiel ihrer Schüler zu lauschen pflegte. Da sie jedoch alle paar Takte etwas auszusetzen hatte, stand sie meistens hinter ihren Schülern an die Wand gelehnt, um sofort eingreifen zu können.

Krisztina Szábo entdeckte schließlich eine weitere Fähigkeit Victors. Er ignorierte während den Lektionen die Notenblätter, die vor ihm auf dem Flügel standen und starrte, während er ihr vorspielte, entweder ins Leere oder betrachtete seine Finger, die über die Tasten flogen.

Sie hatte eine Vorahnung, weil sie in Budapest bei einem ihrer Schüler Ähnliches festgestellt hatte, und wollte Victor auf die Probe stellen. Zu Beginn der Lektion gab sie ihm eine kurze Sonatine und bat ihn, sie ihr vorzuspielen. Er setzte sich hin – vom Blatt zu spielen bereitete ihm keine große Mühe – und trug das Stück fehlerfrei vor.

»Gut gemacht«, lobte sie und nahm die Noten weg. »Kannst du es mir bitte nochmals vorspielen?«

Victor zuckte mit den Schultern und machte sich daran, die Sonatine zu wiederholen. Er spielte sie erneut korrekt und hatte die Gestaltung des Stückes bereits ein bisschen weiterentwickelt.

»Das ist erstaunlich«, meinte die Klavierlehrerin, saß völlig aufrecht und angespannt in ihrem Ohrensessel und schaute Victor ernst an.

»Habe ich was falsch gemacht?«, fragte der Junge argwöhnisch, worauf Krisztina Szábo nachdenklich den Kopf schüttelte und sich für ihre nächste Bemerkung viel Zeit ließ.

»Sag mal, mein Junge, kannst du mir das Übungsstück von Diabelli, das du für vorletzte Woche aufhattest, noch einmal vorspielen?«

»Aber natürlich, Mademoiselle!« Victor strahlte und wandte sich den Tasten zu. »Mögen Sie es auch so sehr wie ich? Die Läufe sind sehr schwierig, aber ich habe das Stück sehr gerne.«

Und so erkannte Krisztina Szábo, dass Victor Steinmann neben dem absoluten Musikgehör auch ein fotografisches Gedächtnis hatte. Sie ließ ihn während dieser Lektion alles vorspielen, was er in den letzten Wochen geübt hatte, ohne dass auch nur ein Notenblatt auf dem Flügel gestanden hätte.

»Das ist erstaunlich, mein Junge«, flüsterte sie erneut. »Der Schöpfer hat es gut mit dir gemeint. Wir haben noch viel Arbeit vor uns, und ich denke, dass die Musik dein Leben bestimmen wird.«

Mutter Gertrud hatte schon lange festgestellt, dass ihr Sohn von der Kraft des Klaviers in dessen Bann gezogen worden war. Musik war das Einzige, was ihn zu begeistern vermochte. Er hatte ein paar Schulkameraden – ähnliche Außenseiter wie er selbst –, mit denen er sich von Zeit zu Zeit verabredete, vor allem in den Sommermonaten, um in der Aare schwimmen zu gehen. Ansonsten fand sie ihn meistens im Musikzimmer vor, wo er entschlossen seine Übungen absolvierte, die wildesten Akkordfolgen ausprobierte und seine Mutter inmitten ihrer Strickarbeiten, mit dem Sennenhund zu ihren Füssen, regelmäßig aufschreckte, sodass sie ihn zur Ruhe mahnen musste. Es kam aber auch immer häufiger vor, dass er in der Chaiselongue lag und Schallplattenaufnahmen der großen Symphonien und Opernwerke lauschte, die er sich von Mademoiselle Szábo ausgeliehen hatte.

Vater Bruno nahm Victors Leidenschaft mehr oder weniger teilnahmslos zur Kenntnis, war aber froh, dass sein Sohn eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung gefunden hatte, mit der er niemandem zur Last fiel und dass er weiterhin gute Noten nach Hause brachte.

Mademoiselle Szábo unterrichtete ihren Schüler noch drei Jahre lang, in denen sie ihn mit allerhöchsten Forderungen konfrontierte, bevor sie dann das Gespräch mit Bruno Steinmann und seiner Frau suchte, ihnen erklärte, dass sie sich für den talentierten Sohn eine musikalische Laufbahn vorstellen könnte und ihnen empfahl, Victor im Konservatorium anzumelden.

Bruno Steinmann hätte es lieber gesehen, wenn sein Sohn in seine Fußstapfen getreten wäre und hoffte immer noch, dass Victor an der Universität »etwas Anständiges« studieren würde, wie er sich ausdrückte. Natürlich war ihm nicht verborgen geblieben, welche Fortschritte sein Sohn bei Mademoiselle Szábo erzielt hatte – dass er sich dabei allerdings mehr auf die Berichte und Beobachtungen seiner Frau Gertrud abstützte, verschwieg er geflissentlich. Nach langem Ringen mit sich selbst willigte er schließlich ein, Victor bei einer musikalischen Laufbahn zu unterstützen; im Geheimen hoffte er jedoch inständig, dass sein Sohn sich noch umentscheiden würde. Allerdings verknüpfte er mit seinem Einverständnis auch eine Bedingung: Er verlangte nämlich, dass Victor zunächst die Matur machen sollte, bevor er sich ganz auf die Musik konzentrieren könne.

So geschah es auch, alle Parteien waren zufrieden mit dem Ausgang des Gesprächs, und trotzdem nahm der Tag noch ein schlechtes Ende, denn als die Steinmanns nach Hause kamen, fanden sie Gertruds über alles geliebten Sennenhund tot in seinem Korb liegen. Nicht, dass sein Dahinscheiden völlig unerwartet gekommen wäre – er hatte doch ein stolzes Alter erreicht und an diversen kleinen und größeren Gebrechen gelitten. Aber anstatt dass man sich darüber freuen konnte, dass für die Zukunft des einzigen Sohnes heute eine entscheidende Weiche gestellt worden war, klang der Tag nun in bedrückter und betrübter Stimmung aus – selbst für Victor, der den Hund sehr gemochte hatte.

Victor verließ Mademoiselle Szábo nach vier Jahren hochintensivem Klavierunterricht und genoss von nun an die Ausbildung am Berner Konservatorium. Ein Jahr später schloss er seine obligatorische Schulzeit ab und absolvierte zusätzlich den Unterricht am Kirchenfeldgymnasium in Bern.

*

Victor Steinmann stellte bald einmal fest, dass er sich mit den Klangfarben einer Klaviatur nicht zufrieden geben konnte. Er wollte ein Orchester leiten. Selbst Professor Paul Glauser, sein Professor für Komposition konstatierte rasch, dass es sich bei dem jungen Victor um einen außergewöhnlich interessierten jungen Mann handelte, der die Partituren mit einer Akribie und Genauigkeit untersuchte, wie er es vorher noch nie bei einem Studenten erlebt hatte.

Der junge Schützling konnte sich mit ungemein intensiver Konzentration in eine Partitur vertiefen, ohne dass er noch etwas von dem, was um ihn herum geschah, wahrnehmen konnte. Er befand sich in seiner eigenen Welt; in der Welt der Klänge, in einer Welt, in der sich alles zum Einklang fügte, in der alles aufging wie eine mathematische Gleichung. In seinem Kopf türmten sich Klangvorstellungen auf, die ein Außenstehender nicht im Entferntesten erahnen konnte. Jede Stimme hatte für ihn seine Berechtigung – deshalb war sie vom Komponisten notiert worden –, also musste sie auch hörbar bleiben, durfte nicht von den anderen Instrumenten zugedeckt werden.

Der junge Victor besuchte aufmerksam die Konzerte des Berner Stadtorchesters im Casino und musste häufig nach den Aufführungen mit Verachtung feststellen, dass die Interpretationen, die er vernommen hatte, nicht im Entferntesten an seine Klangvorstellungen heranreichten, die er sich natürlich im Vorfeld des Konzertes bei einer intensiven Auseinandersetzung mit der Partitur angeeignet hatte.

Genüsslich zerriss er in Gesprächen und Diskussionen mit seinen Studienkollegen die Leistungen der Dirigenten in der Luft und stellte seine Professoren mit Fragen, auf die sie mit großer Verblüffung um einige Bedenkzeit beten mussten, vor mächtige Probleme.

»Aber Junge«, ermahnte ihn Mademoiselle Szábo, mit der er nach wie vor regen Kontakt pflegte und die ihn das eine oder andere Mal zu den Konzerten im Casino begleitete. Sie hatten sich gerade eine Aufführung von Debussys La Mer angehört, an der Victor kein gutes Haar ließ. »Du darfst nicht vergleichen, was du auf Schallplatten hörst. Jede Aufführung ist einmalig und kann nicht mit etwas anderem verglichen werden!«

Als er sie von seinen Plänen in Kenntnis setzte, geriet sie ganz aus dem Häuschen. »Du willst Dirigent werden, mein Junge? Ein Orchester leiten? Wie der große Herr Professor Furtwängler!« Alle großen Musiker waren für sie Professoren. »Milyen csodálatos zenésy!«, entfuhr es ihr in ihrer Muttersprache. »Was für ein wunderbarer Musiker! Ich habe ihn an den Musikfestwochen in Luzern erleben dürfen, wo er dieses Schweizer Eliteorchester geleitet hat.«

Dann stellte sie sich unmittelbar vor ihren ehemaligen Schützling hin, griff nach seinen beiden Händen und musterte ihn nachdenklich von Kopf bis Fuß. »Du wirst ein guter Dirigent werden, mein Junge, ich fühle das. Ich kann mir vorstellen, wie du, in einen eleganten Frack gekleidet, vors Orchester stehen und große Anerkennung und Respekt erhalten wirst.« Dann machte sie einen Schritt von ihm weg und hob drohend ihren Zeigefinger. »Aber denk daran, Junge: Hüte dich vor Wagner. Er ist nicht gut! Er tut keinem gut! Denk an den Professor Mottl!«

Felix Mottl hatte 1911 in München bei der Aufführung von Richard Wagners Tristan und Isolde im zweiten Akt einen Herzanfall erlitten und war daran gestorben.

»Er ist ein großer Verführer«, versuchte Mademoiselle Szábo ihren Hass auf Wagner weiterzugeben. »Seine Musik lockt mit wunderbarer Instrumentierung, aber dahinter lauert das Böse, Junge! Vergiss das niemals!«

Zuckerfrank nahm Victors Berufswunsch ebenfalls verwundert zu Kenntnis, allerdings fiel seine Reaktion etwas anders aus.

»Wozu braucht es Dirigenten?«, fragte er Victor. »Alles selbsternannte Regenten, Götter im Frack, die meinen, sie einzig und allein hätten den Schlüssel dazu, wie Musik zu spielen sei. So was von lächerlich!« Er winkte angewidert ab. In den kleinen Barock-Ensembles, in denen er Cembalo spielte, war häufig kein Dirigent von Nöten, und wenn er einmal in einer größeren Formation mitspielte, an deren Spitze ein Orchesterleiter stand, so hatte er Mühe, sich einer Autorität unterzuordnen.

»Maestro hier, Maestro dort«, feixte er. »Dabei spielen die gar kein Instrument! Oder hast du aus einem Taktstock je einmal einen einzigen Ton vernommen, Victor?«

Zu Professor Glauser, dem jüngsten Professor am Konservatorium, hatte Victor ein sehr freundschaftliches Verhältnis und tauschte sich mit ihm regelmäßig über Klangvorstellungen, Partiturlesen und Dirigiertechnik aus.

Paul Glauser unterrichtete Komposition und Musiktheorie am Konsi, wie die Berner ihre Musikhochschule liebevoll nannten. Daneben hatte er ein paar Forschungsprojekte am Laufen, so untersuchte er zum Beispiel die Fibonacci-Folge in der Musik. Mathematik war seine große Leidenschaft und da ihm von seinen Eltern die Liebe zur Musik in die Wiege gelegt worden war, begann er, sich mit Komposition und Musiklehre auseinanderzusetzen – zwei Gebiete, in die er die Mathematik einfließen lassen konnte, die er drei Semester lang studiert hatte.

Außerdem plante er, eine Übersicht über die zeitgenössische Musik, die ihm sehr am Herzen lag, zu schreiben, die allerdings nie vollendet werden sollte. Dafür veröffentlichte ein kleiner Berner Verlag seine Novelle mit dem Titel »Berner Rhapsodie«, die er während des Studiums mit viel Lokalkolorit angereichert zu Papier gebracht hatte und auf die er sehr stolz war, auch wenn das schmale Büchlein sehr wenig Abnehmer gefunden hatte.

Sein breites Interesse an allem, was auch neben der Musik ablief und sein großes Allgemeinwissen brachten ihm viel Anerkennung und Respekt ein – bei seinen Schülern, aber vor allem auch bei seinen Professorenkollegen, von denen die meisten deutlich älter waren als er.

Paul Glauser war noch keine vierzig Jahre alt, doch sein schütterer Haarkranz und der buschige Vollbart ließen ihn gemeinsam mit der altertümlichen Brille, die er trug, mindestens zehn Jahre älter erscheinen. Ob er dies in vollem Bewusstsein tat, weil er befürchtete, er könnte mit seinem beinahe jugendlichen Alter nicht ernst genommen werden, wusste man nicht, aber nötig hätte er es auf jeden Fall nicht gehabt. Er war verheiratet und hatte zehnjährige Zwillinge. Die Familie stand bei ihm ganz weit oben, doch es gelang ihm nie wirklich, Frau und Kinder mit seinen zahlreichen Interessen und Beschäftigungen unter einen Hut zu bringen, so sehnlichst er sich das auch gewünscht hätte, und er konnte froh sein, dass Nelly, seine Ehefrau, ihm das nötige Verständnis entgegenbrachte und ihm stets den Rücken stärkte – auch wenn die Familie oft unter seiner Abwesenheit leiden musste.

Victor Steinmann hatte inzwischen das Gymnasium mit der Höchstnote abgeschlossen und wohnte noch bei seinen Eltern in Köniz, obschon er seinen Vater dauernd bedrängte, ihm doch ein Studio in der Stadt zu finanzieren. Bruno winkte ab und meinte: »Und dann brauchst du selbstverständlich ein Klavier und was weiß ich sonst noch alles. Nein, Victor, wenn du Geld brauchst, dann gehe arbeiten, wie das andere Studenten auch tun müssen. Du wirst dich ohnehin schon bald gutbürgerlicher Arbeit zuwenden müssen, bis du je einmal von der Musik wirst leben können.«

So ernannte Victor das elterliche Musikzimmer zu seinem persönlichen Arbeitszimmer – wogegen niemand etwas einzuwenden hatte – und richtete sich dort ein, um sich tage- und manchmal sogar nächtelang zurückzuziehen, zu studieren und spielen zu können. Er hatte häufig die Fensterläden geschlossen und arbeitete bei künstlichem Licht – ein Umstand, der von seinem Vater überhaupt nicht goutiert wurde –, sodass er die Tageszeit gar nicht wahrnahm, und es ereignete sich mehr als einmal, dass seine Mutter ihn mitten in der Nacht zurecht weisen musste, weil er sämtliches Gefühl für Zeit verloren hatte und mit großer Wucht den Flügel bearbeitete oder die Lautstärke des Grammophons voll aufgedreht hatte.

Es war dann Paul Glauser vorbehalten, ein weiteres Talent Victors zu entdecken.

Als Victor ihn zu einem Übergang bei einer Beethoven-Symphonie befragen wollte und ihm die entsprechende Stelle am Klavier vorspielte, stutzte der Professor, nahm einen Stuhl und setzte sich neben Victor.

»Sagen Sie mir, Victor, nach welchen Vorgaben haben Sie diese Passage soeben gespielt? Haben Sie einen Klavierauszug des Werkes, den Sie studiert haben?«

Der Angesprochene blickte den Professor ungläubig an. »Ein Klavierauszug? Wozu denn das? Ist doch reine Verschwendung, ich habe ja die Partitur. Da steht ja alles drin, braucht man nur auf die Tasten zu übertragen. Das ist doch kein Problem.«

Glauser schüttelte den Kopf, erhob sich und trat zu seinem Büchergestell. Nachdem er die Buchrücken kurz studiert hatte, griff er ein Werk hinaus – es war die Partitur einer Brahms-Symphonie – und legte sie Victor aufs Klavier.

»Was soll ich damit? Wollen wir jetzt Brahms’ Vierte besprechen, die kenne ich in- und auswendig. Ich dachte, wir wollen uns über Beethoven unterhalten.«

Glauser stellte sich aufrecht hinter Victor und verschränkte gespannt die Arme. »Wir werden noch genug Zeit haben, auf Ihre Frage einzugehen, Victor. Bitte spielen Sie einfach, was ich Ihnen hingelegt habe.«

»Na gut, wenn ich Ihnen damit eine Freude machen kann«, seufzte Victor. Er schloss die Partitur und reichte sie mit einem verschmitzten Lächeln seinem Professor. »Also dann, die Vierte Brahms.« Und er begann, Professor Glauser das Werk auswendig vorzuspielen. Dieser hielt das Buch an seine Brust gedrückt und glaubte, seinen Ohren nicht mehr trauen zu können. Nervös strich er sich durch seinen buschigen Vollbart und rückte sich die Brille zurecht. Victor spielte das Werk nicht einfach vor, es war bereits eine eigene Interpretation erkennbar, und die Klangfarben wurden von ihm absolut plausibel aufs Klavier übertragen. Er spielte den kompletten ersten Satz durch, drehte sich zweimal mit dem Klavierstuhl um die eigene Achse, breitete die Arme aus und betrachtete mit hochgezogenen Augenbrauen seinen Professor, der während des ganzen Vorspiels wie angewurzelt hinter Victor stehen geblieben war. »Aber seien wir ehrlich, mit Orchester tönt es schon viel besser, nicht wahr? Sprechen wir jetzt über die Beethoven-Passage?«

Nach diesem Erlebnis war für Paul Glauser klar, dass er Victor auf dem Weg zum Orchesterleiter nicht ausreichend unterstützen konnte, er musste sich nach jemandem umsehen, der auf diesem Gebiet die nötige Erfahrung mitbrachte. So klopfte er bei Luc Balmer an, der früher am Konservatorium Klavier und Theorielehre unterrichtet hatte und momentan Musikdirektor der Bernischen Musikgesellschaft war. In dieser Funktion leitete er die Symphoniekonzerte des Berner Stadtorchesters.

»Ich habe da einen Studenten«, meinte er zu Balmer, »der wächst mir über den Kopf. Er will Dirigent werden, und ich habe das Gefühl, dass er schon mehr über Partiturlesen und Orchesterleitung weiß als ich. Ich glaube nicht, dass ich ihm in diesem Bereich noch etwas beibringen kann. Kannst du ihn dir einmal ansehen, Luc?«

Balmer war zu diesem Zeitpunkt anfangs sechzig und strahlte eine unglaubliche Ruhe und Gelassenheit aus. Er wusste, dass hinter den Kulissen der Bernischen Musikgesellschaft große Unruhe herrschte, weil man nach einem neuen Dirigenten suchte, der von international angesehenem Format sein sollte, was er, Balmer, leider nicht verkörperte. Daher war ihm bewusst, dass er das Orchester nicht mehr lange leiten durfte, und da er seinen Beruf über alles liebte, genoss er die Zusammenarbeit mit den Musikern noch in vollen Zügen. Durch seine frühere Lehrtätigkeit am Konservatorium war er an jungen Talenten noch immer sehr interessiert und erklärte sich bereit, sich der Herausforderung zu stellen: »Sag deinem Studenten, er solle ein paar meiner Proben besuchen. Danach werde ich mich einmal mit ihm unterhalten.«

Victor klopfte allerdings bereits nach der ersten Probe ans Dirigentenzimmer, stellte sich höflich vor und bat Luc Balmer, ihm ein paar Fragen zur eben gehörten Probe stellen zu dürfen.

»Sie sind also Glausers Schützling?«, schmunzelte Balmer, strich sich übers Kinn und musterte sein Gegenüber aufmerksam. »Er hat mir nicht zu viel versprochen. Ich habe am Nachmittag Zeit. Kommen Sie um drei Uhr doch noch einmal hierher.«

Und so begann eine äußerst fruchtbare Zeit für Victor. Er besuchte so viele Orchesterproben, wie es nur ging und besprach sich mit Luc Balmer, wenn es terminlich möglich war, wöchentlich. Er saugte alles auf, was ihm der Musikdirektor erzählte, stellte auch kritische Fragen zu Interpretationen, die er in der Probe oder im Konzert gehört hatte, und Balmer war ihm ein geduldiger Lehrer, der sich viel Zeit für ihn nahm und geduldig auf alle Fragen, die Victor drängten, eine Antwort wusste.

»Ein hochinteressanter junger Mann«, meldete er Professor Glauser. »Ein bisschen ungestüm vielleicht, aber sehr wissbegierig auf alles, was mit Musik zu tun hat. Wann gedenkst du, ihn einmal vor ein Orchester stehen zu lassen?«

*

Selbstverständlich war man im Konservatorium gespannt darauf, wie denn der großmäulige Victor, dem niemand etwas recht machen konnte und der sich immer auf die Wahrheit der Partitur berief, wie denn dieser sich selber als unfehlbar gebende junge angehende Musiker bei einer Orchesterleitung sich in Szene setzen konnte.

Man ließ ihn vors Konservatoriums-Orchester stehen und konnte schon nach der ersten Probe erschreckte Gesichter bei den Musikern feststellen, die mit schüttelnden Köpfen beteuerten, unter solch einem Klugscheißer und Tyrannen nicht mehr spielen zu wollen.

Professor Glauser wollte dem jungen Studenten allerdings eine faire Chance geben und setzte innerhalb des alle Jahre stattfindenden Vortragszyklus, in dem junge Konservatoriumsschüler ihre Talente zur Schau stellen konnten, ein Symphoniekonzert aufs Programm mit einem Ad-hoc-Orchester, bestehend aus Schülern und Lehrern, sowie einigen musikbegeisterten Zugewandten, unter der Leitung von Victor Steinmann.

Es stand eine Haydn-Symphonie auf dem Programm, und im zweiten Teil sollte er eine junge Schülerin namens Emma Forster bei Mozarts A-Dur-Klavierkonzert begleiten.

Victor war alles andere als begeistert, als er hörte, dass der Höhepunkt des Abends ein Klavierkonzert sein sollte, kein Werk also, in dem er sich in Szene setzen konnte, sondern wo er brav begleiten musste. Dass eine Frau den Solopart spielen sollte, ging ihm grundsätzlich gegen den Strich, denn er vertrat damals strikt die Meinung, dass Frauen auf dem Gebiet der Musik nichts verloren hätten. Er korrigierte seine Ansicht später zwar noch leicht, sollte aber immer Mühe damit haben, wenn eine Frau sich nicht seinen musikalischen Ideen unterordnen wollte und ließ sich nicht selten sein Entgegenkommen sexuell vergüten.

Die Proben zu Mozarts Klavierkonzert wurden also zur Machtdemonstration des jungen Maestros.

Er war schon vor den Orchesterproben mit Emma ein paar Mal zusammen gesessen und hatte mit ihr die Konzeption des Werkes besprochen, das heißt, er hatte versucht, ihr seine Ideen einzutrichtern. Das Mädchen, bloß ein paar Jahre jünger als Victor, hatte sich ihm im ersten Moment strikt widersetzt und auf dem Standpunkt beharrt, dass der Dirigent bei einem Instrumentalkonzert prinzipiell die Ideen des Solisten zu unterstützen und zu begleiten habe.

Victor stellte sich stur und rannte nach der zweiten Besprechung mit der Pianistin zu Professor Glauser, um ihm vorzujammern, dass das Mädchen sich nicht der symphonischen Einheit unterordnen könne und dass eine Zusammenarbeit unter solchen Umständen absolut unmöglich sei – und ob es in diesem Falle nicht einfacher wäre, im zweiten Konzertteil eine der späteren Mozart-Symphonien aufs Programm zu setzen, die keine größeren Verzögerungen auf den Plan rufen würde, da er sämtliche Partituren natürlich bereits im Kopf habe.

Paul Glauser wollte von den Ideen seines hochgeschätzten Protegés nichts wissen und meinte, dass dieser Knackpunkt von Victor zu lösen sei und dass Überzeugungskraft und Kompromissbereitschaft auch Eigenschaften seien, über die ein Dirigent zu verfügen habe.

»Es fehlt ihm an Empathie und Taktgefühl«, klagte Glauser bei Luc Balmer. »Er kann nicht auf andere Menschen eingehen, und er weigert sich, andere Ideen auch nur zu prüfen, geschweige denn zu akzeptieren.«

»Lass ihn nur machen«, riet Balmer. »Er muss noch viel lernen, auch wenn er meint, bereits alles übers Dirigieren zu wissen.«

Victor zog sich schmollend zurück und bereitete sich auf die wenigen Proben vor, die ihm mit seinem Ad-hoc-Orchester zur Verfügung standen. Die Musiker atmeten nach jeder Probe auf, wenn sie vorbei war. Der Maestro war unerbittlich und forderte den Musikanten alles ab, überschätzte dabei völlig ihre Fähigkeiten und war nicht bereit, seine hohen Klangvorstellungen zu Gunsten der vorhandenen Ressourcen zurückzuschrauben und zu korrigieren.

Die Proben mit Emma Forster erwiesen sich als noch mühsamer; Victor ließ sie ihren Part spielen und ging mit dem Orchester überhaupt nicht auf ihre Ideen ein, sondern dirigierte eisern seine Konzeption des Werkes, die sich von den Vorstellungen des Mädchens deutlich unterschied. So kam es, wie es kommen musste.

Die Aula des Konservatoriums war bis auf den letzten Platz besetzt. Man hatte noch zusätzlich Stühle hinstellen müssen, und trotzdem hatte es mehrere Zuhörer, welche keinen Sitzplatz mehr hatten ergattern können und die, an den Wänden verteilt, ihre Stehplätze bezogen hatten. Paul Glauser hatte für den Auftritt seines Schützlings eifrig Werbung betrieben, und so befanden sich auch bekannte Größen aus der Schweizerischen Musikszene im Publikum. Auch Luc Balmer hatte sich unter den Zuhörern eingefunden und wartete in der ersten Reihe neben Paul Glauser gespannt auf die Darbietung.

Etwas weiter hinten saß Zuckerfrank neben Mademoiselle Szábo in einem zerknitterten Anzug, der ihm viel zu klein war. Er bot seiner Nachbarin ein Stück Schokolade an, doch diese lehnte höflich ab und blickte diskret in die andere Richtung, um sich wegen seines starken Mundgeruchs frische Luft zuzufächeln.

Auch Victors Eltern hatten ihr Kommen angekündet, doch Bruno war kurzfristig zu einem Notfall gerufen worden, und die Mutter wollte nicht alleine so spät am Abend noch aus dem Haus gehen – zudem litt der kleine, einjährige Berner Sennenhund, ihr neues, verhätscheltes Haustier, an einem kräftigen Durchfall, den es peinlichst genau zu beobachten galt.

Die Aufführung geriet zu einer kleinen Katastrophe. Die Haydn-Symphonie vermochte noch einigermaßen zu überzeugen, obschon kein gesamtheitlicher Bogen zu erkennen war, die Musiker hatten Victors hohe Vorgaben nicht umsetzen können.

Der Applaus war wohlwollend und wohl eher an die Orchestermusiker gerichtet, um sie für ihre Geduld zu belohnen, die sie für die Zusammenarbeit mit Victor aufgebracht hatten. Die Orchesterleistung war zwar ansprechend, die heiklen Passagen wurden gut gemeistert, und trotzdem nahm man die aufgestaute Spannung zwischen dem Dirigenten und seinen Musikern deutlich wahr.

Das Gleiche konnte beim Klavierkonzert festgestellt werden. Emma Forster setzte sich großartig ein und konnte dem Werk durchaus gerecht werden. Das Orchester konnte dies auch, doch die beiden Teile waren einfach nicht auf einen Nenner zu bringen; Tempo und Phrasierung der Solistin und des Orchesters gingen deutlich auseinander.

Das Publikum schenkte Emma warmen Beifall, sobald aber Victor neben sie trat, nahm die Heftigkeit des Applauses deutlich hörbar ab. Es waren sogar ein paar Buh-Rufe zu hören. Victor kümmerte sich nicht darum; ehrwürdig verbeugte er sich, als würde er die Unzufriedenheit im Publikum weder spüren noch zur Kenntnis nehmen.

»Das war nicht schlecht, mein Junge«, lobte Mademoiselle Szábo, welche nach der Aufführung nach wohlwollenden Worten suchte. »Für das erste Mal gar nicht schlecht. Ist noch ein weiter Weg, um der neue Professor Furtwängler zu werden, aber mit deinem eisernen Willen wirst du auch das meistern.«

Zuckerfrank stand daneben, unterhielt sich mit einem weiteren Konzertbesucher über die letzte Aufführung von Bachs h-Moll-Messe im Berner Münster und war froh, auf diese Art und Weise keinen Kommentar zu Victors Auftritt abgeben zu müssen.

Paul Glauser zitierte seinen Schützling am nächsten Tag zu sich und fragte ihn, wie er denn das Konzert erlebt habe. Der junge Victor lamentierte über die Ignoranz des Publikums, über die unmusikalische Pianistin, über die Unfähigkeit des Orchesters, eine strenge Führung zu akzeptieren und so weiter.

Der Professor schaute Victor lange an, kaute am Bügel seiner Brille, wie er das immer tat, wenn er angestrengt nachdachte, schüttelte den Kopf, schwieg und blickte zum Fenster hinaus auf die Kramgasse. Mit traurigem Blick deutete er Victor den Weg zur Türe. Er hatte so gut wie nichts gesagt, seinem Schüler nur ein paar Fragen gestellt und diesen während seiner Klage nicht unterbrochen. Seit Victor sein Lamento beendet hatte, hatte er kein Wort mehr verloren, die Kopfbewegung Richtung Türe war die erste Botschaft an seinen Schützling.

Victor war komplett verwirrt, hatte eine Stellungnahme seines Lehrers erwartet und schüttelte ungläubig und fragend den Kopf. Professor Glauser starrte auf die Kramgasse, nahm Victor überhaupt nicht mehr zur Kenntnis und wartete, bis er endlich alleine war.

Verstört verließ Victor das Zimmer seines Lehrers und wusste nicht, was er von diesem Besuch halten sollte. Er war sich nicht bewusst, etwas falsch gemacht zu haben und war überzeugt, völlig im Recht zu sein.

»Wie haben Sie denn mein Konzert gefunden?«, fragte er Luc Balmer am nächsten Tag, als sich die beiden zu einer Besprechung trafen.

»Victor«, antwortete der Musikdirektor und machte aus seinem Ärger keinen Hehl, »zuerst einmal ist es nicht Ihr Konzert. Das könnten Sie sagen, wenn Sie ein Klavierrezital gegeben hätten. Wenn Sie auf dieser egozentrischen Schiene weiterfahren möchten, dann rate ich Ihnen doch dringendst, sich wieder vollauf auf Ihr Klavierstudium zu konzentrieren.«

»Aber«, wandte Victor ein, »ich habe doch alles so gemacht, wie wir es im Voraus besprochen haben.« Sie hatten gemeinsam das Konzert vorbereitet, die Partitur analysiert und die schwierigen Passagen in Bezug auf die Schlagtechnik besprochen.

»Nun ja«, meinte Balmer nachdenklich, und sein Ärger war bereits wieder etwas verflogen. »Da haben Sie wohl Recht. Wir haben uns nur mit den Anforderungen beschäftigt, die es braucht, um sich das Werk zu eigen zu machen. Aber ich glaube, wir haben vergessen, die andere Seite mit einzubeziehen. Ich denke, wir werden uns in den nächsten Besprechungen sehr stark auf die Vermittlungsarbeit konzentrieren müssen. Achten Sie sich doch in den nächsten Proben ausschließlich darauf, wie ich mit dem Orchester arbeite.«

Victor arbeitete weiterhin hart, das Klavier- und Kompositionsstudium ging ihm leicht von der Hand. In Vortragsübungen durfte er am Flügel seine Fähigkeiten unter Beweis stellen, was ihm stets gute Kritiken einbrachte. Vor allem seine Transkriptionen großer Orchesterwerke wurden viel beachtet und ernteten höchstes Lob. Seine Übertragung von Richard Wagners Tannhäuser-Ouvertüre sorgte bei Ferdinand Tanner, dem Feuilletonisten der Zeitung Der Bund für wahre Begeisterungsstürme – bei Mademoiselle Szábo hingegen für blankes Entsetzen.

»Mein Junge, wie konntest du nur!«, schalt sie ihn nach der Darbietung. Eigentlich hätte sie aufstehen und den Saal verlassen wollen, als die ersten Akkorde der Ouvertüre erklangen, doch ihre Höflichkeit und ihr Respekt vor der Kultur verboten es ihr, den Vortrag zu stören, und so wurde auch sie, zunächst widerwillig, dann aber staunend, von Victors hypnotischem Spiel verzaubert – Wagner hin oder her. »Jetzt bist du ihm also doch in die Falle gegangen, hat dich der alte Nazi mit seinen Klängen verführt!« Von diesem Abend an wollte sie immer genau wissen, welche Werke auf dem Programm standen, bevor sie Victor die Zusage für ihr Kommen gab.

Bruno und Gertrud Steinmann waren bei den Vorspielen auch anwesend, sofern es die Zeit des Arztes erlaubte, und Victors Mutter hatte, auch wenn sie nicht viel von der Musik verstand, mehr als einmal Tränen in den Augen, wenn sie ihrem Sohn am Klavier lauschte und dabei feststellte, wie er mit seinem Spiel die ganze Zuhörerschaft in seinen Bann ziehen konnte. Bruno blieb da jeweils sachlicher: »War gar nicht schlecht. Aber wirst du einmal davon leben können? Nun ja, du hast ja immer noch die Möglichkeit, als Klavierlehrer dein Geld zu verdienen.«

Victor ignorierte die nüchternen Kommentare seines Vaters und freute sich mehr darüber, dass er seine Mutter hatte berühren können, wenn sie mit feuchten Augen schweigend neben ihrem Mann stand.

Vielleicht hatten sich solche Augenblicke in seinem Herzen verankert und waren mitunter der Grund dafür, dass er seine Mutter in Interviews als seine große Förderin bezeichnete.

Natürlich freuten ihn die lobenden Kommentare über sein Klavierspiel, doch sein erklärtes Ziel blieb natürlich die Orchesterleitung. Er konzentrierte sich mehr auf die Gespräche mit Luc Balmer und versuchte, sich auf mentale Art und Weise die Arbeit mit dem Orchester vorzustellen, denn nie mehr hatte man den jungen Steinmann das Konservatoriums-Orchester dirigieren lassen, obwohl er es aufgrund seines Könnens durchaus verdient gehabt hätte. Immer wieder gab man einem anderen Studenten, der sich einmal an einem Orchester messen wollte, den Vorzug, und immer saß Victor Steinmann im Publikum und lauschte mit unbeweglicher Miene den Leistungen seiner Kollegen. Die Konzerte waren mäßig, und Professor Glauser wusste das. Trotzdem konnte er sich noch nicht aufraffen, dem jungen Musiker eine weitere Chance zu geben.

Diese sollte sich Victor dann zwei Jahre später bieten und zwar von einem Tag auf den anderen.

*

Neben der Musik gab es nur ganz wenige Dinge, die Victor Steinmann wirklich interessierten und mit denen er sich auseinandersetzte.

Seine Aufmerksamkeit dem anderen Geschlecht gegenüber war in den vergangenen Jahren enorm gestiegen, nachdem Mademoiselle Szábo und seine Mutter lange seine einzigen weiblichen Bezugspersonen gewesen waren. Er hatte eine außerordentlich charmante Seite an sich entdeckt, die bei den Frauen sehr gut ankam und die er auf seine berechnende Art gezielt einzusetzen wusste. Zu mehr als küssen und ein wenig fummeln hatte es allerdings noch nicht gereicht, und es belastete ihn gewaltig, dass er mit seinen mittlerweile stattlichen zwanzig Jahren noch nicht mit einer Frau geschlafen hatte.

Er traf sich seit ein paar Monaten mit der Seminaristin Charlotte Arnold, die er am Konservatorium kennengelernt hatte, wo sie Flötenunterricht nahm. Sie liebte die Musik, ging aber ganz in ihrer Berufung zur Lehrerin auf und freute sich darauf, ihre Ausbildung zu beenden und Kindern die ersten Schritte in den Schulalltag zu erleichtern.

Victor war heillos verschossen in die junge Frau und nannte sie »mein Engelchen«, was bei ihrem blonden Lockenkopf nicht ganz aus der Luft gegriffen war. Leider trug sie ihre Haare immer entweder hochgesteckt oder zu einem Pferdeschwanz gebunden – Victor hätte sie gerne mit offenem Haar gesehen, das er durch seine Finger hätte gleiten lassen können.

Er versuchte, sie so häufig wie nur möglich zu treffen, holte sie in ihrem Elternhaus im Breitenrain ab und führte sie Arm in Arm über die Kornhausbrücke in die Altstadt. Wenn sie händchenhaltend durch die Lauben Berns spazierten, platzte er beinahe vor Stolz, eine so gut aussehende und intelligente Frau an seiner Seite zu wissen.

Charlotte mochte Victor ebenfalls und genoss die Zeit, die sie gemeinsam verbrachten. Vor dem Berner Münster, wo er ihr das Portal mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts erklärt hatte, küssten sie sich zum ersten Mal, und Victor war überzeugt davon, dass er die Frau gefunden hatte, die er liebte und an die er seine Jungfräulichkeit verlieren würde.

Die Seminaristin erwiderte zwar Victors leidenschaftliche Küsse und fühlte sich in seinen Armen geborgen, doch der Sex war für sie unwichtig und das erste Mal für ihre Verhältnisse noch weit entfernt. Fasziniert hing sie Victor an den Lippen, wenn er von Musik erzählte und war beeindruckt von seinem enormen Fachwissen, das er geschickt in ihre gemeinsamen Gespräche einfließen ließ.

Sie dagegen erzählte ihm von ihren pädagogischen und didaktischen Erkenntnissen, die sie im Seminar gewonnen hatte und welche Schlüsse sie daraus für ihren zukünftigen Unterricht zog. Pestalozzis ganzheitlicher Ansatz von Kopf, Herz und Hand war ihr ein großes Anliegen und Jean Piagets Entwicklungsmodell fand sie bedenkenswert. Mit Abscheu hatte sie hingegen Sigmund Freuds Sexualtheorien in seinem Abriss der Psychoanalyse gelesen und das Büchlein anschließend sofort angewidert in den Abfall geworfen.

Sie schwärmte ihm vor, wie sie sich vorstellen könne, mit ihm gemeinsam einmal Kinder zu haben – vier sollten es mindestens sein –, und wie sie dann ganz in ihrer Rolle als Mutter aufgehen und auf ihn warten würde, während er als großer Dirigent die Welt bereiste.

Victors Interesse für eine eigene Familie war ziemlich gering, zu sehr war er damit beschäftigt, seine musikalische Karriere in Gang zu bringen, aber er hütete sich davor, Charlotte diese Gedanken anzuvertrauen – einerseits hatte ihm die rosarote Brille, die er momentan trug, ein ungewohntes Harmoniebedürfnis beschert, und andererseits dachte er pausenlos daran, wie er sie so rasch wie möglich ins Bett kriegen könnte.

Neben der Zeit mit Charlotte wurde der Rest seines Lebens komplett von den schönen Künsten eingenommen. An erster Stelle stand natürlich die Musik, aber auch die Literatur sowie die bildende und darstellende Kunst weckten zwangsläufig stark sein Interesse, da sie seine Auseinandersetzung mit musikalischen Werken ständig tangierten und ihm dabei auch neue Zusammenhänge aufzeigen konnten.

Vor allem der Bereich Film hatte es Victor sehr stark angetan, da er dieses Medium als die absolute Verschmelzung sämtlicher Künste betrachtete. So saß er oft im Kino, häufig alleine und manchmal in Begleitung, so wie an diesem Abend, als er sich gemeinsam mit Mademoiselle Szábo Alfred Hitchcocks Psycho angesehen hatte, zu dem er Charlotte Arnold nicht hatte überreden können.

Nach dem Film standen sie noch vor dem Kino Bubenberg und ließen Norman Bates’ Geständnisse am Schluss des Werks auf sich wirken. Victor fröstelte, und das lag nicht an diesem doch eher milden Wintertag, sondern an den effektvollen Bildern, die der Master of Suspense, wie der englische Regisseur auch genannt wurde, kunstvoll aneinandergereiht hatte.

»Es ist wie eine perfekte Komposition«, erklärte er seiner ehemaligen Klavierlehrerin, die sich eine Zigarette anzündete, allerdings ohne sie zu inhalieren. Sie rauchte gelegentlich, vor allem wenn sie sich aufregte, und einen Glimmstängel in der Hand zu halten, verlieh ihr ein Gefühl von Ruhe und Ausgeglichenheit.

Verächtlich stieß sie den Rauch gegen Victor aus, der sich mit der Hand frische Luft zufächelte. »So ein Unsinn, mein Junge!«, zischte sie. »Sag mir doch bloß: Weshalb muss man solch schreckliche Filme machen, wenn es doch schon genug Elend auf dieser Welt gibt. Sollte man sich im Kino nicht unterhalten können?«

»Also, ich habe mich prächtig unterhalten«, lachte Victor, der von der Bildersprache Hitchcocks so gefesselt gewesen war, dass er prompt vergessen hatte, Bernard Herrmanns stakkatoartige Violinen bei der berühmten Duschszene mitzudirigieren.

»Ich weiß nicht«, meinte Mademoiselle Szábo kopfschüttelnd und drückte die Zigarette aus, die nicht einmal bis zur Hälfte heruntergebrannt war. »Muss man denn jeden Mist gut finden, bloß weil er aus Amerika kommt?«

Victor wollte soeben zu einem Loblied auf die Unterhaltungsindustrie Hollywoods grundsätzlich und auf Alfred Hitchcock im Besonderen anstimmen, als er hinter seinem Rücken eine wohlbekannte Stimme vernahm:

»Na, Mozart, wie hat dir der Streifen gefallen?«

Grinsend drehte er sich um. »Ich bin nicht Mozart.«

»Natürlich bist du das nicht, mein Junge«, ergänzte Mademoiselle Szábo ganz aufgeregt, und Victor wandte sich wieder seiner ehemaligen Klavierlehrerin zu, um sie über das übliche Begrüßungsritual und die damit verbundenen Sticheleien aufzuklären, die er mit Helene Weber auszutauschen pflegte.

Er hatte die Wilde Lena, wie sie hinter vorgehaltener Hand genannt wurde, bei seinem Professor kennengelernt. Sie studierte Germanistik im letzten Semester und schrieb an ihrer Abschlussarbeit, in der sie sich mit Berner Literatur auseinandersetzte und in der die Berner Rhapsodie, die Novelle, welche Paul Glauser vor ein paar Jahren verfasst hatte und die ziemlich unbeachtet geblieben war, einen besonderen Platz erhalten sollte.

So traf Victor die beiden in Glausers Arbeitszimmer in ein Gespräch vertieft. Der Professor stellte die beiden einander vor.

»Du bist also dieser widerspenstige Taktschläger, von dem man spricht«, begrüßte sie ihn mit einem breiten Grinsen, mit dem sie ihre perfekten, strahlend weißen Zähne präsentierte und sich auffordernd durch ihre rotes, glattes Haar strich. Victor war sprachlos und rang nach den richtigen Worten, um diese provokative Eröffnung zu parieren. Es fiel ihm nichts Passendes ein, Schlagfertigkeit hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu seinen Stärken gezählt. So meinte er einfach ganz beiläufig, indem er seine Brust demonstrativ nach vorne warf: »In voller Größe.«

Sie lachte und warf dabei ihren Kopf nach hinten. Dann musterte sie ihn herausfordernd. »Solche Leute gefallen mir! Wenn wir hier fertig sind, werden wir uns einen kräftigen Schluck genehmigen.«

Das war keine Frage, sondern eine Feststellung, verbunden mit der Aufforderung, sich aus dem Raum zu entfernen, was sie dadurch noch unterstrich, indem sie ihm den Rücken zudrehte und sich wieder ihrem Gesprächspartner zuwandte.

Verblüfft schloss Victor die Tür. Er hatte es noch nie erlebt, dass sich eine Frau so direkt ausdrückte. Ihre smaragdgrünen Augen, die listig unter den roten Strähnen hervorstrahlten, hatten ihn in ihren Bann gezogen, und so setzte er sich gespannt unter die Lauben vor dem Konservatorium, wartend bis Helene Weber ihr Gespräch beendet hatte und vertiefte sich in eine Taschenpartitur von Brahms’ Deutschem Requiem.

Sie ließ ihn fast eine Stunde lang warten, und er erwog während dieser Zeit ein paar Mal nach Hause zu gehen, anstatt auf eine Unbekannte zu warten, die ihn mit ein paar Worten abgespeist hatte. Doch die Neugier auf diese bemerkenswerte Frau ließ ihn ausharren.

Als sich schließlich die Tür öffnete und Helene Weber unter die Lauben trat, wollte sie sich bereits nach rechts Richtung Zeitglockenturm wenden und losmarschieren, als sie Victor auf den Stufen sitzend erblickte, der in seine Partitur vertieft zu sein schien und so tat, als sitze er zufällig dort und nehme sie gar nicht wahr.

»Mein Gott, das glaube ich nicht. Du hast tatsächlich auf mich gewartet!« Sie setzte sich zu ihm auf die Stufen, nahm ihm das Taschenbuch mit dem gelben Einband aus der Hand und musterte mit gerunzelter Stirn den Titel. Victor schielte auf ihre großen, vollen Brüste, deren Ansatz im Ausschnitt ihrer freizügig geschnittenen Bluse demonstrativ zur Schau gestellt waren, und stellte sich vor, wie er sie mit seinen Händen kraftvoll umfassen würde.

Einen Blick auf Charlotte Arnolds Busen hatte er noch nicht erhaschen können – meistens trug sie modisch und elegant geschnittene Etuikleider, wenn sie sich verabredeten –, aber in seinen Fantasien hatte er lustvoll ihre Brustwarzen geküsst und sanft ihre Erhebungen gestreichelt, die allerdings im Vergleich mit Helene Webers Vorbau von sehr geringem Ausmaß waren.

»Wo guckst du denn hin, Mozart?«, holte sie ihn mit einem lauernden Unterton lachend in die Gegenwart zurück und reichte ihm seine Partitur. »So ein düsteres Requiem ist halt schon was Todernstes. Dunkle Kirchen, ernste Gesichter und niedergeschlagene Stimmung. Da braucht man doch eine Prise Erotik zum Ausgleich, meinst du nicht auch?«

Victor errötete und wusste nicht, wo er hinschauen sollte.

»Du bist aber leicht in Verlegenheit zu bringen, Mozart«, stellte Helene fest und erhob sich wieder. »Ich mag interessante und redselige Gesellschaft, die mich unterhält. Vielleicht habe ich dich etwas überschätzt, als ich mir gedacht habe, du könntest mir das bieten.«

Victor fühlte sich in höchstem Masse provoziert, stand ebenfalls auf und stellte sich in voller Größe vor Helene. »Lass es uns doch ausprobieren.«

Sie schmunzelte. »Ich mag große Männer, aber Körperlänge alleine reicht nicht aus, um mich zu beeindrucken, Mozart, obwohl mir schon sehr gefällt, was ich sehe. Aber du musst wohl auch noch etwas geistige Größe nachreichen und dabei gehörig aufblühen, wenn du mir Eindruck machen und einen verbalen Schlagabtausch liefern willst. Gehen wir ins Pyri?«

Die Kundschaft im Café des Pyrénées am Kornhausplatz war gewöhnlich kunterbunt gemischt, von Arbeitern bis zu Studenten und Intellektuellen fand man alles in diesem Berner Lokal, das zwischen den dunklen Holzmöbeln einen ganz eigenen Charakter versprühte, der gut zur Bundesstadt passte: gemütlich und einfach.

Victor wäre es im Traum nicht in den Sinn gekommen, mit Charlotte Arnold, seinem Engelchen, eine solche Gaststätte zu betreten und wäre am liebsten wieder umgekehrt, als ihm der Tabakrauch, der sich schwer im Raum festgesetzt hatte, entgegenschlug.

Helene zog ihn mit sich zu einem freien Tisch, und Victor bemerkte die Blicke, die sie von den Männern auf sich zog und deren sie sich auch bewusst war. Sie wackelte auf ihren schwindelerregend hohen Absätzen aufreizend mit ihrem Hinterteil, das in einer engen Hose steckte und schon aus diesem Grund für Aufsehen sorgte – im behäbigen und langsamen Bern zogen sich die Frauen zu dieser Zeit noch ein Kleid oder einen Rock an.

Sie bestellte für beide ein Bier, ein Getränk, das Victor zutiefst verabscheute. Doch er traute sich nicht, ihr zu widersprechen und sammelte sich, um die verbalen Dolchstöße von seiner Begleitung mehr als nur parieren zu können.

Sie erzählte von ihrer Arbeit mit Glausers Novelle, nahm das Büchlein hervor, zitierte ihre Lieblingsstellen und erzählte, welchen Bezug sie dazu hatte.

»Er ist so süß, der Professor«, schwärmte sie, »und so hilfsbereit. Aber sein schrecklicher Bart – da müsste einmal entschlossen zum Rasiermesser gegriffen werden. Ich glaube sogar, er mag mich ein bisschen.« Sie blickte verträumt zur Decke, und als sie wieder Augenkontakt mit Victor aufnahm, ertappte sie ihn, wie er erneut in ihren Ausschnitt starrte. Mit einem frechen Grinsen beugte sie sich über den Tisch.

»Na, Mozart, ist die Aussicht so nicht viel besser? Möchtest du sie gerne mal anfassen?«

Victor errötete wieder und griff nach seinem Bier, das er noch nicht zur Hälfte ausgetrunken hatte, während Helenes Glas bereits leer war. Sie musterte ihn kritisch.

»Wenn du die Frauen so magst wie das Bier, dann gute Nacht, Herr Hofkapellmeister.« Sie drehte sich gegen die Theke, rief die Bedienung bei ihrem Namen, was darauf hindeutete, dass sie öfters im Pyri verkehren musste, und bestellte ein weiteres Getränk.

Inzwischen hatte sich Victor wieder etwas gefasst, erzählte ihr stolz von Charlotte und pries deren Anmut und ihre Intelligenz. Er schwärmte von ihrer sozialen Ader und erzählte von ihren gemeinsamen Lieblingsplätzen. Helene zündete sich eine Zigarette an und hörte ihrem Gegenüber mit gelangweilter Miene zu. Als Victor seine Lobpreisung beendet hatte, nahm sie einen großen Schluck vom neuen Bier und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Wie beiläufig warf sie ein: »Und wie ist sie so im Bett?«

Victor schnappte nach Luft und hielt sich mit beiden Händen an seinem Bierglas fest. Die Frau warf ihn total aus der Bahn, und mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination stellte er sich vor, wie die Wilde Lena unter den Tisch kriechen und seine Hose öffnen würde. Als könnte Helene seine Gedanken lesen, fuhr sie sich mit der Zunge lasziv über die Lippen. Dann lachte sie laut.

»Mein Gott, Mozart! Sag bloß, du bist noch Jungfrau! Ich glaube es nicht. Die keusche Lotte, die ihrem Werther den Kopf verdreht! Du solltest dich viel mehr entspannen, du brauchst Abwechslung von deinen hochstehenden Studien – Liebe und Leidenschaft: Darum geht es doch in der Musik! Also lass sie auch zu! Du musst doch wissen, von was du sprichst, wenn du Feuer und Lust aus deinem Orchester herauszaubern willst.« Sie griff nach seiner Hand. »Ich könnte dir das schon zeigen, wenn du das möchtest.«

Sofort zog er seine Hand zurück und versteckte sie unter dem Tisch. »Ich glaube nicht, dass ich das möchte. Und schon gar nicht mit dir.« In Wahrheit spürte er ein so starkes Lodern in seinem Unterleib, dass er am liebsten aufgestanden wäre, sie von hinten an sich gezogen und seinen erigierten Penis an ihren Pobacken gerieben hätte, währenddem seine Hände damit beschäftigt gewesen wären, ihre vollen Brüste zu kneten.

Helene zog einen Schmollmund und spielte mit ihren roten Haaren. »Da wäre ich mir nicht so sicher. Aber ich kriege dich schon noch, Mozart. Wenn dein Lottchen dich zum x-ten Mal abblitzen lässt, wirst du plötzlich bei mir auf der Matte stehen.«

Als sie seinen offenen Mund sah und seine Sprachlosigkeit feststellte, lachte sie erneut und klopfte sich auf den Oberschenkel. »Mein Gott, Mozart. Sei doch mal ein bisschen locker. Das war ein Sche – herz! Lustig und so, verstehst du? Oder kennt man das in der Welt der ernsten Musik etwa nicht?« Sie merkte, dass sie ihn stark in Verlegenheit gebracht und überfordert hatte. Es war ihm anzusehen, dass er sich nicht mehr wohl in ihrer Gesellschaft fühlte und so versuchte sie wieder, auf weniger verfänglichere Themen umzuschwenken, denn der Mann, der ihr gegenüber saß, übte eine enorme Faszination auf sie aus, und es wurde ihr klar, dass sie sich ein wenig zurücknehmen musste, wenn sie seine Aufmerksamkeit nicht verlieren wollte.

So wechselte sie das Thema ihres Gesprächs geschickt in Richtung Musik und schwärmte von Jazz und Blues und John Lee Hooker, den sie vergötterte. Victor erzählte von einer Aufführung von Mozarts Jupitersymphonie, die er letzte Woche im Casino gehört hatte und schimpfte über die üppige Interpretation, die er auf Kosten der klassischen Schlankheit vernommen und sich darüber sehr geärgert hatte. Dann stritten sie über die Neue Wiener Schule und über die daraus hervorgegangene Zwölftonmusik, die Helene faszinierend fand und Victor als mathematische Spielereien abtat.

Damit befand sich der junge Steinmann wieder auf sicherem Terrain und übernahm die Führung des Gesprächs. Er fragte sie nach ihren literarischen Vorlieben und erzählte, wie er Dostojewskis Schuld und Sühne in einem Zug durchgelesen hatte und Raskolnikow, die Hauptfigur des Romans, am liebsten immer wieder geohrfeigt hätte.

Sie hingegen verehrte Max Frisch und erklärte Victor, weshalb der Stiller dem Homo faber, zwei Romane des Zürcher Schriftstellers, vorzuziehen wäre. Dieser rümpfte die Nase und monierte, Frischs Sprache sei ihm zu nüchtern und rational. Er lobte die großen, wortgewaltigen Epen von Tolstoi oder Thomas Mann, deren Qualitäten Helene überhaupt nicht in Frage stellen wollte.

»Aber alleine schon die Eröffnung!«, kam sie auf Frischs Werk zurück und zitierte mit schwärmerischem Tonfall den ersten Satz des Romans. »Ich bin nicht Stiller! So einfach, und trotzdem ist die ganze Problematik dieses Buches in einem einzigen Satz dargelegt, Mozart. Das ist hohe Kunst!«

Victor grinste und antwortete, indem er ihre Stimme imitierte: »Ich bin nicht Mozart!«

Jetzt lachten sie beide, und Helene konnte sich fast nicht mehr davon erholen. Mit Tränen in den Augen klopfte sie sich auf den Oberschenkel und prustete: »Ich habe gar nicht gewusst, dass du so viel hochstehenden Humor hast, Herr Hofkapellmeister.«

Victor war erfreut, dass er nach einem harzigen Start wieder Oberwasser gewonnen hatte und fühlte sich rundum wohl in Gesellschaft der Wilden Lena. In seinen erotischen Fantasien, die sich deutlich mehrten, seit er Helenes Bekanntschaft gemacht hatte, war die Frau, mit der er schlief, nur noch selten Charlotte. Er träumte von rotem Haar, das sich über ein lustverzerrtes Gesicht ausbreitete, von langen Beinen, die sich in hochhackigen Schuhen auf seine Schultern legten, und von lautem Stöhnen, wie es nur von der Wilden Lena kommen konnte.

*

Von diesen Gedanken erzählte Victor Mademoiselle Szábo natürlich nichts, als er ihr vor dem Kino Bubenberg erklärte, wie es zur außergewöhnlichen Begrüßungszeremonie zwischen Helene Weber und ihm gekommen war, zumal seine ehemalige Klavierlehrerin Charlotte Arnold bereits kennen und schätzen gelernt hatte.

»So ein prächtiges Mädchen«, pflegte sie zu sagen, wenn die Rede auf Victors Freundin kam. »Du kannst dich glücklich schätzen, mein Junge, ein solch hübsches Mädchen zu haben, die auch noch etwas im Kopf hat und sich nicht bloß von diesen lächerlichen Modeströmungen treiben lässt und für nichts anderes Interesse zeigt.«

Nun reichte Mademoiselle Szábo der Wilden Lena die Hand und begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln, und Victor wusste bereits, dass sie ihn unter vier Augen gnadenlos ausquetschen würde, um jedes Detail über diese Bekanntschaft zu erfahren.

»Victor hat mir viel von Ihnen erzählt, Mademoiselle. Er hat eine Menge von Ihnen gelernt und schätzt sie ungemein.«

Victor glaubte, zum ersten Mal gehört zu haben, dass die Wilde Lena ihn bei seinem richtigen Namen nannte und wollte sie gerade fragen, ob sie alleine im Kino gewesen sei, als sich die Tür öffnete und Paul Glauser auf die Straße trat. Der Schrecken über Victors unerwartete Anwesenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben, doch er erfasste die Situation blitzschnell und hatte sich sofort wieder unter Kontrolle.

»Victor, was für eine Freude!«, rief er und schüttelte seinem Schützling die Hand. »Ist Ihnen auch das Blut in den Adern gefroren bei diesen scheußlichen Bildern? Und da haben wir ja auch die hochgeschätzte Mademoiselle Szábo. Es ist mir eine große Freude, Sie wieder einmal zu sehen.«

»Herr Professor!« Die Angesprochene strahlte und ließ sich von Glauser die Hand küssen. »Endlich jemand, der meine Meinung bezüglich dieses schrecklichen Films bestimmt zu teilen vermag. War es nicht furchtbar grässlich, was wir da gesehen haben?«

»Im Gegenteil, meine Liebe, ich mag scheußliche Filme. Helene hat mich nach einer Besprechung zu ihrer Arbeit überredet, mit ihr ins Kino zu gehen, und ich habe es nicht bereut.« – Victor warf der Wilden Lena einen fragenden Blick zu, worauf sie vielsagend eine Augenbraue hochzog. – »Ich bin vollauf begeistert von dem, was uns Hitchcock wieder einmal vorgesetzt hat. Wir wollten im Kornhauskeller noch einen Schlummertrunk zu uns nehmen. Warum begleiten Sie uns nicht?«

Der Vorschlag stieß sofort auf Zustimmung, und während Professor Glauser mit Mademoiselle Szábo vorauslief und sich mit ihr in musikalische Themen vertiefte, ließen sich die beiden jungen Leute etwas zurückfallen, und die Wilde Lena hakte sich bei Victor unter.

»Lass das«, zischte er und zog seinen Arm zurück.

»Hat dich der Film aggressiv gemacht, Mozart?«, säuselte sie. »Da war der Professor im Kino aber weniger zurückhaltend, als ich ihm meine Hand auf sein Knie gelegt habe.«

»Hast du was mit ihm?«

Sie warf ihr rotes Haar zurück, das sie offen trug, so wie es Victor liebte, ließ ihr gurrendes Lachen ertönen und griff erneut nach seinem Arm. Sie sah umwerfend aus, sogar unter ihrem dicken Wintermantel stach ihr mächtiger Busen so stark hervor, dass Victor fast nicht den Blick von ihm nehmen konnte. Der dunkle Bleistiftrock betonte ihre schmalen Hüften, und sie bewegte sich wie immer stilsicher auf ihren hohen Absätzen. Mit einem Kribbeln im Bauch stellte er sich vor, wie sie sich, nur noch mit ihren Schuhen bekleidet, in Glausers Arbeitszimmer auf seinem Tisch abstützte und lustvoll aufstöhnte, als der Professor von hinten in sie eindrang.

Sie musterte ihn und schenkte ihm ein anzügliches Lächeln.

»Bist du etwa eifersüchtig, Mozart?«

»Ich bin nicht Mozart!« Die Reaktion kam heftiger, als Victor es beabsichtigt hatte und zeigte deutlich, wie eingeschnappt er war. Es legte sich eine bedrückende Stille über die beiden, während sie am Bahnhof vorbeikamen und in die Neuengasse einbogen.

»Reden wir doch lieber von dir und deinem Lottchen.« Helene ließ sich nicht beirren und brach das Schweigen, indem sie ihm weiterhin das Messer in der Wunde umdrehte. »Hast du bei ihr Fortschritte erzielen können oder gebt ihr immer noch brav Händchen, schenkt euch keusche Küsse und haltet die wilde Leidenschaft tief unter Verschluss?«

»Ich wüsste nicht, was dich das anginge!« Erneut brauste Victor auf und war selber erstaunt darüber, wie einfach es der Wilden Lena gelang, ihn aus der Reserve zu locken.

»Entspann dich, Herr Hofkapellmeister.« Helene tätschelte seine Hand. »Ich bewundere ja ganz ehrlich dein Treuegelübde, das du deiner Angebeteten scheinbar gegeben hast. Aber seien wir doch ehrlich.« Sie waren unterdessen auf dem Waisenhausplatz angekommen, und Helene blieb abrupt stehen und sah Victor an. Ihre smaragdgrünen Augen blitzten auf, und ihre Sommersprossen, die sich über den Nasenrücken verteilten, schienen bedrohlich aufzulodern. Sie waren sich so nahe, dass er ihren Atem riechen konnte, und ein leichter Hauch von Tabak schlug ihm entgegen.

Ihre unmittelbare Nähe verschaffte ihm augenblicklich eine Erektion, und er musste sich zurückhalten, damit er nicht seinen Trieben nachgab und seine Lippen auf ihre presste. Derweilen fuhr sie fort: »Ich fühle, was tief in dir drin schlummert: Deine enorme künstlerische Begabung, die dich noch weit bringen wird, das spüre ich. Aber da ist auch deine gewaltige, hemmungslose Lust, die du ausleben musst. Sonst wird sie dir immer im Wege stehen, dich einvernehmen und ablenken und vor allem dich daran hindern, dein volles Potential auszuschöpfen. Denke an meine Worte. Du bist noch auf der Suche nach dir selbst, aber ich bin mir sicher, dass du der Typ Mann bist, der sich nehmen muss, was er will, ohne Rücksicht auf Verluste. Ich denke, das hast du schon mehr als einmal bewiesen, aber mittlerweile bist du von deinem Weg abgekommen. Finde wieder die richtige Abzweigung, bevor es zu spät ist.«

Nach Luft schnappend trat sie wieder einen Schritt von ihm weg und wühlte in ihrer Handtasche nach einer Packung Zigaretten. Sie zündete sich einen Glimmstängel an, und Victor schaute ihr bei dieser Tätigkeit fasziniert zu, als ob er einen lustvollen Akt beobachten würde, und ließ seinen Blick auf ihren Lippen ruhen, zwischen denen die Zigarette klemmte.

»Etwas viele philosophische Überlegungen, nur um mich ins Bett zu kriegen, findest du nicht auch?«, meinte er, nachdem sie das Feuerzeug wieder in ihrer Handtasche hatte verschwinden lassen.

»Will ich das?«, entgegnete sie herausfordernd und inhalierte ein paar tiefe Züge. Schweigend setzten sie ihren Weg Richtung Kornhaus fort.

Als sie mit Paul Glauser und Mademoiselle Szábo gemeinsam am Tisch saßen und sich ein gutes Glas Wein gönnten, hatte Victor Mühe, dem Gespräch zu folgen und daran teilzunehmen. Seine Gedanken klammerten sich an den Worten fest, die Helene ihm auf dem Weg hierhin an den Kopf geworfen hatte, und er überlegte sich, ob er ihr dafür dankbar sein oder sie verwünschen sollte. Unterbrochen wurden seine Überlegungen bloß von Zeit zu Zeit von der Wilden Lena, die unter dem Tisch aus dem Schuh geschlüpft war und mit ihrem Fuß aufreizend über seine Wade strich.

*

Es war mittlerweile zwei Jahre her seit dem Fiasko mit Emma Forster und dem Konservatoriums-Orchester, und Victor sollte endlich erneut eine Chance erhalten, seine Fähigkeiten als Dirigent unter Beweis zu stellen.

Luc Balmer war erkrankt, es konnte so kurzfristig kein Ersatz gefunden werden, und es befand die Gefahr, dass die beiden anstehenden Konzerte des Berner Stadtorchesters abgesagt werden müssten. Werner Felber, der Direktor der Bernischen Musikgesellschaft nahm Kontakt zu Professor Glauser auf und informierte ihn, dass Balmer Victor Steinmann vorgeschlagen habe, wenn bis zur Generalprobe kein Ersatz gefunden werden könnte.

»Wie meinst du das eigentlich?«, entsetzte sich Glauser. »Ich kann doch nicht einen meiner Studenten vor ein Profiorchester stellen. Das geht doch hundertprozentig schief.«

»Sieh es doch von der anderen Seite.« meinte Felber. »Das ist eine unglaubliche Chance für einen jungen, aufstrebenden Kapellmeister, wie dieser Steinmann das sein soll. Eine bessere Möglichkeit gibt es für ihn doch nicht, um sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Das Orchester beherrscht seinen Part, der Konzertmeister hat geprobt, es braucht ein paar Absprachen punkto Tempo und Intonation, und dann kann der junge Geck loslegen.«

Paul Glauser war hin- und hergerissen. Hatte der junge Musiker seine Lektion aus dem letzten Konzert gelernt? Mit den Profimusikern konnte er nicht so umspringen, wie er es mit dem Ad-hoc-Orchester getan hatte; die Katastrophe wäre vorprogrammiert.

Aber auf der anderen Seite musste dieser Schritt einmal gemacht werden. Der junge Victor hatte sich die Hörner bereits abgestoßen, jetzt musste er beweisen, dass er seine Lehren daraus gezogen hatte.

»Gut, aber ihr sucht noch weiter«, meinte Glauser zögernd. Im Geheimen hoffte er aber, dass man keinen Ersatz fand, sodass Victor seine Chance kriegen würde. Er informierte seinen Studenten über die Anfrage des Stadtorchesters, und dieser war natürlich hellauf begeistert

Auf dem Programm standen ursprünglich ein modernes Werk von Bernd Alois Zimmermann und die Siebte Symphonie von Anton Bruckner. Zimmermann ließ man fallen, sodass sich das Orchester mit dem Ersatzdirigenten voll auf Bruckner konzentrieren konnte.

Victor kannte das Werk selbstverständlich in- und auswendig, und verbrachte den Rest des Tages damit, alleine in seinem Studienzimmer im elterlichen Haus in Köniz eingeschlossen, die Partitur noch einmal durchzugehen.

Die erste Person, der er von seinem möglichen Auftritt erzählte, war Charlotte Arnold. Kurz nachdem er von Paul Glauser über die aktuelle Situation in Kenntnis gesetzt worden war, telefonierte er mit seiner Freundin.

»Ach, Victor«, meinte sie, »das wäre doch himmlisch. Wie lange hast du auf diese Chance warten müssen. Ich glaube, das Schicksal meint es gut mit uns Zwei.«

»Erinnerst du dich«, rief ihr der junge Steinmann in Erinnerung, »wie ich dir letztes Wochenende noch gesagt habe, dass ich so ein Gefühl hätte, wie wenn sehr bald etwas Wichtiges geschehen würde. Could be – who knows...«, trällerte er Tonys Song Something’s coming aus der West Side Story.

Er hatte mit großer Begeisterung seine Mutter über den möglichen Auftritt informiert, die ihrerseits sofort in Brunos Praxis telefonierte, um ihren Mann zu bitten, sich umgehend um Eintrittskarten zu kümmern.

»Wie kannst du mich bloß bei meiner Arbeit stören!«, tadelte Bruno seine Frau. »Ich habe es gerade mit einem sehr komplizierten Armbruch zu tun!«

Als er dann aber vom möglichen Auftritt seines Sohnes im Casino vernahm, wurde er milder gestimmt; Gertrud konnte fast ein wenig Begeisterung und Euphorie durch den Telefonhörer wahrnehmen. Er versprach, die Karten zu besorgen – sofern Victor wirklich zu seinem großen Auftritt kommen sollte.

Zwei Stunden vor der Generalprobe vermeldete Werner Felber, dass man keinen Ersatz gefunden hatte und dass man Victor für die Generalprobe im Casino erwarten würde.

»Seien Sie unbesorgt«, versicherte der Konzertmeister dem jungen Steinmann. »Bruckner ist kein Problem. Folgen Sie uns nur und vertrauen Sie uns.«

Victor nahm sich darauf erst recht vor, dem Werk seine ganz persönliche Note aufzudrücken.

»Werter Maestro«, sagte er zum Konzertmeister, »es ist mir ein großes Vergnügen, mit Ihnen und dem Orchester zusammenzuarbeiten. Ich bin überzeugt, dass wir einen wunderbaren Bruckner machen werden, und verspreche, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, um den ehrenwerten Luc Balmer so gut wie möglich zu vertreten.«

Der Konzertmeister war zufrieden, die Generalprobe verlief störungsfrei und harmonisch, und man war zuversichtlich, dass der Konzertabend problemlos über die Bühne gehen würde.

Beim Konzert stand der junge Maestro vorne auf dem Podest und schaffte es, den Musikern seine Deutung der Siebten Bruckner aufzudrängen, so, als hätte man sich durch hunderte von Proben gemeinsam durchgeschlagen. Jeder Einsatz wurde gegeben, jede Stimme war transparent, jedes Instrument bekam genug Raum, um sich zu entfalten. Das langsame Tempo gab jedem Musiker das wohlige Gefühl, sich nicht unter Druck zu fühlen und sich selbst in das Gesamte einbringen zu können.

Die zu Beginn verstörten Blicke, die der Konzertmeister von seinen Orchesterkollegen erhielt, da Victor ein deutlich breiteres Tempo anschlug als in der Generalprobe, waren komplett verschwunden, und man konnte den Mienen der Musiker deutlich erkennen, dass sie sich wohl fühlten, dass sie von Herzen spielten, dass sie für den jungen Menschen spielten, der da vorne auf dem Podest aus tiefster Seele die Musik strömen ließ.

Nach dem ersten Satz ging ein Raunen durchs Publikum, Victor blickte zum Konzertmeister, der lächelte und ihm aufmunternd zunickte. Da wusste er, dass dies der magische Moment sein musste, er wusste, dass er es geschafft hatte und dass er im Begriff war, gemeinsam mit dem Orchester und dem Publikum eine musikalische Sternstunde zu erleben.

Der langsame zweite Satz, das Adagio, wurde zu einer eindrücklichen Demonstration für hohe Orchesterkultur. Die Musik floss dahin, Victor hielt mit einer eindrücklichen Gelassenheit alle Fäden in seiner Hand. Seine Bewegungen waren ruhig und eindringlich zugleich, die Gesten sparsam, der Ausdruck ernst und feierlich. Er fixierte seine Musikerschar mit eindringlichem Blick. Wohl so manchem Zuhörer musste es eiskalt über den Rücken gelaufen sein, als die Wagnertuben den Trauergesang für das Dahinscheiden des Meisters aus Bayreuth zelebrierten – Mademoiselle Szábo natürlich ausgenommen.

Nach dem letzten Akkord des Finales blieb Victor unbeweglich stehen, die Augen geschlossen, der Stock blieb erhoben in der Luft. Kein Musiker wagte es, sein Instrument sinken zu lassen, alle blieben unbeweglich auf ihren Sitzen, angespannt, wie wenn sie auf den nächsten Einsatz warten würden. Keiner der Zuhörer wagte auch nur zu atmen, die Anspannung war spürbar, der Orkan in Form eines gewaltigen Applauses lag in der Luft, aber der Maestro verstand es, ihn kunstvoll hinauszuzögern, die Stille nach der Symphonie zu genießen, als wenn in der Partitur am Ende noch mehrere Takte Pause angegeben wären. Dann endlich öffnete er seine Augen, blickte seine Musiker an, nickte ihnen mit ernster Miene zu und ließ die Arme fallen.

Was dann folgte, lässt sich in Worten nicht beschreiben. Der Applaus setzte zunächst zögernd ein, fast fragend, wuchs dann aber zu einem Hurrikan an, wie man ihn im Casino selten gehört hatte.

Victor blieb scheinbar unberührt von diesen Ovationen. Er stand immer noch unbeweglich da, ließ seine Blicke über die Musiker gleiten, hatte mit jedem kurz Blickkontakt und nickte anerkennend. Er schüttelte mit beiden Händen die Hand des Konzertmeisters und drehte sich dann gegen das Publikum. Der Applaus schwoll noch einmal zu doppelter Lautstärke an, die Bravorufe prasselten von der Galerie auf den jungen Maestro nieder, der nicht zurück aufs Podest stieg, sondern die Ovationen inmitten seiner Musiker entgegen nahm, dem Publikum kurz zunickte und sich dann von der Orchesterbühne entfernte.

Das Publikum stampfte und tobte, als er zurückkehrte, die Musiker hatten ihre Instrumente niedergelegt und zollten ebenfalls generös Anerkennung, der Konzertmeister weigerte sich aufzustehen und gab so den Beifall an Victor weiter.

Der Applaus wollte nicht enden, auch als die Orchestermusiker sich bereits zurückgezogen hatten. Das Publikum wollte den jungen Maestro noch einmal sehen, und als er sich tatsächlich noch einmal auf die Bühne wagte, hatten sich sämtliche Konzertbesucher von ihren Sitzen erhoben und zollten ihm stehende Ovationen.

Es war Victor anzumerken, dass er sich mit einer solchen Situation bereits auseinandergesetzt hatte; er wirkte gefasst, seine Bewegungen waren kontrolliert, die Verbeugungen nur leicht angedeutet, indem er den Kopf senkte und seine Rechte auf einem Notenpult ruhen ließ. Keine Spur von Verlegenheit war ihm anzumerken, und diese Ruhe und Überlegenheit sollten später zu seinem Markenzeichen werden.

Später einmal sollte es ein Zuhörer wagen, kurz nach dem Schlussakkord mit Klatschen zu beginnen, ohne dass Victor die Stille beendet, sprich, die Arme gesenkt hatte. Darauf drehte sich der Maestro mit hochrotem Kopf zu diesem Claqueur um, nahm den Stock in die linke Hand, streckte bei der rechten zwei Finger nach vorne, eine Pistole andeutend, und schoss den unglückseligen Klatscher ab.

Die Anekdote hatte sich herumgesprochen, wurde zum Inbegriff des Patriarchen Steinmann, und jeder Zuhörer wusste, dass erst geklatscht werden durfte, wenn der Chef die Stille beendet hatte und den Applaus quasi freigab.

Zu den ersten Gratulanten gehörten selbstverständlich die Orchestermusiker. Victor nahm die Anerkennungen schweigend an, nickte von Zeit zu Zeit höflich, schwieg aber sonst, wirkte wie abwesend, immer noch mitten drin im Brucknerschen Werk. Gertrud Steinmann umarmte ihren Sohn und streichelte liebevoll seine Wange. Immer wieder wiederholte sie: »Es war so schön, Victor. Es hat mir so gefallen. Oh, ich bin so stolz auf dich.«

Auch Bruno gratulierte seinem Sohn, klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und meinte, ohne selber eine große Ahnung von Bruckner zu haben, dass er sehr beeindruckt gewesen sei, wobei die eine oder andere Stelle gewiss noch etwas mehr ausgearbeitet werden könne. Victor vermied es, seinen Vater zu fragen, um welche Passagen es ihm denn gehe. Er genoss einfach den Moment, die zahlreichen Komplimente gingen ihm runter wie Öl, auch wenn er sich das äußerlich nicht anmerken ließ.

Zuckerfrank schüttelte ihm die Hand – die Knoblauchausdünstungen waren einmal mehr gewaltig – und murmelte etwas von pompöser Spätromantik. Mademoiselle Szábo küsste ihn auf beide Wangen und nannte ihn mit einem Augenzwinkern Professor Steinmann. Charlotte Arnold warf sich in seine Arme und drückte ihn fest an sich. Sie küsste ihn lange und innig und bezeichnete ihn als ihren Helden.

Nur von Paul Glauser war weit und breit nichts zu sehen. Komplimente gingen ihm hinunter die zahlreichen Komplimente gingen ihm hinunter wie ied es, seinen Vater blosszustellenei die ei Der Professor, der im Saal wie versteinert der Symphonie gelauscht hatte, wagte es nicht, sich hinter das Podium zu begeben, konnte immer noch nicht glauben, was er soeben vernommen hatte und fand sich nach einer Weile alleine im Saal sitzend, von sämtlichen Mithörern verlassen und von einem Platzanweiser angesprochen, ob ihm nicht gut sei. Er schüttelte bloß den Kopf, erhob sich von seinem Sitz, taumelnd, immer noch in der Welt der Musik und begab sich auf den Heimweg.

Zu Hause stellte er mit einem bitteren Lächeln fest, dass seine Frau und die Zwillinge bereits im Tiefschlaf lagen und er die Wohnung für sich alleine hatte. So leerte er ein paar Gläser Whisky und torkelte dabei durch die Räume. Er war stockbetrunken, hatte eine Partitur der Siebten Bruckner aufgeschlagen, kehrte immer wieder zu ihr zurück und vertiefte sich in einzelne Passagen, die er vor wenigen Stunden im Casino gehört hatte.

»Das kann nicht sein«, murmelte er dauernd vor sich hin, kratzte sich an seinem Bart, schenkte sich Whisky nach und verfolgte, den Atem anhaltend, die einzelnen Stimmen. »Ja, natürlich, es ist so!«, sagte er immer wieder. »Aber wie zum Teufel hat er das nur fertiggebracht?«

Als er sich schließlich auf der Toilette übergeben musste und im Nachhinein froh war, dass seine Frau Nelly nichts davon mitbekommen hatte, dröhnten die Hörner und Trompeten immer noch in seinem Schädel, und mit einem glückseligen Lächeln ließ er sich ins Bett fallen, wissend, dass er sich das Konzert am nächsten Tag noch einmal anhören würde.

Da das Programm zweimal gespielt wurde, durfte Victor vierundzwanzig Stunden später erneut das Podest im Casino erklimmen und im diesmal ausverkauften Saal noch einmal Bruckner zelebrieren.

Es hatte sich innerhalb kürzester Zeit herum gesprochen, was für eine gewaltige Deutung der Siebten Symphonie am Vortag im Casino gegeben worden war, und alle wollten Victor dirigieren sehen. Die Plätze waren innert kürzester Zeit ausverkauft, man ließ die Zuhörer sogar in den Mittelgängen, auf den Treppen und an den Wänden stehen oder am Boden sitzen. Alle wollten dieses musikalische Wunder sehen und hören.

Paul Glauser hatte sich einen Platz auf der Orchestergalerie gesichert, so dass er seinem Schüler die ganze Zeit über ins Gesicht blicken konnte.

Die Partitur, die Victor am Vorabend noch vor sich auf dem Dirigentenpult liegen hatte, war verschwunden, er dirigierte das ganze Werk auswendig, blickte seine Musiker an, nickte ihnen zu, forderte mit erhobenen Augenbrauen noch mehr, lächelte glücklich einem Musiker zu, dem eine Solopassage besonders gut gelungen war, und strahlte eine Überlegenheit und Souveränität aus, die Glauser noch nie bei einem so jungen Dirigenten hatte feststellen können.

Das Konzert wurde selbstverständlich ebenfalls ein gewaltiger Erfolg, das Auditorium tobte, und der Professor saß auf seinem Sitz, sah seinem Schüler zu, wie dieser die Ovationen mit der Sicherheit eines ausgebufften Profis entgegen nahm, war selber unfähig zu applaudieren, noch so in das Werk versunken und war wieder der Letzte, der sich erhob, um den Saal zu verlassen.

Diesmal begab er sich aber in die Orchesterräume und steuerte direkt auf Victor zu. Er blieb vor ihm stehen, blickte ihm in die Augen und war nicht fähig, etwas verlauten zu lassen. Victor schaute ihn an, fragend und herausfordernd zugleich und ließ ein feines Lächeln auf seinem Gesicht erkennen, das durchaus einen Hang zum Spott hatte, als er meinte:

»Nun, hat es Ihnen gefallen?«

»Ich finde keine Worte ...«, stammelte Glauser.

»Nun denn – so soll es auch sein. Wissen wir doch beide, dass Musik nicht in Worte zu fassen ist, sondern uns zutiefst demütig und dankbar werden lässt. Ist es nicht so?«

»Ich kann nicht beschreiben, was ich an diesen beiden Abenden gehört und erlebt habe, das wissen Sie so gut wie ich. Aber ich möchte Ihnen dafür, was Sie geleistet haben, aus tiefstem Herzen danken. Sie haben mich sehr glücklich gemacht.«

Victors Reaktion kam selbst für den Professor sehr überraschend, und Glauser musste sich im Nachhinein eingestehen, dass er völlig überrumpelt gewesen war und nicht gewusst hatte, wie er mit der Situation umgehen sollte.

Aus dem Nichts heraus umarmte Victor Steinmann seinen Mentor, drückte ihn fest an seine Brust und wimmerte ihm unter Tränen ins Ohr:

»Wenn Sie bloß wüssten, wie sehr ich mir gewünscht habe, diese Worte einmal von Ihnen zu hören. Allein dafür hat sich die ganze Mühe gelohnt.«

*

Durch den Erfolg seiner beiden Auftritte beflügelt, hatte Victor neuen Mut gefasst, was seine Annäherungen an Charlotte Arnold betraf. Sie hatten sich am nächsten Tag verabredet und aßen gemeinsam im Volkshaus zu Abend.

Charlotte hatte sich auch das zweite Konzert im Casino angehört und dazu ihre ganze Familie, Freunde und Verwandtschaft mitgebracht, die sich nach der Aufführung allesamt hinter der Bühne einfanden, um Victor ihre Anerkennung auszusprechen. Er war gemeinsam mit seiner Freundin im Mittelpunkt einer großen Menschentraube gestanden, hatte seine Eltern, die ebenfalls noch einmal im Casino erschienen waren, mit Charlottes Familie bekannt gemacht, und fühlte sich ihren Leuten bereits irgendwie zugehörig.

Professor Glauser hatte sich kurz nach seinem Glückwunsch und Victors damit verbundenem Gefühlausbruch verabschiedet, und so gehörte der Rest des Abends ganz ihnen beiden und ihren Familien. Man begab sich ins Restaurant Harmonie, wo man viel trank und wo belegte Brötchen gereicht wurden. Es war eine laute und fröhliche Gesellschaft, und es wurde viel gescherzt und gelacht. Charlottes Vater, der ein eigenes Schreinergeschäft besaß, war ein bodenständiger Mann, dessen Backen ständig leicht gerötet waren – jetzt, wo er schon ziemlich Alkohol getrunken hatte, leuchteten sie richtiggehend –, und er ließ es sich nicht nehmen, einen Trinkspruch auf den jungen Dirigenten auszusprechen.

»Ich bin ein einfacher Mann und verstehe nicht viel von Musik«, ließ er die Zuhörer wissen. »Aber was ich heute gehört habe, hat mich zutiefst berührt. Und neben mir hat meine Tochter gesessen und ist vor Stolz beinahe geplatzt. Der Abend hat mir eine unsagbare Freude bereitet, wie ich sie noch selten erlebt habe. Ein Hoch auf den jungen Maestro!« Und alle hoben ihre Gläser und prosteten Victor zu.

Werner Felber, der Direktor der Musikgesellschaft, der mit Freunden an einem Nebentisch saß, kam ebenfalls kurz zu den Feiernden hinüber, beglückwünschte Victor zu seinen Auftritten und die Eltern zu ihrem talentierten Sohn und prophezeite eine große Dirigentenkarriere.

Charlottes Großmutter hatte einen Narren an Victor gefressen und bat ihn mit einem zahnlosen Lächeln, sie doch innerhalb nützlicher Frist noch zur Urgroßmutter zu machen.

Der junge Steinmann saß inmitten dieser fröhlichen Runde und wusste nicht, was er von dem ganzen Trubel halten sollte. Einerseits freuten ihn die vielen Gratulationen, und er fühlte sich unerwartet wohl im Schoss der Familie, andererseits wurmte es ihn sehr, dass er von der Wilden Lena nichts gehört hatte. Er wusste nicht, ob sie eines der Konzerte besucht hatte oder nicht, hinter der Bühne hatte sie sich auf jeden Fall nicht blicken lassen, und zwischen den beiden Auftritten hatte sie sich auch nicht gemeldet.

Es war ihm klar, dass mit der Zusammenkunft im Restaurant Harmonie seine private Zukunft in geregelte Bahnen gelenkt wurde – die Heirat mit Charlotte und eigene Kinder schienen bloß noch eine Frage der Zeit zu sein –, und irgendwie fand er diese Aussicht wenig prickelnd, wenn nicht sogar höchst beunruhigend.

Er dachte an Helene Webers Worte, die sie auf dem Weg in den Kornhauskeller an ihn gerichtet hatte, und spürte tief in sich drin einen unbändigen Drang nach Freiheit, nach Lust und Leidenschaft und nach einer unbändigen Begierde auf körperliche Nähe.

Diese Gedanken schwirrten ihm immer noch im Kopf herum, als er tags darauf mit Charlotte im Volkshaus saß und abwesend in seinem Essen herumstocherte. Sie bestritt die ganze Unterhaltung beinahe alleine, erzählte ihm von den Reaktionen ihrer Freundinnen am Seminar, wie viel Bewunderung, aber auch Neid sie gespürt habe und wie gespannt sie auf die Rezensionen in den Zeitungen sei, die gewiss überschwänglich sein würden.

Victor hörte ihr halbherzig zu, kommentierte kurz, wenn er sich dazu genötigt fühlte, und hing seinen Gedanken nach. Er war verwirrt, konnte seine lustvollen Fantasien nicht richtig einordnen und wusste, dass er eine Entscheidung treffen musste, um herauszufinden, ob Charlotte ihm das geben konnte, was er so sehr brauchte und auf das er so lange gewartet hatte.

Ihre Eltern waren heute Abend gemeinsam mit ihrem älteren Bruder bei Bekannten eingeladen, und so hatte er sich vorgestellt, dass er Charlotte in ihrem Elternhaus im Breitenrain verführen würde. Er hatte dafür einen Schaumwein und Kerzen eingekauft, und als seine Freundin nach dem Essen noch einen Spaziergang durch die Altstadt bis zum Bärengraben vorschlug, entgegnete er, dass er mehr Lust auf einen gemütlichen Abend bei ihr zu Hause habe, da sie ja gewissermaßen sturmfreie Bude hätten.

Charlotte, die vom Wein schon ein bisschen beschwipst war, ergriff seine Hand und meinte, das sei eine hervorragende Idee, sie sollten doch möglichst keine Zeit verlieren und anstatt zu laufen das Tram nehmen, damit sie soviel Zeit wie möglich alleine verbringen könnten, bis die Eltern zurückkehren würden.

Victor war überrascht über diese offensive Wendung, er hatte damit gerechnet, dass Charlotte auf seinen Vorschlag eher zurückhaltend reagieren würde. Als sie sich im Tram an ihn kuschelte, sah er sich bereits am Ziel seiner Träume. Die Aussicht, endlich mit ihr schlafen zu können, steigerte seine Vorfreude ins Unermessliche. Er war jetzt schon begierig darauf, der Wilden Lena von der bevorstehenden Liebesnacht zu berichten, gewiss würde er noch das eine oder andere Detail ausschmücken, sodass auch sie einmal große Augen kriegen und sprachlos sein würde.

Als sie im Haus am Breitenrain ankamen, kam Victor gar nicht dazu, Kerzen und Wein auszupacken, denn Charlotte schlang ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn leidenschaftlich.

»Halt mich ganz fest, mein Held«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Ich brauche jetzt große und starke Arme, die mich beschützen und mich nie mehr loslassen.« Und dann verdrehte sie die Augen und kicherte. »Ich glaube, ich bin so richtig besoffen.«

Charlotte hätte in nüchternem Zustand niemals zu solchen Worten tendiert, und Victor war überzeugt, dass er nun endlich zu seiner lang herbeigesehnten Liebesnacht kommen würde. Er warf seinen romantisch angehauchten Plan über Bord, nahm sie in seine Arme und trug sie die Treppe hoch in den ersten Stock, wo sich ihr Zimmer befand.

Dort legte er sie sanft auf ihr Bett und zog Schuhe und Kittel aus, bevor er sich zu ihr legte und weiterhin gierig seinen Mund auf ihre Lippen presste. Durch den Stoff ihres Oberteils knetete er ihre kleinen Brüste, womit er ihr ein erregtes und leidenschaftliches Stöhnen entlocken konnte. Er hätte sich ihrerseits ein bisschen mehr Initiative gewünscht, wie er es sich in seinen Fantasien ausgemalt hatte, die allerdings sehr stark von den Vorstellungen geprägt waren, Sex mit der Wilden Lena zu haben.

So fand er nun, dass er endlich zur Sache kommen wollte, schob seine Hand unter ihren Rock und streichelte sanft ihre Oberschenkel, wobei er immer mehr hochrutschte.

Ihre Reaktion kam für ihn völlig unerwartet. Sie schien auf einen Schlag wieder stocknüchtern zu sein, presste die Beine zusammen und schob ihn so energisch von sich weg, dass er vom Bett flog und sich auf dem Fußboden wieder fand.

Er hatte sich den Kopf gestoßen, rieb sich mit der Hand seinen Schädel und kam wieder auf die Knie. Als er sich erheben wollte und nach oben blickte, sah er Charlottes wutverzerrtes Gesicht über ihm und realisierte zu spät, dass ihre Hand auf ihn zugeflogen kam. Die Wucht der Ohrfeige warf ihn erneut zu Boden, und einen Moment lang sah er nur Sterne, bis Charlottes Stimme in sein Bewusstsein drang.

»Das wolltest du also die ganze Zeit? Nur um das ist es dir gegangen? Hast du mich überhaupt geliebt oder hast du von Beginn weg nur auf das hingezielt. Hättest du vielleicht auch mich einmal fragen und mit mir reden können, ob ich das überhaupt will?« Sie spie das Wort das mit einer unbeschreiblichen Verachtung aus.

Victor hielt sich immer noch den Kopf. »Es tut mir leid, ich dachte ...«

»Was dachtest du?«, schrie sie ihn so an, dass beinahe die Wände zitterten. »Ich will dir sagen, was du gedacht hast, nämlich absolut nichts! Du hast dich steuern lassen von deinem ... Ding da zwischen den Beinen. Du hast alles zerstört, alle meine Träume an die Wand gefahren, unsere gemeinsame Zukunft vernichtet, bloß weil dir dein ... Ding da wichtiger war.«

»Charlotte«, hob Victor mit flehender Stimme an, »lass uns doch darüber reden.«

»Raus!«, brüllte sie und zeigte zur Türe. »Raus mit dir, Victor Steinmann, du großer Stardirigent. Meinst du, bloß weil dir das Publikum im Casino zu Füssen gelegen hat, könntest du plötzlich alles mit mir machen? Scher dich zum Teufel, du wirst dort draußen bestimmt eine Menge Frauen finden, die noch so gerne für dich die Beine breitmachen werden. Ich will dich nie mehr wieder sehen!«

Victor kroch auf allen Vieren ein wenig vorwärts und richtete sich dann mühsam auf. Er hielt sich am Bettgestell fest und prüfte, ob das Schwindelgefühl etwas nachgelassen hatte. Charlotte stand neben der Türe, die Arme verschränkt und beobachtete mit scharfem Blick jede seiner Bewegungen, so als ob sie einen Angriff von ihm erwarten würde, dem sie sich zur Wehr setzen müsste.

Er schüttelte den Kopf, schleppte sich zur Tür und blieb neben ihr stehen, überlegte sich, ob er noch etwas sagen sollte und unterließ es schließlich. Als er sie anschaute, blickte sie weg, wartete unbeweglich, bis er das Zimmer verlassen hatte und knallte die Türe hinter ihm zu.

Auf dem Breitenrainplatz stoppte er ein Taxi und ließ sich zu Helene Weber chauffieren, die ihm erstaunt die Türe öffnete, ungeschminkt und nur mit einem Bademantel bekleidet, welcher allerdings schon bald zu Boden fiel und ihm den Blick auf ihre üppigen Brüste freigab, an denen er sich sofort zu schaffen machte.

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