Читать книгу Pultstar - Martin Geiser - Страница 33
Оглавление1962 – 1965
»Ein Dirigat wie aus dem Bilderbuch« war zwei Tage später im Berner Bund zu lesen. Ferdinand Tanner, ein namhafter Kritiker, aufgrund dessen Urteil so manche vielversprechende Musikerkarriere gefördert oder vernichtet worden war, hatte eine enthusiastische Besprechung über Victor Steinmanns Bruckner-Konzerte verfasst.
»Differenziert ausgearbeitet und wie aus einem Guss präsentierte das Berner Orchester Bruckners Werk, wurde vom jungen Maestro mit einer derart umsichtigen Selbstverständlichkeit geführt und musizierte auf einem so hohen Niveau, dass man den Eindruck bekommen konnte, dass es sich hier um eine schon lange währende Symbiose handeln würde«, hatte Tanner geschrieben. Und weiter unten schloss er den Artikel mit einer prophetischen Vermutung ab: »Mit nicht enden wollenden Ovationen bedankte sich das rundum begeisterte und beglückte Publikum bei den Musikern und feierte den jungen Dirigenten zurecht als die Entdeckung des Abends. Bestimmt werden wir ihn nicht zum letzten Mal in Bern gesehen haben und werden uns, wenn er einst in der großen weiten Welt auftreten wird, vielleicht darauf besinnen, wo der aufregende Orchesterleiter einmal seine Karriere gestartet hat.«
Bekannt war der Feuilletonist Ferdinand Tanner neben spitzer Zunge und gewandten Formulierungen auch für seine Vorliebe für junge, stattliche und gut aussehende Musiker, die er mit seinem Charme zu umgarnen versuchte, und in Victor sah er einen potentiellen Kandidaten, mit dem er auf Tuchfühlung zu gehen gedachte.
Nicht nur aus diesem Grund jedoch hatte er den jungen Steinmann über den grünen Klee gelobt, als großer Verfechter der Spätromantik hatte ihn Victors Bruckner-Interpretation tief im Herzen berührt; und wenn man ihm etwas nicht vorwerfen konnte, dann das, dass er seine Begeisterung nicht deutlich und wortreich zum Ausdruck brachte. Tatsächlich sollte diese Konzertbesprechung ein wichtiges Puzzleteilchen in der Weltkarriere Victor Steinmanns bedeuten.
»Du warst erste Klasse, Mozart«, schnurrte die Wilde Lena und knabberte an Victors Ohrläppchen, während sie mit einer Haarsträhne vor seinen Augen herumwedelte. Dieser rümpfte die Nase und drehte sich erschöpft auf den Bauch. Die beiden hatten eine lange und aufregende Liebesnacht hinter sich. Helene hatte, ohne eine Frage zu stellen, Victor in ihre Wohnung hereingelassen, als er nach Charlottes Abfuhr bei ihr geklingelt hatte, und versucht, seine ungestüme Lust in die richtigen Bahnen zu lenken.
»Dieses Lob aus deinem Mund?«, fragte Victor erstaunt, in der Überzeugung, dass die Wilde Lena ihr Kompliment auf die gemeinsame Nacht bezog und drehte sich zufrieden auf den Rücken.
»Das Konzert, du Dummerchen«, lachte sie, »dein Auftritt war allererste Sahne. An deinen sexuellen Techniken müssen wir noch arbeiten. Aber ich kenne da ein paar gute Übungen, die wir ausprobieren sollten.« Sie wollte ihr Bein über seinen Körper schwingen, doch er ließ sie innehalten.
»Du warst im Konzert?« Die Unsicherheit, ob sie seine Auftritte verfolgt hatte, hatte ihn lange beschäftigt und keine Ruhe gelassen.
»Deine zweite Aufführung habe ich miterlebt, Mozart, und ich fand dich hinreißend. Kurt hingegen ist schon im ersten Satz eingeschlafen.«
»Kurt?« Victor wurde hellhörig.
»Meine Begleitung, Mozart. Eine arme Studentin wie ich kann sich doch keine Karte im Casino leisten. Da braucht man einen Sponsoren. Kurt war so nett mich einzuladen.« Sie grinste vielsagend. Victor hingegen war verwirrt und musterte Helene skeptisch.
»Du schläfst mit anderen Männern?«
Mit gespielt entsetzter Miene schlug sie sich die Hand vor den Mund, um anschließend laut loszuprusten. »Der Herr Hofkapellmeister ist eifersüchtig!« Sie konnte sich fast nicht mehr erholen und zeigte lachend mit dem Finger auf Victor. »Aber Mozart, was dachtest du denn? Natürlich schlafe ich mit anderen Männern!« Nachdem sie sich wieder eingerenkt und ihre Augen abgewischt hatte, fügte sie hinzu: »Doch zu bist trotzdem etwas Besonderes. Du bist nämlich der erste Mann, mit dem ich ins Bett steige, der jünger ist als ich. Und ich muss gestehen: Es war nicht schlecht.«
»Nicht schlecht?« Victor verschränkte die Finger hinter seinem Kopf und starrte schmollend zur Decke. Sie schmiegte sich an ihn und streichelte sanft seine Brust.
»Dachtest du wirklich, ich hätte brav und keusch auf dich gewartet? Das finde ich aber süß! Aber bloß damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich werde auch in Zukunft ins Bett steigen mit wem und wann immer ich will.«
»Ich weiß nicht, ob mir das gefällt«, antwortete Victor tonlos.
»Das ist mir egal, Mozart. Aber ich hoffe, dass diese Nacht nicht unsere letzte gemeinsame gewesen ist. Es wäre schade, wenn unsere Romanze aus Gründen deiner Prüderie und veralteten Moralvorstellungen bereits nach dem ersten Durchgang beendet sein sollte.«
»Ich bin eine Romanze?« Victors Augen wurden groß.
»Nun, ich bezeichne meine intimen Bekanntschaften als Romanzen. Ich finde, Affäre tönt so schmuddelig und verlogen, das mag ich nicht. Und auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Du solltest dir auch nehmen, worauf immer du Lust hast. Wir beide sind aus demselben Holz geschnitzt, das fühle ich.«
Victor wollte protestieren, doch sie legte den Finger auf seine Lippen. »Erzähl mir jetzt nichts von deinem Lottchen. Ich will gar nichts darüber wissen. Aber ich denke mir, dass sie dich hat abblitzen lassen, sonst wärst du nämlich nicht hier bei mir. Ich gebe dir einen guten Rat: Sag ihr, was Sache ist. Mach klar Schiff mit ihr, und dann lebe deine Wünsche und Träume aus.«
»Ich denke, diese Klarheit hat eher sie mit aller Deutlichkeit geschaffen. Da gibt’s nichts mehr zu bereden.«
Die Wilde Lena grinste verschmitzt und setzte sich mit weit gespreizten Beinen auf seine Brust. »Na, dann ist’s ja gut. Bist du bereit für die nächste Runde? Ich will dir nämlich noch etwas zeigen, was dir bestimmt gefallen wird.«
*
Natürlich besuchten Bruno und Gertrud Steinmann auch Victors zweites Konzert und versuchten, für diesen Auftritt so viele Verwandte wie möglich zu mobilisieren. Das Resultat war indes ziemlich ernüchternd, wobei die Gründe für die Absagen – in erster Linie die Kurzfristigkeit des Anlasses – zum Teil nachvollziehbar waren
Brunos Bruder Erich war mit seiner Ehefrau aus der Ostschweiz angereist, um seinem Patenkind die Ehre zu erweisen. Zur Schwester, die ebenfalls in der Nähe von St. Gallen lebte, war der Kontakt eher lose, und obschon sie mit ihrem Bruder in die Bundesstadt hätte reisen können, lehnte sie dankend ab und entschuldigte sich mit einem schon lange verabredeten Termin – für Bruno war es aber schlichtweg mangelndes Interesse. Andere Verwandte hatte er nicht mehr, seine Mutter und sein Vater waren beide bereits verschieden; Victor hatte seine Großeltern väterlicherseits gar nie kennenlernen dürfen.
Gertruds Schwestern, die beide einige Jahre älter waren, lebten in der Nähe von Linz und wollten die lange Strecke nicht auf sich nehmen, wofür Gertrud volles Verständnis hatte. Sie ließen sich aber von ihrer Schwester beide Auftritte von Victor bis ins kleinste Detail schildern und leiteten sie weiter an ihre Eltern, die gerade bei ihrer ältesten Tochter zu Besuch weilten und sich über die Erfolge ihres Enkels mächtig freuten.
Allerdings konnte eigentlich niemand aus der Familie Steinmann etwas mit klassischer Musik anfangen, aber man nahm die Erfolge des jungen Victors mit großem Wohlwollen zur Kenntnis und deckte ihn mit zahlreichen Gratulationen ein.
Erich Steinmann, Brunos Bruder aus der Ostschweiz, der das zweite Konzert im Casino miterlebt hatte und dem am ehesten noch eine Affinität zur Musik nachgesagt wurde, strahlte über sein ganzes rundes Gesicht und schwärmte vom herrlichen Saal im Berner Casino. Für den Auftritt seines Patenkindes hatte er viel Lob bereit, um danach aber sofort den vermeintlichen Musikkenner rauszuhängen und deutlich durchschimmern zu lassen, dass er Anton Bruckner für völlig überschätzt halte. Er prophezeite, dass der Komponist in wenigen Jahren in den Versenkungen der spätromantischen Musikliteratur verschwunden sein werde.
Für den anschließenden Umtrunk im Restaurant Harmonie, wo sich die Familien von Victor und Charlotte besser kennenlernen sollten, entschuldigte er sich und seine Frau und verwies auf seinen langen Heimweg, obschon ihm Bruno eine Übernachtungsmöglichkeit bei sich zu Hause angeboten hatte. Dieser war etwas enttäuscht über den raschen Aufbruch seines Bruders; er hatte ihn seit fast zwei Jahren nicht mehr gesehen und sich erhofft, mit ihm nach dem Konzert ein Glas Wein zu trinken und in Erinnerungen an die alten Zeiten zu schwelgen. Doch wenigstens hatte Erich mit seiner Gattin als einziger Verwandter den Weg nach Bern auf sich genommen und damit immerhin ein wenig Interesse am Werdegang seines Patenkindes gezeigt.
Victor nahm Erichs Urteil über seinen Auftritt – beziehungsweise seine Herablassung Bruckners – gelassen entgegen und fragte sich insgeheim immer mehr, woher er seine außergewöhnlichen musikalischen Fähigkeiten wohl erhalten haben könnte.
Entweder bin ich der musikalische Exot der Familie, dachte er sich, oder – und dabei grinste er grimmig – meine Mutter muss eine Affäre mit einem Musiker gehabt haben.
Er selbst war mit seinen beiden Auftritten sehr zufrieden, freute sich zwei Tage später über Ferdinand Tanners hervorragende Kritik und setzte sich, trotz des vielen Lobes, in aller Nüchternheit mit der Frage auseinander, wie es denn nun weitergehen könnte.
Vorerst sollten ihn aber Helene und Charlotte, seine beiden Frauen, auf Trab halten, mit denen er noch ganz unterschiedliche Erlebnisse haben würde.
*
Professor Paul Glauser verließ seinen Arbeitsplatz am Konservatorium Bern und trat aus dem Laubengang in die Kramgasse. Die helle Sonne, die an diesem herrlichen Frühlingstag über Bern strahlte, blendete ihn für einen Moment, und er legte sich die Hand an die Stirn, um seine Augen zu schützen, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten. Er blieb kurz vor dem Simsonbrunnen stehen und betrachtete beeindruckt die lange Zunge der Löwenstatue. Unweigerlich kam ihm dabei Helene Weber in den Sinn, wie sie lustvoll mit der Zunge über ihre Lippen leckte und ihn dabei herausfordernd anblickte. Wollte sie ihn damit bloß in Verlegenheit bringen oder fand sie ihn tatsächlich so attraktiv, dass sie sich vorstellen konnte, mit ihm ins Bett zu steigen? Er setzte sich nachdenklich auf den Rand des achteckigen Beckens, tauchte seine Hand gedankenverloren ins Wasser und ließ das kühle Nass durch seine Finger rinnen.
Sie hatte sich erneut mit ihm verabredet, um nochmals über seine Berner Rhapsodie zu sprechen, wie sie ihm gesagt hatte, doch Glauser hatte den Eindruck, dass sie andere Beweggründe haben musste. Als sie ihm im Kino bei Hitchcocks Psycho die Hand auf den Oberschenkel gelegt hatte, war er augenblicklich elektrisiert gewesen und hatte ihre Berührung genossen. Gleichzeitig hatte sich seine Ehefrau Nelly in sein Bewusstsein gedrängt, und das schlechte Gewissen, das durch diese Bilder hervorgerufen wurde, hatte verhindert, dass er seine Hand auf die ihrige gelegt hatte.
Sie musste seine Erektion gespürt haben und hatte die Hand in Richtung seines Schrittes geschoben, ohne ihren Blick von der Leinwand zu nehmen, was bei ihm zwangsläufig zu einem leisen Aufstöhnen geführt hatte.
Die Vorstellung war nicht so gut besucht, der Filmsaal etwa nur halb besetzt, und jetzt verstand er, weshalb sie auf diese Plätze bestanden hatte, die nicht gerade die besten waren, aber rundherum waren die Stühle ziemlich verwaist, und so konnte niemand mitkriegen, wie sie ihre Hand in seine Hose schob und ihn zu reiben begann.
Paul Glauser schluckte erregt, als er sich an diesen Moment zurückerinnerte und stellte fest, dass er erneut hart geworden war. Er erhob sich vom Wasserbecken des Simsonbrunnens, blinzelte erneut in den wolkenlosen blauen Himmel, richtete sich seine Hose zurecht und spazierte durch das schmale Münstergässchen direkt auf den Münsterplatz, wo sich die gotische Kathedrale ehrwürdig vor ihm erhob und ihn mit ihrer Herrlichkeit daran erinnerte, dass auch er bloß ein armer Sünder war. Er näherte sich dem Portal, betrachtete eingehend die Darstellung des Jüngsten Gerichts, wie er es schon so oft getan hatte und blieb am Höllenschlund hängen, wo er einen kleinen Dämon betrachtete, der gerade im Begriff war, mit einer Zange einen Sünder zu kastrieren. Glauser erschauerte. Die Strafe für Ehebruch.
Sie hatten nach der Kinovorstellung keine Zeit gefunden, um über das, was im Filmsaal geschehen war, zu sprechen, denn vor dem Bubenberg hatten sie Victor Steinmann und Krisztina Szábo getroffen und waren sofort von ihnen vereinnahmt worden. Mit eifersüchtigen Blicken hatte er festgestellt, dass Helene seinem Schützling sehr zugetan schien, und er hatte nur mit Mühe das Gespräch mit der Klavierlehrerin aufrecht erhalten können.
Bei der geselligen Weinrunde im Kornhauskeller war Helene als erste aufgestanden und nach Hause gegangen, sodass sich auch hier keine Gelegenheit zum Reden ergeben hätte.
Glauser verbrachte eine unruhige Zeit; immer wenn er nach Hause kam, seine Frau küsste und die Zwillinge in den Arm nahm, wurde seine Wunde erneut aufgerissen und sein schlechtes Gewissen meldete sich zu Wort, rief ihm das erotische Erlebnis mit Helene in Erinnerung und mahnte mit drohenden Worten, dass er eine Grenze überschritten habe und dass dieser Fehltritt nicht mehr zu korrigieren sei. Wenn er grübelnd neben seiner Frau im Bett lag und ihren gleichmäßigen Atem neben sich hörte, fragte er sich immer wieder, ob sich das Risiko einer außerehelichen Affäre mit Helene Weber nicht doch lohnen würde.
Sein Sexleben war doch sehr bescheiden, und er fragte sich, ob es ihm jemals wieder einmal so leicht gemacht werden würde, mit einer anderen Frau zu schlafen.
Am nächsten Morgen, wenn er mit seiner Familie am Frühstückstisch saß und Nelly ihm ihren herrlich frisch gebrühten Kaffee servierte, schämte er sich jeweils für seine frivolen Gedanken, doch bereits in seinem Arbeitszimmer am Konservatorium, wenn sein Blick auf den Entwurf ihrer Arbeit fiel, die sie ihm zum kritischen Durchlesen dagelassen hatte, schlugen seine Fantasien erneut Purzelbäume. So hatte er, sehr zum Erstaunen seiner Frau, einen Friseurtermin gebucht und sich seinen struppigen Bart stutzen und einen ordentliche Haarschnitt verpassen lassen.
Als sie sich das nächste Mal trafen, um über Helenes Arbeit zu reden, waren bereits zwei Wochen vergangen, und sie hatte, wie so üblich, die Führung des Gesprächs übernommen, sodass Paul Glauser es nicht geschafft hatte, das Thema auf ihren gemeinsamen Kinobesuch zu lenken.
Sie hatte bei der Begrüßung kurz ihr Erstaunen über sein neues Aussehen kundgetan, ohne jedoch ein Lob darüber zu verlieren und hatte dann sofort auf die professionelle Ebene gewechselt. Es war vorgesehen, dass dies der letzte Termin für ihre Zusammenarbeit sein sollte, und irgendwie war Paul Glauser trotzdem froh darüber, sich nicht in weitere Schwierigkeiten gebracht zu haben und verbuchte somit die Episode im Kino als einmaligen Ausrutscher.
Als sie sich vor ein paar Tagen erneut gemeldet und um einen Termin gebeten hatte, war er einerseits argwöhnisch geworden, andererseits war das Feuer in ihm erneut entfacht, das immer leicht gelodert hatte, auch wenn er es nicht hatte wahrnehmen wollen.
Er hatte sich die ganze Zeit überlegt, ob er sämtliche Karten ausspielen und versuchen sollte, sie zu verführen, mit dem Risiko eine Abfuhr zu erhalten und sich lächerlich zu machen. Sein Entschluss war immer noch nicht gefallen, als er sich vom Münsterportal abwandte und in die Herrengasse einbog, die ihn zum Casino führen sollte, wo er sich mit Helene Weber in der Bierquelle verabredet hatte.
Er war so grübelnd in seinen Gedanken vertieft, dass er die Grüße von zwei seiner Studenten nicht wahrnahm, die sich schulterzuckend anblickten und ihren Weg fortsetzten.
Was hatte er zu verlieren? Im schlimmsten Fall würde sie ihn auslachen und ihn damit hochnehmen, ob er tatsächlich geglaubt habe, dass eine blutjunge Studentin sich mit einem – für ihre Begriffe – alten Professor einlassen würde. Doch gab es nicht unzählige Geschichten von solchen Liaisons, die er selber bloß als Hirngespinste von wichtigtuerischen Altherren oder jungen Mädchen mit einem Vaterkomplex abgetan hatte? Und nun, da er sich selber in solch einer Situation befand – auch wenn er sich das vielleicht bloß einbildete –, wollte er, ohne das Schicksal herausgefordert zu haben, unverrichteter Dinge die Waffen strecken?
Deshalb nochmals: Was hatte er zu verlieren? Spott von Helene? Nun, immerhin hatte sie ihm im Kino einen runtergeholt, also durfte sie sich nicht wundern, wenn er darauf zu sprechen kommen und versuchen würde, noch einen Schritt weiter zu gehen. Auf der anderen Seite: Wenn sie ihn abblitzen und ihren Freundinnen davon erzählen würde, wie groß wäre die Möglichkeit, dass seine Studenten davon erfahren würden? Würde er damit seine Autorität und Vorbildsfunktion den niederen Trieben opfern? Wenn seine Schüler davon wüssten, wäre es dann auch möglich, dass sein privates Umfeld davon Kenntnis erhalten und früher oder später sein testosterongesteuertes Verhalten auch seiner Ehefrau Nelly zu Ohren kommen würde?
Er war verwirrt und wusste nicht, wie er vorgehen sollte, als er die Türe zur Bierquelle öffnete.
Dort fand er Luc Balmer an einem Holztisch sitzend, vor sich ein Glas Pfefferminztee, in das er eifrig den Teebeutel hineintunkte. Es war jetzt eine Woche her, seit er die Leitung der beiden Konzerte an Victor Steinmann abgegeben hatte, und er fühlte sich immer noch nicht ganz gesund; die Grippe hielt sich hartnäckig und wollte ihn noch nicht hundertprozentig genesen lassen. So ließ er den Frühschoppen, den er eigentlich regelmäßig mit seiner Stammtischrunde im Falken einnahm, ausfallen und hatte sich in die Bierquelle zurückgezogen, um ohne die spöttischen Worte seiner Bierfreunde einen Tee trinken und nachdenken zu können.
Als er Paul Glauser erblickte, winkte er ihn erfreut zu sich an den Tisch und bat ihn, sich zu ihm zu setzen. Der Professor war sich unschlüssig, da er bei seiner Verabredung mit Helene keine Zuhörer brauchen konnte. Doch ein Blick auf seine Armbanduhr bestätigte ihm, dass er fast eine Viertelstunde zu früh erschienen war, und da sie es erfahrungsgemäß mit der Pünktlichkeit nicht so genau nahm, hatte er genug Zeit, um mit Balmer noch ein paar Worte zu wechseln.
»Immer noch nicht auf dem Damm?«, fragte er, mit dem Kopf auf Balmers Getränk deutend, nachdem er sich einen Kaffee bestellt hatte.
Dieser winkte resigniert ab. »Die Viren halten sich hartnäckig. Erstaunlich, denn ich war seit Jahren nicht mehr richtig krank, und jetzt braucht mein Immunsystem scheinbar doch ziemlich viel Zeit, um die Angriffe abzuwehren und meinen Haushalt wieder ins Gleichgewicht zu bringen.«
Du hast dich auch schon prosaischer ausgedrückt, dachte sich Glauser, nickte seinem Gesprächspartner aufmunternd zu und rührte dann gedankenverloren in seinem Kaffee, obwohl er ihn schwarz trank.
Luc Balmer schaute ihm eine Weile dabei zu und meinte dann mit einem schelmischen Lächeln: »Aber dir geht es gut, Paul?«
Glauser zuckte zusammen und fragte sich, ob er so leicht zu durchschauen sei. Er steckte sich den Löffel in den Mund und suchte nach den richtigen Worten. »Ein paar ungelöste Probleme am Konsi. Geschäftskram sozusagen. Nichts von großer Bedeutung.«
Balmer nickte und begann, über seinen beruflichen Alltag zu sprechen. Dies holte den Professor aus seinen Grübeleien wieder etwas in die Gegenwart zurück, und er erinnerte sich, dass das Berner Orchester auf der Suche nach einem neuen Dirigenten war.
»Gibt es Neuigkeiten diesbezüglich?«
Balmer zuckte die Schultern und wollte einen Schluck von seinem Tee nehmen. Schmerzhaft verzog er das Gesicht, weil er sich dabei den Mund verbrannt hatte. Er blies ein paar Mal ins Glas und stellte es wieder vor sich hin auf den Tisch.
»Eigentlich ist es klar, dass es Karl Richter werden wird. Der Vorstand hat ihn gewählt.«
»Eigentlich?«, hakte Glauser nach.
»Na ja, du weißt schon: Kultur und Politik und das ganze dumme Gerede drumherum.« Er winkte wieder ab. »Es gibt sehr großen Widerstand gegen Richter. Zum einen ist die symphonische Musik nicht gerade sein Spezialgebiet, und zum anderen würde unter ihm die Pflege französischer Musik, für die das Berner Orchester bekannt ist, wohl komplett vernachlässigt werden. Und dann gibt es noch – wie das halt immer so üblich ist – Intrigen und Vetternwirtschaft, die bei solch einer Wahl ständig mitklingen. Du hast ja wahrscheinlich von der unsäglichen Hauptversammlung der Musikgesellschaft gehört, die ziemlich hohe Wellen geworfen hat.«
»Also ist noch nichts entschieden?«
Balmer zuckte die Achseln und fügte mit einem lausbübischen Grinsen hinzu: »Ich denke nicht – aber wer fragt schon mich?« Er spitzte die Lippen und versuchte noch einmal, einen Schluck Tee zu nehmen. »Außerdem hätten wir doch ganz junge, vielversprechende Schweizer Dirigenten, denen man eine Chance geben könnte. Es ist beispielsweise die Bewerbung eines jungen Waadtländers eingegangen – Charles Dutoit heißt er, glaube ich. Weshalb nicht eine mutige Wahl?«
Was Balmer zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte, war, dass zwei Jahre später besagter Charles Dutoit tatsächlich gemeinsam mit dem polnisch-schweizerischen Dirigenten Paul Kletzki die Geschicke des Orchesters übernehmen und es in eine erfolgreiche Ära führen sollte.
»Oder wie wär’s mit Victor Steinmann?«, fragte Paul Glauser provokativ. Er hatte, seit dem überraschend spontanen Gefühlsausbruch seines Schützlings nach dem zweiten Konzert nichts mehr von ihm gehört und ihn auch am Konservatorium nicht mehr gesehen. Abgesehen davon war er sich sicher, dass Victor kein Wort mehr über die tränenreiche Umarmung verlieren würde und dass ihm die Situation im Nachhinein peinlich gewesen war.
»Tja, der junge Steinmann«, meinte Balmer nachdenklich und blies erneut in sein Teeglas. Er war über die erfolgreichen Auftritte und die enthusiastischen Konzertbesprechungen nicht erstaunt gewesen, schließlich waren Victors Talent und vor allem auch sein Ehrgeiz nicht von der Hand zu weisen. Er bedauerte es einzig, dass er an den Auftritten nicht hatte dabei sein können, um sich von Victors zauberhafter Bruckner-Interpretation – wenn man den öffentlichen Meinungen glauben durfte – berauschen zu lassen. Er erkundigte sich bei Glauser:
»Wie man so hört, soll sein Auftritt ja ziemlich ergreifend gewesen sein. Findest du auch? Ach, ich wünschte, ich wäre an diesen Abenden nicht krank im Bett gelegen.«
»Dann hättest du Bruckner dirigiert«, warf Glauser trocken ein und vernahm im nächsten Augenblick eine Stimme hinter sich.
»Es war himmlisch, meine Herren!« Helene Weber hatte unbemerkt die Bierquelle betreten und sich zwischen die beiden Männer gestellt. Der Professor erblickte in ihrem Schlepptau einen jungen Mann, etwa in ihrem Alter, hochgewachsen, blass, die Haare mit viel Pomade aus der Stirn gekämmt und mit einer Zigarette, die unangezündet in seinem Mundwinkel hing.
Helene hielt sich verspielt einen Finger vor den Mund und fabulierte munter drauf los: »Himmlische Klänge eines großen Komponisten, dem Zeit seines Lebens die ihm zustehende Anerkennung größtenteils verwehrt worden war, mirakulös dargeboten von unserem Berner Orchester unter der Leitung des feschen und fachkundigen Konservatoriumsschülers Victor Steinmann, der sich erstmals der Öffentlichkeit präsentierte und sogleich einen nachhaltigen Eindruck hinterließ.« Sie tippte sich mit dem Finger an die Lippen. »Ob ich wohl Konzertkritikerin werden sollte?«
»An den geschliffenen Phrasen von Ferdinand Tanner sind Sie nahe dran. Sie können sich beinahe schon mit ihm messen«, lachte Luc Balmer.
Paul Glauser schwieg und musterte Helenes Begleitung misstrauisch. Es war ihm klar geworden, dass seine geplante Verführung in weite Ferne gerückt war – bedingt durch die Anwesenheit des Ölwechslers, wie er den hageren Mann, wegen seiner schmierigen Haarpracht, in Gedanken bereits abschätzig getauft hatte.
Die Wilde Lena legte ihre Hände auf die Schultern der beiden Herren und beugte sich so weit nach vorne, dass der Steg ihres mit Spitzen verzierten roten Büstenhalters sichtbar wurde, worauf der Professor verschämt wegschaute. Er machte die beiden miteinander bekannt, und Helene ergänzte:
»Und das hier ist gewissermaßen ein zukünftiger Kollege von euch beiden: Konrad Sutter. Er studiert Musikwissenschaft und Komposition in Zürich und hat ein Anliegen an dich, Paul, weshalb ich dich nochmals um eine Zusammenkunft gebeten habe. Denn – meine Arbeit ist fertig und demnächst werde ich sie abgeben!« Sie ballte ihre Fäuste und wackelte mit den Hüften. Damit sanken Paul Glausers Aktien definitiv in den Keller, und er bot den beiden einen Platz an, bemüht darum, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
»Ja, sieh mal, es verhält sich so«, begann Helene, »Konrad ist ein guter Freund von mir.« – Heißt das, dass du mit ihm mehr machst, als bloß einen runterzuholen?, dachte sich Glauser grimmig. – »Und als ich ihm meine Arbeit gezeigt habe, war er sehr interessiert an deiner Novelle.«
»Die Berner Rhapsodie«, präzisierte der Ölwechsler überflüssigerweise, nachdem er die Zigarette aus dem Mundwinkel genommen hatte und nun mit dem Stängel herumspielte – und bestärkte den Professor mit seiner Bemerkung in dessen Ansicht, ihn ausgesprochen dämlich zu finden.
»Ich habe ihm meine Ausgabe ausgeliehen, und er war hellauf begeistert von deiner Geschichte«, fuhr Helene freudig fort.
»Ich habe sie zweimal in einem Zug durchgelesen.« Die Zigarette flatterte zwischen den Fingern.
Natürlich hast du das, denn das erste Mal hast du sie nicht verstanden, dachte Glauser verächtlich.
»Und jetzt stell dir vor, Paul!« – Nein, das will ich nicht! – »Konrad möchte deine Geschichte gerne vertonen.«
»Ach wirklich?« Der Professor bemühte sich, ein überraschtes und interessiertes Gesicht zu machen.
»Großartige Idee!«, meldete sich nun auch Luc Balmer zu Wort, der mittlerweile seinen Tee fast ausgetrunken hatte und sich überlegte, ob es angesichts dieser geselligen Runde nicht doch angemessen wäre, ein kleines Bier zu bestellen. »Ich habe auch wieder einmal eine größere Komposition ins Auge gefasst, eine Oper, um genau zu sein.«
»Und worum geht es in deiner Oper?«, fragte Glauser, mehr daran interessiert, Konversation zu betreiben um vom Ölwechsler abzulenken, als an dem musikalischen Werk Balmers.
Dieser grinste verschmitzt: »Sie handelt von gefoppten Ehemännern.«
»Besser als betrogene Ehefrauen!«, lachte Helene Weber laut und klopfte sich auf den Oberschenkel, während der Professor betreten mit seinem Löffel spielte.
»Aber ich denke«, nahm Balmer den Faden wieder auf, »dass Sie sich nicht mit einer Oper herumschlagen, mein junger Freund. Was soll’s denn werden?«
»Ich plane eine Art Tongemälde, das ich vorerst für zwei Klaviere setze, schließe aber eine spätere Orchestrierung nicht aus. Ich habe vier Textstellen ausgewählt, die mich an Herrn Glausers Novelle sehr interessiert haben, weil er darin auf sehr eindrückliche Art und Weise gewisse Orte von Bern beschreibt. Es könnte also etwas Ähnliches werden wie Othmar Schoecks Sommernacht, alles kein pastorales, sondern eher ein urbanes Intermezzo, wenn ich mich an dem Untertitel des Werks orientieren will.«
»Herrlich!«, rief Balmer begeistert. »Ich habe die Sommernacht uraufgeführt – 1945 war es, glaube ich, hier im Casino.« Er beschloss, sich unbedingt noch ein Bier zu bestellen.
»Aber das weiß ich doch, Maestro Balmer«, säuselte der Ölwechsler.
Reicht euch die Hände und verbrüdert euch, dachte Glauser und kam sich wie in einer schlechten Komödie vor, die er über sich ergehen lassen musste, obwohl er lieber aufgestanden und gegangen wäre.
Und als ob das noch nicht genug des Trubels wäre, öffnete sich die Türe zur Bierquelle, Victor Steinmann trat ein und rief laut, als er die Runde gefunden hatte, die Arme triumphierend in die Höhe gestreckt:
»Ich habe es geschafft! Ich bin im Geschäft!«
Schlagartig wurde es still im Lokal, Victor rannte auf den Holztisch zu, schüttelte den Anwesenden die Hände, packte Helene um die Taille, hob sie hoch und drehte sich einmal um die eigene Achse. Das war bereits der zweite große Gefühlsausbruch innerhalb einer Woche, den Paul Glauser von seinem Schützling erlebte, und er bot ihm einen Stuhl an. Victor winkte ab, meinte, er sei zu aufgeregt, um sich hinzusetzen und berichtete, die Hände auf die Stuhllehne gestützt:
»Heute Morgen hat sich telefonisch ein Musikagent namens Hans Heinrich Baumberger gemeldet. Er betreibt in Zürich ein Vermittlungsbüro und will mich treffen.«
»HH hat Sie kontaktiert?«, meinte Professor Glauser, der wieder festen Boden unter seinen Füssen spürte und kaute an seinem Brillenbügel.
»Sie kennen ihn?«, fragte Victor erstaunt.
»Wer kennt ihn nicht«, mischte sich Luc Balmer ein. »HH ist hier in der Schweiz eine Kapazität. Ein sehr zuverlässiger und seriös arbeitender Agent.«
»Das ist ja toll, Mozart!« Helene nahm Victors Kopf in beide Hände und küsste ihn spontan auf den Mund, was bei Paul Glauser zu Stirnrunzeln und erneuten Spekulationen führte.
»Habe ich da etwas verpasst?«, fragte Konrad Sutter, der Ölwechsler, nach, und es war nicht ganz klar, ob sich seine Frage auf den Kuss seiner Begleitung oder auf die neu eingetretene Situation rund um Victor bezog.
»Als Zürcher haben Sie natürlich keine Ahnung vom Berner Kulturleben«, meinte Luc Balmer schelmisch.
»Brauchst du nicht zu wissen, Koni«, wehrte Helene ab, »wir wollen doch über deine geplante Komposition sprechen.«
»Kann mir jetzt endlich jemand etwas über diesen Baumberger erzählen?«, hakte Victor entnervt nach.
Und da war es wieder – das große Durcheinander; Paul Glauser kam sich vor wie im Finale einer Opera buffa, wenn alle in der virtuosen und effektvollen Schluss-Stretta durcheinander sangen. Allerdings entstand auf der Bühne jeweils reine Harmonie, auch wenn jede Figur von etwas anderem plapperte. Hier in der Bierquelle konnte man im besten Fall von einem konfusen Drunter und Drüber sprechen.
»Küsst du jeden Mann einfach so auf den Mund?«, brummte der Ölwechsler.
»Mozart, das müssen wir feiern«, rief Helene Weber.
»Ist dieser Baumberger wirklich so gut?«, wollte Victor Steinmann wissen.
»Willy, bringst du mir ein Bier, bitte?«, orderte Luc Balmer Richtung Theke.
Paul Glauser schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu, sodass er die Stimmen nur noch gedämpft hören musste. Erst als das dumpfe Gemurmel plötzlich verstummt war, schaute er in die Runde und sah in verblüffte Gesichter, die ihn alle anschauten und im nächsten Moment in lautes Gelächter ausbrachen.
*
»Ich kann mir vorstellen, dass Sie bei HH in sehr guten Händen sind.«
Paul Glauser hatte mit Victor die Bierquelle verlassen, und gemeinsam spazierten sie durch die Laubengänge Richtung Bahnhof.
Als er im Lokal in die grölenden Gesichter geblickt hatte, hatte er sich nicht mehr zurückhalten können und war selber in schallendes Gelächter ausgebrochen, froh darüber, die Spannung, die sich in ihm in den letzten Minuten eigentlich grundlos aufgestaut hatte, auf diese Art und Weise abbauen zu können und über sich selber zu lachen.
Er würde sich im stillen Kämmerlein wohl noch ein paar Mal mit Helene Weber auseinandersetzen müssen, um den Zwischenfall im Kino und seine damit verbundenen erotischen Hoffnungen zu verarbeiten, war momentan aber einfach glücklich darüber, wie sich das Ganze entwickelt hatte und freute sich darauf, Nelly zu küssen und die Zwillinge in die Arme zu nehmen.
Luc Balmer hatte die fröhliche Gesellschaft – selbst von den eifersüchtigen Sticheleien des Ölwechslers war nichts mehr zu hören gewesen – zu einer Runde Bier eingeladen. Paul Glauser hatte nachgedoppelt, als die Gläser leer waren – außer Victors Glas natürlich, der an seinem Bier wieder nur genippt hatte –, was bei Balmer, der seine Medikamente unterschätzte, zu einem kleinen Schwips geführt hatte.
So hatte sich die Runde in ausgelassener Fröhlichkeit kurz vor dem Mittag aufgelöst, und Victor und der Professor hatten sich zu einem kleinen Spaziergang entschlossen – Glauser war der Meinung, dass ihm das nach den zwei Bieren sehr gut tun würde – und schlenderten so dem Warenhaus Loeb entgegen, wo sie das Tram beziehungsweise den Bus nehmen wollten.
»Er wird sich behutsam um Sie kümmern«, fuhr Glauser mit seinen Ausführungen über Hans Heinrich Baumberger fort, »und sehr genaue Vorstellungen haben, wie er Sie am besten fördern und vermitteln kann, damit die Flamme, die Sie mit Ihren Berner Auftritten entfacht haben, zum einen am Lodern behalten und zum anderen kontinuierlich zu einem Feuer aufgebaut werden kann. Ich rate Ihnen, sich mit ihm zu treffen und sich anzuhören, was er Ihnen vorzuschlagen hat.«
Victor runzelte die Stirn. »Das tönt für mich ein wenig zögerlich.«
»Ja, was haben Sie denn gemeint, mein Guter?«, lachte Glauser. »Morgen klopft Berlin an und übermorgen Wien? Sie brauchen Zeit, viel Zeit. Ihr Auftritt im Casino war vielversprechend, zugegeben, und ich habe Ihnen meine Hochachtung und Bewunderung bereits mitgeteilt, was bei Ihnen, wenn ich mich recht erinnere, ziemlich gut angekommen ist.«
Der Professor wartete gespannt, ob Victor auf die Erinnerung an die Szenerie nach dem zweiten Konzert eine Reaktion zeigen würde, doch dieser blieb still, in Gedanken versunken neben Glauser herlaufend.
Victor hatte seinen Gefühlsausbruch bereits verdrängt; alles, was ihm unwichtig erschien – und unwichtig waren ihm seine Tränen, das Lob des Professors hingegen natürlich nicht –, geriet bei ihm innerhalb kürzester Zeit in Vergessenheit, und er war fokussiert darauf, was nun folgen würde.
Wohl hatte er die bewundernden und heimlichen Blicke der anderen Musikstudenten gespürt und wurde auch mit Lob überhäuft, fühlte aber auch Neid und Missgunst, die ihm teilweise unverhohlen entgegenschlugen. Er konnte damit umgehen – eigentlich interessierte es ihn überhaupt nicht. Er schwebte in anderen Sphären, sah das Konservatorium als lästiges Übel und fragte sich ernsthaft, ob er diese Studenten mit all ihren für ihn belanglosen Problemchen und die ganze Lernatmosphäre mit mahnenden Professoren überhaupt noch nötig hätte.
Er wollte Karriere machen, Orchester leiten, das Publikum mit Musik verzücken, im Mittelpunkt des Interesses stehen – er hatte ja bereits gezeigt, was er konnte – und hatte das Gefühl, dass es nach diesem ersten Schritt nun rasant aufwärts gehen müsste. Die »Schritt-für-Schritt«-Taktik von Paul Glauser erschien ihm nahezu lächerlich – und überhaupt: Konnte dieser Hans Heinrich Baumberger überhaupt sein riesiges Talent richtig einschätzen? Die einzige, welche erkannt zu haben schien, was er bereits geleistet hatte, war Mademoiselle Szábo gewesen, und sie hatte ihn das mit ihrer »Professor«-Anrede auch wissen lassen. Doch sie konnte ihm leider nicht helfen, den nächsten wichtigen Schritt zu planen und in Angriff zu nehmen.
»Aber noch steht ihr Dirigat im Casino völlig allein da und konnte noch nicht bestätigt werden«, holte Paul Glauser ihn bei der Einschätzung über seine Zukunft wieder in die Gegenwart zurück. »Und wie Sie ja wissen: Eine Schwalbe macht bekanntlich noch keinen Frühling.«
Und damit verabschiedeten sie sich bei der Tramstation am Bahnhof, und der Professor stieg beschwingt in den Wagen, ein wenig angeheitert von den zwei Bieren auf leeren Magen und mit großer Vorfreude auf das Mittagessen, Suure Mocke, eines seiner Leibgerichte, sollte es geben, wie ihm Nelly am Vortag versprochen hatte. Das Intermezzo mit Helene Weber schien ihm endgültig abgeschlossen, und mit dem Ölwechsler Konrad Sutter, den er mittlerweile gar nicht mehr so unsympathisch fand, hatte er ein Treffen vereinbart, an dem dieser ihm erste Skizzen zu seinem »urbanen Intermezzo« vorlegen wollte. Er freute sich darauf; der Ölwechsler hatte in der geselligen Runde sein Grundkonzept bereits erklärt, und Paul Glauser hatte gestehen müssen, dass der junge Mann doch einen Haufen Talent zu besitzen schien und dass er ihn wohl ziemlich unterschätzt hatte.
Als sollte Glausers Mahnung, die Ungeduld des jungen Steinmanns betreffend, widerlegt und der Professor eines Besseren belehrt werden, meldete sich noch am gleichen Tag der Musikkritiker Ferdinand Tanner bei Victor und bat um ein Gespräch, da er einen Artikel über den jungen Dirigenten und seinen aufsehenerregenden Auftritt geplant hatte. Tanner war besagter Feuilletonist, der die enthusiastische Besprechung im Bund geschrieben hatte und der von Victor nicht nur musikalisch überzeugt, sondern dem jungen Mann auch seines guten Aussehens wegen sehr zugetan war.
Ferdinand Tanner war eine mittelgroße, hagere und dandyhafte Erscheinung, dessen herbes und penetrant riechendes Rasierwasser auch nach seinem Abgang noch lange im Raum schweben blieb. Er trug immer feine Anzüge und ein Seidentuch um den Hals, das farblich immer auf sein Einstecktüchlein abgestimmt war. Das schwarz gefärbte Haar war akkurat in der Mitte gescheitelt und das streichholzdünne Oberlippenbärtchen sorgfältig rasiert und gepflegt.
Seinen spinnenbeinartigen, langen Finger legte er mit Nachdruck und Vorliebe gerne auf den Unterarm seines Gesprächspartners, um damit seine Reaktion auf diese unmittelbare Nähe zu prüfen. Zu Frauen war er äußerst charmant, begrüßte und verabschiedete sie altmodisch mit Handküssen und fand immer irgendein Kompliment, das er ihnen aussprechen konnte.
»Lassen Sie sich von ihm nicht blenden!«, mahnte Professor Glauser, als Victor ihm ganz aufgeregt am Telefon von Tanners Anfrage erzählte. »Er wird Ihnen Honig ums Maul streichen und Ihnen bereits eine Weltkarriere voraussagen. Zugegeben, gute Werbung kann nie schaden. Jeder Zeitungsartikel, der zu Ihren Gunsten ausfällt, kann für eine Konzertkommission das Zünglein an der Waage sein, um sich für ein Engagement auszusprechen. Die Auftritte kann Ihnen aber Tanner nicht vermitteln, da kann Ihnen nur HH helfen. Haben Sie bereits einen Termin für ein Gespräch mit ihm?«
Victor bejahte und sollte sich bereits in zwei Tagen mit Hans Heinrich Baumberger treffen, der eigens für die Verhandlungen aus Zürich anzureisen gedachte und damit die Wichtigkeit seiner Absichten noch deutlich unterstrichen hatte.
Vorerst hatte sich der angehende Dirigent jedoch mit Ferdinand Tanner am Abend für ein Gespräch in der Bellevue-Bar verabredet.
*
»Und, wie war Ihr Treffen mit dem Berner Musikpapst?«, begrüßte Paul Glauser den jungen Steinmann am nächsten Morgen.
»Tanner ist eine Ratte«, zischte Victor verächtlich. »Er sieht sich als die höchste Instanz der musikalischen Rechtsprechung von Bern, ach was sag ich, von der ganzen Schweiz.«
Was Victor seinem Professor allerdings verschwieg, war, dass der Musikkritiker ihn mit der Wahl des Treffpunktes schwer beeindruckt hatte. Staunend hatte er die Räumlichkeiten und die Einrichtungen der Bellevue-Bar bewundert, ehrfürchtig über das glänzende Leder der Sessel gestrichen und insgeheim den guten Geschmack von Ferdinand Tanner honoriert, der sich in dieser Umgebung wie zu Hause zu fühlen schien, die Kellner allesamt beim Vornamen nannte und seinem Gegenüber stilsicher einen edlen Rotwein vorschlug, als dieser ein Mineralwasser bestellen wollte.
»Wir wollen auf Ihren Erfolg doch noch anstoßen, werter Maestro«, hatte er nach der Bestellung gesäuselt, »und dazu empfinde ich ein stilles Wasser als äußerst ungeeignet.«
Victor hatte die lüsternen Blicke und den anzüglichen Tonfall schon bei der Begrüßung registriert und beschlossen, diese Zuneigung zu seinen Gunsten auszunutzen.
Er hatte sich vorgenommen, immer freundlich und höflich zu sein zu Leuten, die ihm später vielleicht einmal noch von Nutzen sein könnten – eine Eigenschaft, die er schon ziemlich früh ablegen und an seinen Manager delegieren sollte.
Die beiden Männer unterhielten sich angeregt, Victor blieb jedoch zurückhaltend, reagierte vorsichtig auf Tanners Fragen und ließ sich mit den Antworten viel Zeit – ein Umstand, der den Musikkritiker ziemlich ungeduldig machte und ihn dazu zwang, ziemlich rasch ein zweites Glas Rotwein nachzubestellen.
Victor erzählte von Zuckerfrank, Mademoiselle Szábo und Paul Glauser und nannte sie allesamt seine großen Förderer. Die Geschichte mit seiner musikalischen Mutter, die ihn mit viel Liebe in seiner Entwicklung unterstützt haben soll, konnte er zu diesem Zeitpunkt aus verständlichen Gründen noch nicht zum Besten geben, aber er war voll des Lobes für den liebevollen Aufbau, den Wilhelm Frank geleistet hatte und äußerte sich auch wohlwollend über die strenge Hand von Krisztina Szábo, die ihm zwar Kummer und Verdruss bereitet hatte, aber ohne die er niemals dort stehen würde, wo er sich jetzt befand. Doch am meisten Lob spendete er Luc Balmer, der sich trotz seines dicht gedrängten Terminkalenders viel Zeit für ihn genommen habe und ihm immer mit Rat und Tat zur Seite gestanden sei. Außerdem wäre es ausschließlich seiner Güte zu verdanken, dass diese Auftritte im Casino überhaupt zustande gekommen seien.
Ferdinand Tanner bedankte sich bei Victor für das ausführliche Gespräch, nahm mit Bedauern zur Kenntnis, dass er bei ihm keine gleichgeschlechtlichen Neigungen ausmachen konnte, und versprach, sich zu Hause sofort sehr lustvoll an das Verfassen des Artikels zu machen, wie er sich in seiner oft etwas gestelzten Sprache ausdrückte.
All das verschwieg Victor allerdings beim Gespräch mit Paul Glauser und zeigte sich stattdessen von seiner überheblichen Seite:
»Sagen Sie mir ehrlich, Professor, sollte man als Musikkritiker nicht Kenntnisse der Partitur haben, wenn man in der Öffentlichkeit ein Konzert bespricht?« Da Glauser nur erstaunt die Augenbrauen hob und eine Antwort schuldig blieb, fuhr Victor fort: »Meines Erachtens hat er nur profane Kenntnisse davon. Ich bin mir nicht sicher, welchen Anteil die Musik und welchen Anteil die Persönlichkeit des Künstlers in seinem Urteil jeweils hat. Auf jeden Fall ist er in sämtliche Fallen hineingetappt, die ich ihm gestellt habe, um zu testen, wie fundiert seine Partiturkenntnisse wirklich sind. Aber zugegeben: Es waren sehr detaillierte Spitzfindigkeiten, die ich in unserem Gespräch habe einfließen lassen, und er hat mir mit seinen Antworten die Gewissheit gegeben, dass er nicht von allem so viel Ahnung hat, wie er zu wissen vorgibt.«
»Sie haben Ferdinand Tanner getestet?«, entfuhr es Professor Glauser.
»Warum nicht?«, grinste Victor nun spitzbübisch. »Aber Sie hatten mit Ihrer Warnung völlig Recht und eines muss man ihm lassen: Er weiß, wie er einem den Schmus bringen kann, das hat er gestern sehr eindrücklich bewiesen; insbesondere für meine Schlagtechnik war er voll des Lobes. Am Ende wollte er mich noch zu einem kleinen Umtrunk zu sich nach Hause einladen. Doch da musste ich leider ablehnen.«
»Hoffentlich nimmt er Ihnen das nicht übel.«
»Ach was«, winkte Victor ab, »der hing mir richtiggehend an den Lippen. Ich bin überzeugt, dass ich von ihm gute Kritiken erwarten kann – denn schreiben, das kann er, und ich bin sicher, dass er einen sehr wohlwollenden Artikel über mich verfassen wird.«
*
Charlotte Arnold hatte schlimme Tage hinter sich, die sie weinend in ihrem Zimmer im Hause ihrer Eltern im Breitenrain verbracht hatte, wenn sie nicht gerade den Unterricht am Seminar besuchte oder auf der Suche nach Victor Steinmann war.
Sie war sich inzwischen sicher, einen riesigen Fehler begangen zu haben – schon in der Nacht, als sie ihn abrupt weggeschickt hatte, waren ihr die ersten Zweifel gekommen, und am Morgen danach war sie am Boden zerstört gewesen – und hatte beschlossen, sich bei Victor dafür zu entschuldigen, um wieder an die wundervolle gemeinsame Zeit anknüpfen zu können.
Weshalb hatte er auch nur so ungestüm sein müssen! Oder war es etwa gar ihr Fehler gewesen? Zugegeben, sie war an diesem Abend ziemlich beschwingt gewesen, der gute Wein hatte das Seinige dazu beigetragen. Hatte sie ihm etwa Signale ausgesendet, die er falsch aufgefasst und gedeutet hatte? War es etwa gar ihre Schuld gewesen, dass der Abend so katastrophal geendet hatte?
Die Fragen lasteten schwer auf ihr und raubten ihr manchmal fast die Luft zum Atmen. Wenn sie sich grübelnd ins Bett legte, hatte sie das Gefühl, dass ein schwerer Stein auf ihrer Brust lag, dessen schicksalhaftes Gewicht sie in die weichen Daunen drückte und ihr sämtliche Kraft zum Handeln nahm.
Manchmal schienen sogar ihre Gedanken blockiert, und sie blieb in ihren Schuldgefühlen stecken und schämte sich so sehr, dass sich augenblicklich die Augen wieder mit Tränen füllten und sie sich umdrehte und mit erstickter Stimme ins Kopfkissen hinein weinte.
Den Eltern und ihrem Bruder gegenüber versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen, was sie enorm viel Energie kostete und sie zusätzlich anstrengte. Die Bemerkungen, dass man den jungen Maestro schon lange nicht mehr gesehen habe, parierte sie mit der Erklärung, dass Victor im Moment sehr viel zu tun habe und sie sich aber fast jeden Tag, wenn auch nur ganz kurz, in der Stadt treffen würden.
Ihre beste Freundin Sophie war die einzige, die sie in ihre Misere eingeweiht und ihr den unglückseligen Verlauf des Abends haarklein geschildert hatte. Diese gab aber zu verstehen, dass sie Charlottes Reaktion auf Victors Annäherungsversuch durchaus angemessen fände und riet ihr, den jungen Steinmann zu vergessen, denn sein Handeln zeige unmissverständlich, dass es ihm doch nur um das Eine gehe.
Charlotte habe etwas Besseres verdient, so Sophie, und da sei doch noch dieser anständige Medizinstudent, der ein Auge auf sie geworfen habe und den sie ihr gerne vorstellen würde.
Wenn Sophie so sprach, plärrte Charlotte aus vollem Hals, und es brauchte viele aufmunternde Worte und Streicheleien durchs Haar, damit sie wieder einigermaßen ruhig gestellt werden konnte. Natürlich genoss sie den Zuspruch und die tröstenden Worte, andererseits wurde ihr aber auch klar, dass sie auf die Hilfe ihrer Freundin nicht zählen konnte und dass sie sich selber einen Weg überlegen musste, wie sie es schaffen würde, Victor wieder für sich zu gewinnen.
Doch schon nur die Kontaktaufnahme gestaltete sich äußerst schwierig, um nicht zu sagen, erfolgslos. Sie telefonierte ins Elternhaus in Köniz, wo sich Mama Gertrud riesig über den Anruf freute. Sie sei doch wirklich ein wunderschönes und liebes Mädchen, ließ sie verlauten und es freue sie außerordentlich, dass ihr Sohn eine so feine Freundin gefunden habe – womit Charlottes Frage geklärt war, ob Victor seinen Eltern von der Trennung erzählt haben könnte, womit sie allerdings nicht wirklich gerechnet hatte. Nein, der Victor komme fast nur noch zum Schlafen nach Hause und, ja, selbstverständlich werde sie ihm von Charlottes Telefongespräch erzählen. Er werde sich ganz bestimmt umgehend bei ihr melden, und es sei so schön, wieder einmal mit ihr gesprochen zu haben, und sie freute sich sehr, wenn Charlotte sie einmal in Köniz besuchen kommen würde.
Selbstverständlich wartete die angehende Lehrerin vergebens auf Victors Anruf, und so beschloss sie, ihm vor dem Konservatorium aufzulauern. Doch tatsächlich hatte sie keine Ahnung, wann genau sich Victor dort aufhielt, und so begab sie sich Tag für Tag an die Kramgasse, zu allen möglichen Zeiten, sei es am Morgen vor ihrem Schulbeginn, über den Mittag oder gegen den Abend, wenn sie ihren Unterricht beendet hatte. Dann wartete sie meistens mehr als eine Stunde im Laubengang, hoffte, dass sich die Türe öffnen und er heraustreten würde und fragte die Studenten, welche das Konsi verließen, nach Victor Steinmann.
Sie lief durch Berns Altstadt und warf einen Blick in die Lokale, die sie mit ihm gemeinsam besucht hatte und besuchte die Orte, von denen sie wusste, dass er sich gerne dort aufhielt.
Nichts. Victor Steinmann war wie vom Erdboden verschluckt.
Sie wusste nicht mehr, was sie machen sollte; das Warten vor dem Konsi wurde ihr langsam zu blöd, und in ihrer Verzweiflung entschied sie sich, in Bruno Steinmanns Praxis vorbeizuschauen. Mama Gertrud, die an diesem Tag die Empfangstheke betreute, war hoch erfreut, ihre vermeintlich zukünftige Schwiegertochter zu sehen, und war überaus betroffen, als sie erfuhr, dass Victor sich nicht bei ihr gemeldet habe.
»Ich habe ihm von deinem Anruf erzählt, mein Kind, und ich hatte den Eindruck, dass er sich darüber freute.« – Victors Schauspielkunst hatte schon in jungen Jahren ein ziemlich hohes Niveau erreicht. – »Auf jeden Fall versprach er, dich am nächsten Tag anzurufen. Aber ich habe natürlich nicht nachgefragt, ob er es auch getan hat.«
Als Charlotte ihr berichtete, dass Victor und sie momentan ein paar Probleme hätten, die sie gerne mit ihm klären würde – natürlich nannte sie keine Details –, schlug Gertrud die Hände über dem Kopf zusammen, sodass selbst der Berner Sennenhund, der neben ihr lag, besorgt zu ihr aufblickte.
»Jesses Maria! Wie furchtbar! Du sorgst dich und bemühst dich, dass alles wieder gut kommt, und unser lieber Herr Sohn bleibt einfach unerreichbar und zeigt kein bisschen Anstrengung zur Versöhnung. Gut, dass du zu mir gekommen bist, mein liebes Kind. Ich schlage vor, dass du heute Abend zu uns zum Essen kommst. Es gibt nämlich Fisch, den Victor sehr mag und den er sich bestimmt nicht entgehen lässt. Dann können wir gemeinsam zu Abend essen, Bruno wird seine Praxis nämlich heute auch pünktlich schließen können und hat keine Hausbesuche mehr auf dem Programm. Und dann lassen wir euch zwei zum Kaffee alleine, oder noch besser: Ihr macht einen schönen Spaziergang und klärt eure Probleme. Das wäre doch gelacht, wenn sich keine Lösung finden würde.«
Soweit Gertrud Steinmanns gut gemeinter Plan, und es wäre spannend gewesen, wie Victor reagiert hätte, wenn er am gedeckten Tisch in seinem Elternhaus die Frau vorgefunden hätte, die ihn vor Wochenfrist noch lautstark beschimpft und vor die Türe gestellt hatte.
Leider beging Charlotte Arnold einen entscheidenden Fehler, und zwar beschloss sie, an diesem herrlichen Frühlingsabend den Weg vom Breitenrain nach Köniz mit dem Fahrrad zurückzulegen. Und dieses Gefährt stand an den Gartenzaun gelehnt, als sich Victor Steinmann vor dem Haus seiner Eltern einfand, voller Vorfreude auf die Forelle blau, die seine Mutter hervorragend zu kochen wusste und die sie in zerlassener Butter mit Salzkartoffeln servierte.
Erschrocken wich er zurück, als er das Zweirad entdeckte, und versteckte sich geistesgegenwärtig hinter dem nächstgelegenen Baum, wo er zuerst einmal tief durchatmete und von wo aus er das Fahrrad einer genaueren Betrachtung unterzog.
Er hatte letzten Herbst mit Charlotte einmal einen Fahrradausflug ins Gürbetal gemacht. Sie hatte einen Picknickkorb zusammengestellt, und gemeinsam fanden sie einen romantischen Platz am Waldrand mit Blick auf die Aare, wo sie sich in den Armen lagen und sich gegenseitig die Köstlichkeiten, die sie eingepackt hatte, in den Mund schoben. Es war das nächste Treffen gewesen, nachdem sie sich vor dem Berner Münster geküsst hatten und dementsprechend euphorisch waren sie beide gewesen und hatten nicht voneinander lassen können – alles natürlich im korrekten Rahmen, wie es sich schließlich gehörte!
Victor knurrte verärgert, als sich diese Bilder mit seiner Erinnerung an die erzürnte Charlotte vermischten, die ihn vor einer Woche abgekanzelt hatte. Er war sich nicht hundertprozentig sicher, dass es sich beim Fahrrad, das dort drüben stand, tatsächlich um dasjenige handelte, mit welchem sie den damaligen Ausflug bestritten hatte. Aber er beschloss, kein Risiko einzugehen, drehte um und fuhr mit dem Bus in die Stadt zurück.
Er hatte beschlossen, dass er sich nach dieser unangenehmen Überraschung, die dazu geführt hatte, dass er auf seine geliebte Forelle blau in zerlassener Butter verzichten musste, eine nette Abwechslung gönnen würde.
Er dachte natürlich an die Wilde Lena, die ihm gestern in der Bierquelle aufreizend tief in die Augen geblickt und eindeutige Signale ausgesendet hatte. Seine Aufmerksamkeit hatte zwar den Berichten von Paul Glauser und Luc Balmer über den Musikagenten Hans Heinrich Baumberger gegolten, den er morgen ja treffen sollte. Doch er hatte Helene Webers Blicke eindeutig gespürt und befand jetzt, da er sich im Bus Richtung Stadt befand, dass sie sich eine wilde und aufregende Nacht verdient hätten.
Er spielte in seinen Gedanken Filmregisseur und stellte sich in schnellen Schnitten abwechslungsweise die Szene bei sich zu Hause vor und das, was ihn bei der Wilden Lena erwarten würde. Die Bilder könnten nicht unterschiedlicher sein. Hier der gedeckte Tisch, an dem seine Eltern und Charlotte saßen – sie natürlich mit hochgesteckten Haaren und in einem zugeknöpften Oberteil –, immer wieder auf die Uhr schauten, sich fragten, wo er denn wohl bleiben könnte und Charlotte vertrösteten, er werde bestimmt gleich kommen. Und auf der anderen Seite die offenen roten Haare der Wilden Lena, die in schwarzer Seidenunterwäsche zwischen seinen gespreizten Beinen lag, das schmale Hinterteil in die Höhe gestreckt, die üppigen Brüste leicht hin und her schwingend und mit einer aufreizend langsamen Bewegung seinen Penis in ihren Mund gleiten ließ.
Victor schloss die Augen und griff sich in den Schritt. Erschrocken setzte er sich sofort wieder kerzengerade auf und stellte erleichtert fest, dass die wenigen Fahrgäste im Bus alle mit sich selbst beschäftigt waren, zum Fenster hinausblickten, Zeitung lasen und ihn keines Blickes würdigten.
Erleichtert sank er in seine Tagträume zurück und je schneller sich die Bilder von der gierigen Helene und der wartenden Charlotte vor seinem geistigen Auge abwechselten, desto erregter wurde er.
Und so klingelte er in freudiger Erwartung an Helene Webers Türe und war hocherfreut, dass sie den gleichen Bademantel trug, in dem sie ihm bereits vor einer Woche Einlass gewährt hatte. Sie blieb zwischen Türe und Rahmen stehen und zog den Stoff etwas enger zusammen.
»Mozart, was für eine Überraschung! Wollen wir nochmals auf deine zukünftige Karriere anstoßen?« Als sie die Lust in seinen Augen sah, wich sie zurück und wurde etwas verlegen. »Allerdings – ich bin nicht alleine.«
Und erst jetzt sah er im Hintergrund die hagere Gestalt, die nur in Unterhosen bekleidet auf Helenes Bett lag – man konnte von der Türe direkt auf ihre Schlafstätte blicken – und ihm auf eine affektierte Art und Weise zuwinkte. Er hatte das Gesicht schon einmal gesehen, konnte in seiner Aufregung und Enttäuschung allerdings weder einen Namen zuordnen noch sich an den Ort erinnern, an dem sie sich schon begegnet waren. Professor Glauser hätte mit schnellem Blick und sicherem Erinnerungsvermögen den Ölwechsler Konrad Sutter erkannt.
Aber Victor Steinmann war das eigentlich auch egal. Ohne ein Wort zu verlieren und mit Tränen der Wut und Enttäuschung in den Augen, machte er rechtsum kehrt und ließ die Wilde Lena unter der Tür stehend zurück.
*
Das Treffen mit Hans Heinrich Baumberger, der am nächsten Tag aus Zürich anreiste, sollte in einer weniger noblen Umgebung stattfinden, als diejenige, die Ferdinand Tanner ausgewählt hatte, nämlich im Bahnhofbüffet.
Der junge Steinmann hatte seinen Platz zwei Stunden zu früh eingenommen, schon seit acht Uhr früh saß er bereits im Lokal, hatte Kaffee bestellt und grübelte vor sich hin.
Er war gestern nach dem unerfreulichen Erlebnis bei der Wilden Lena – oder besser: vor ihrer Tür – ziellos durch die Altstadt gestreift und keinen Plan gehabt, was er jetzt tun sollte und wo er hingehen könnte. Mit dem Einbruch der Dunkelheit war es zudem kühler geworden, und er trat irgendwo zwischen dem Kornhausplatz und dem Rathaus in eine düstere Spelunke und beschloss, sich zu betrinken, wozu er ein großes Bier bestellte – wohl auch, um einem gewissen Hang zum Masochismus zu frönen, da er den Gerstensaft ja eigentlich überhaupt nicht ausstehen konnte.
Er saß allein an einem kleinen Tisch, das laute Stimmengewirr, das den Raum erfüllte, dröhnte in seinen Ohren, niemand hatte von dem einsamen Neuankömmling Notiz genommen. Nach den ersten paar großen und hastigen Schlucken, welche seinen Würgereiz stark anregten, verfluchte er seine Idee, und während er teilnahmslos auf die noch halb volle Flasche starrte, nahm langsam die Vernunft in ihm wieder Überhand an. Sie mahnte ihn an den morgigen Tag und an dessen Wichtigkeit.
Er sah ein, dass es fatal wäre, dem Zürcher Musikagenten mit einem schweren Kopf gegenüberzutreten. Die ganze Vorbereitung, die er in diese Begegnung investiert hatte, wegen einer Frau über den Haufen werfen – unglaublich, wie naiv er sich doch verhalten hatte. Er hatte sich von seinen Gefühlen leiten lassen, etwas, was er sonst eigentlich strikt ablehnte und entschieden auf sein Kalkül vertraute.
Mit einem verächtlichen Grunzen stand er ruckartig auf, sodass der Stuhl beinahe umkippte, klaubte ein paar Münzen aus seiner Hosentasche und warf sie auf den Tisch.
Nichts wie weg hier, war seine Devise, und er war froh, als er draußen an der frischen Luft stand und mit einem tiefen Atemzug seine Lungen mit Sauerstoff füllte. Er lehnte sich an ein Geländer, schloss die Augen und versuchte, sich auf das Wesentliche zu fokussieren, und das hatte nicht im Entferntesten etwas mit Charlotte oder Helene zu tun, sondern beinhaltete die Wegbereitung seiner Karriere.
Wut stieg in ihm auf, und er biss sich so fest auf die Lippen, dass er den metallischen Geschmack von Blut in seinem Mund spüren konnte. Eigentlich hätte er sich über sich selber ärgern sollen, doch es war natürlich einfacher, den Frauen die Schuld daran zu geben, dass er sich beinahe von ihnen hätte verleiten lassen, seine Karriere aufs Spiel zu setzen.
Er trat auf die Gasse und schritt bedächtig Richtung Kornhausplatz, immer noch unschlüssig, wo er überhaupt hingehen sollte. Nach Hause zu gehen empfand er als nicht besonders klug, obschon es die verlockendste Variante gewesen wäre, die Nacht vor dem wichtigen Gespräch im eigenen gemütlichen Bett zu verbringen.
Aber es bestünde ja die Möglichkeit, dass Charlotte so lange ausgeharrt hätte und er ihr in die Arme laufen würde. Und wenn sie schon gegangen wäre, könnte die Gefahr bestehen, dass seine Eltern ihn zur Rede stellten. Überhaupt – seit wann steckten die mit Charlotte unter einer Decke? Er witterte eine Verschwörung und beschloss, nicht nach Köniz zurückzugehen, sondern hier in der Stadt zu übernachten. Er kannte einen Cellostudenten am Konsi, mit dem er sich recht gut verstand und ab und zu Partituren austauschte. Dieser war bekannt dafür, dass er das Sofa in seiner Bude immer für eine Übernachtungsmöglichkeit zur Verfügung stellte.
Als Victor am nächsten Morgen allerdings aufwachte, seinen verspannten Nacken spürte und ihm alles weh tat, war er sich nicht sicher, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte und wagte gar nicht, in den Spiegel zu schauen.
Der angehende Cellist stellte ihm das Bad mit sämtlichen Utensilien zur Verfügung, und als Victor sich ausgiebig gewaschen und rasiert hatte, stellte sich bei ihm wieder der altbekannte Tatendrang ein. Er verließ fröhlich pfeifend die Studentenbude, nicht ohne seinem Retter zu versprechen, ihn zu einem festlichen Abendessen einzuladen.
Nun saß er also im Bahnhofbüffet vor Kaffee und Brötchen und hatte aus seiner Ledermappe den Notizblock genommen, auf dem er in den vergangenen zwei Tagen seine Gedanken gesammelt und die daraus resultierenden Fragen notiert hatte, die er Baumberger stellen wollte. Er überflog die Zeilen aufmerksam, ergänzte sie hier und da und war schließlich zufrieden mit dem Ergebnis.
Als er auf die Uhr blickte, stellte er fest, dass er immer noch genügend Zeit zur Verfügung hatte, und so riss er ein Blatt aus dem Notizblock und schrieb auf die erste Zeile »Liebe Helene«.
Es war eine spontane Eingebung, einen Brief an die Wilde Lena zu schreiben, und Victor füllte die Zeilen mit Leichtigkeit. Er schrieb mit seiner schwungvollen Schrift von ihrer gemeinsamen Liebesnacht, pries ihre attraktive Erscheinung und berichtete, was sich gestern abgespielt hatte und mit welchen Hoffnungen und Lüsten er bei ihr an der Tür geklingelt hatte. Dann überkam ihn aber wieder der Zorn, den er am Tag zuvor bereits gespürt hatte, und der Ton wurde jammernd, anklagend, Anspruch erhebend und nach Mitleid heischend.
Victor merkte, dass er sich in etwas hineinsteigerte, und als er den Brief noch einmal durchlas, schüttelte er verärgert den Kopf und zerknüllte das Papier.
Die Situation überforderte ihn, und er nahm sich ein neues Blatt, auf das er einen großen Violinschlüssel zeichnete und gedankenverloren an ihm herumkritzelte. Er musste einsehen, dass er für die Wilde Lena doch mehr empfand, als er sich eingestehen wollte, immerhin war sie die erste Frau gewesen, mit der er ins Bett gestiegen war. Aber sie hatte immer mit offenen Karten gespielt und ihn nie in dem Glauben gelassen, dass er der einzige Mann wäre, mit dem sie Intimitäten austauschte; er hatte es einfach nicht wahrhaben wollen.
Ein weiterer Gedanke schob sich in seine Überlegungen: Sollte er wirklich auf den Sex mit der Wilden Lena verzichten, bloß weil ihm Gefühle im Weg standen und er vielleicht gerne etwas mehr von dieser Frau möchte? Er begann, neben dem Notenschlüssel einen weiblichen Körper mit großen Brüsten zu skizzieren, wie er sie von der Wilden Lena in Erinnerung hatte.
Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er nicht bemerkte, wie der Ober an seinen Tisch trat und ihn fragte, ob er noch etwas trinken wolle. Verlegen legte er seine Hände aufs Blatt und versuchte, so viel wie möglich von seiner Skizze damit abzudecken. Er bestellte sich einen zweiten Kaffee, da er merkte, dass die Energie, mit der er heute Morgen den Weg zum Bahnhof in Angriff genommen hatte, etwas verflogen war und einer bleiernen Müdigkeit Platz gemacht hatte.
Dies rief auch wieder seinen steifen Nacken in Erinnerung und langsam spürte er den Schmerz in seinen Kopf wandern, wo er sich unangenehm ausbreitete. Er bat den Kellner um ein Aspirin, weil er das Übel schon in seinem Ansatz ersticken wollte. Seine Konzentration sollte sich voll auf das bevorstehende Gespräch richten und nicht durch eine Beschwerde abgelenkt werden.
Er spülte die Tablette mit einem großen Schluck Wasser hinunter und massierte sich anschließend die Schläfen. Dabei kehrten seine Gedanken zur Wilden Lena zurück. Er beschloss, seine Gefühle für sie augenblicklich zu unterdrücken und Helene um Verzeihung für den unangenehmen Zwischenfall gestern Abend zu bitten, um weiterhin mit ihr schlafen zu können. Denn dass er das nach wie vor tun wollte, war ihm völlig klar.
Er ging sogar noch einen Schritt weiter und nahm sich vor, den freizügigen Umgang mit der Sexualität, wie er ihm von der Wilden Lena vorgelebt wurde, zu übernehmen und seinerseits seine Träume und die damit verbundene Leidenschaft auszuleben, die er bis anhin in aller Anständigkeit unterdrückt hatte. Wenn sich während eines Annäherungsversuchs bei einer Frau nach seiner Einschätzung die Möglichkeit auf ein erotisches Stelldichein ergeben sollte, würde er sich in Zukunft nicht mehr zurückhalten und sie mit seinem Charme umgarnen, um sie ins Bett zu bekommen.
Er betrachtete den üppigen Frauenkörper auf dem Notizblatt und fand, dass seine Zeichnung gar nichts so schlecht ausgefallen war. Dann schrieb er das Wort Liebe darunter und versank wieder in Gedanken, währenddem er das Blatt mit Fragezeichen in sämtlichen Größen füllte. Plötzlich hielt er inne, nickte zufrieden und ergänzte den Begriff mit Wörtern links und rechts davon zu einem Satz. Er faltete das Blatt einmal, so dass nur noch der Notenschlüssel und der hinzugefügte Satz sichtbar waren. In sauberen Druckbuchstaben stand da geschrieben:
Meine Liebe gehört allein der Musik.
*
Hans Heinrich Baumberger war ein kleiner, untersetzter Mann mit einem mächtigen Vollbart, dem ein bisschen mehr Pflege gut angestanden wäre – ähnlich wie bei Professor Glauser bevor ihn Helene Weber im Kino befriedigt hatte. Seine roten Backen strahlten und vermittelten ein Gefühl von Gemütlichkeit und Vertrauen. Sobald er allerdings den Mund öffnete, war es vorbei mit der Ruhe, und die Worte prasselten stakkatoartig, wie Hagelkörner, in seinem nasalen Zürcher Dialekt auf einen nieder. Selten hatte Victor einen Menschen gesehen, bei dem Aussehen und Verhalten so inkompatibel zu sein schienen wie bei seinem Gegenüber.
Man trank keinen Wein, wie zwei Tage zuvor mit Ferdinand Tanner in der Bellevue-Bar, und es gab keine gemütlichen Polstersessel, in die man versinken konnte; Baumberger orderte einen Krug mit Wasser und entnahm unverzüglich Schreibunterlagen aus seinem Aktenkoffer.
»Ich bin der Meinung, dass wir sofort mit Vermittlungen beginnen müssen«, erklärte Baumberger, als Victor ihm berichtet hatte, dass der Musikkritiker des Bunds daran war, einen Artikel über ihn zu verfassen, der in den nächsten Tagen publiziert werden sollte. »Ich kenne den Tanner gut und esse außerdem wöchentlich mit dem Redaktor des Feuilletons der Neuen Zürcher Zeitung. Mal schauen, da müsste etwas zu machen sein. Ich werde mich darum kümmern, dass umgehend ein Zürcher Journalisten bei Ihnen vorbeikommt. Wir müssen so rasch wie möglich dafür sorgen, dass Sie auch außerhalb von Bern die nötige Aufmerksamkeit erlangen.«
Victor hatte vor sich auf dem Tisch den ausführlichen Fragekatalog liegen, den er in den letzten Tagen akribisch vorbereitet hatte und mit dem er Baumberger konfrontieren wollte – die Zeichnungen, die er vorher noch angefertigt hatte, hatte er vor der Begrüßung mit dem Musikagenten in seine Ledermappe verschwinden lassen.
Als dieser den vollgeschriebenen Block erblickte, griff er nach ihm und vertiefte sich in die handgeschriebenen Zeilen. Von Zeit zu Zeit war ein leicht verächtliches Zucken in seinem Mundwinkel festzustellen, und er meinte, nachdem er den Block umgedreht neben sich auf den Tisch gelegt hatte:
»Sehen Sie, Herr Steinmann. Ich sage Ihnen geradeheraus, wie es ist: Sie sind momentan nicht in der Position, um Forderungen zu stellen. Das wird sich vielleicht im Laufe der Jahre noch ändern. Wir wollen jetzt zunächst versuchen, Ihre Karriere zu lancieren. Ich kann Ihnen nicht bereits morgen den nächsten Auftritt anbieten. Sie wissen bestimmt, dass die Konzerthäuser ihre Programme ziemlich langfristig planen. Vielleicht kann ich irgendwo in der Schweiz in diesem Jahr noch ein Sonderkonzert mit Ihnen unterbringen, aber ansonsten werden Sie wohl etwa in ein oder zwei Jahren beginnen können, regelmäßig zu dirigieren.«
Paul Glauser klopfte Victor auf die Schulter, als sie am nächsten Tag gemeinsam mit Luc Balmer in der Bierquelle das Gespräch mit Hans Heinrich Baumberger Revue passieren ließen:
»Schauen Sie mal, das ist ja eigentlich ideal. Sie müssen ja ohnehin noch Ihr Studium abschließen und haben außerdem noch genug Zeit, um weiterhin Unterricht bei Luc Balmer zu nehmen und ihm über die Schulter zu blicken. Das ist doch eine ideale Vorbereitungszeit.«
Balmer war glücklich, dass er wieder gesund war – das spontane Bier hatte Wunder gewirkt, und seine Gedanken kreisten um die nächste Orchesterprobe, doch als er seinen Namen hörte, horchte er auf und nickte eifrig:
»Gleich morgen, Victor. Schumanns Zweite! Kommen Sie gut vorbereitet!«
Obschon das alles sehr vernünftig tönte, war Victor überhaupt nicht zufrieden. Er hatte das Baumberger gegenüber beim Gespräch im Bahnhofsbüffet auch schon geäußert und ihm selbstbewusst erklärt:
»Mein Ziel ist der Musikvereinssaal in Wien.«
Baumberger war unbeeindruckt geblieben, hatte ihn mit seinen listigen Augen gemustert und sich mit der Hand über den dichten grauen Bart gestrichen.
»Man soll sich große Ziele setzen, Herr Steinmann. Ich merke, dass Sie sehr hohe Ansprüche an sich selbst und somit auch an mich stellen. Doch klammern wir dieses Fernziel doch einmal aus und lassen Sie uns gemeinsam überlegen, welches die nächsten Schritten sind, die wir in Angriff nehmen wollen.« Er schob den umgedrehten Notizblock mit den Fragen zu Victor hinüber und holte ein Taschentuch hervor, um damit seine goldumrandete Brille zu putzen. »Sehen Sie, ich bin hier nach Bern gekommen, um Sie erst einmal kennenzulernen. Die Kritik im Bund von Ferdinand Tanner hat mich aufhorchen lassen, und außerdem kenne ich ein paar Leute persönlich, welche Ihr Konzert vor Ort miterlebt haben. Sehr zuverlässige Leute, auf deren Urteil ich mich verlassen kann.« Er hauchte an die Brillengläser und putzte seelenruhig weiter. »Ich sehe in Ihnen einen begabten, dynamischen und vor Ungeduld strotzenden jungen Musiker. Wie bereits erwähnt bin ich gerne direkt und ohne Umschweife, Herr Steinmann. Deshalb sage ich Ihnen deutlich: Üben Sie sich in Geduld, die brauchen Sie auf Ihrem Weg, wenn Sie Karriere machen wollen. Und Sie brauchen mich. Ohne Agenten kommen Sie nicht weiter. Also bitte ich Sie inständig, uns – das heißt meiner Agentur und mir – zu vertrauen. Wir kennen die Regeln in diesem Geschäft und haben den Eindruck, dass Sie es wert sind, wenn wir in Sie investieren. Konzentrieren Sie sich auf die Musik, nützen Sie die verbleibende Zeit sinnvoll, studieren Sie Partituren, lassen Sie sich von Ihren Lehrern und Mentoren beraten. Setzen Sie alles daran, um sich jeden Tag aufs Neue herauszufordern und zu verbessern. Aber alles andere«, und damit setzte er seine Brille wieder auf die Nase und blickte Victor fest in die Augen, »alles andere überlassen Sie bitte uns. Überlegen Sie sich das gut, sprechen Sie sich mit ihrer Familie ab, diskutieren Sie meinen Vorschlag mit ihren Vertrauten und melden Sie sich dann wieder bei mir.«
Er verstaute seine Schreibunterlagen im Aktenkoffer und ließ die Schlösser geräuschvoll zuschnappen. Die Unterredung hatte keine halbe Stunde gedauert. Als er Victor die Hand zum Abschied schüttelte und dessen verblüfftes und fragendes Gesicht bemerkte, lächelte er mild und sagte, bevor er sich umdrehte und das Lokal verließ: »Verstehen Sie mich richtig, Herr Steinmann. Ich bin absolut nicht enttäuscht von unserer Begegnung. Sie hat mir die Vorstellungen, die ich mir von Ihnen gemacht habe, vollauf bestätigt. Aber nun ist der Ball bei Ihnen. Ich kann Sie zu nichts zwingen. Genießen Sie den schönen Frühlingstag. Ich freue mich, so bald wie möglich von Ihnen zu hören.«
»Aber das ist doch toll«, ermunterte Professor Glauser seinen Schützling am Tag darauf in der Bierquelle, und Luc Balmer nickte eifrig. »Werden Sie unterschreiben?«
»Ich will das Ganze noch in aller Ruhe mit meinem Vater besprechen«, antwortete Victor abwartend. »Immerhin werde ich somit ja vorläufig noch auf die finanzielle Unterstützung meiner Eltern angewiesen sein.«
»Das erachte ich als äußerst sinnvoll«, meinte Glauser. »So wie ich Ihren Vater kennengelernt habe, denke ich aber nicht, dass er Ihnen Steine in den Weg legen wird.«
»Er wird froh sein, wenn es keine Probleme gibt«, antwortete Victor mit einer Spur Bitterkeit in seiner Stimme, die den Professor aufhorchen ließ. »Es soll möglichst kein Aufsehen erregt werden, alles soll seinen gewohnten Weg gehen, und er will keine Umstände mit seinem Sohn haben.«
»Denken Sie wirklich so über Ihren Vater? Er hat Sie doch immerhin auf Ihrem ganzen bisherigen Weg unterstützt und Sie doch auch ermuntert, Ihre große Leidenschaft ausleben zu können.«
»Meine Eltern wollten ein Kind, weil es zu einer perfekten Familie dazugehört. Als es dann da war, waren sie hauptsächlich besorgt darum, dass das Kind in geordneten Bahnen läuft und keinen großen zusätzlichen Aufwand verursacht. Am liebsten war es ihnen, wenn ich mich still zu beschäftigen wusste und ihnen keinen Ärger bereitet habe.«
Victor hatte sich so in Rage geredet, dass die Worte unreflektiert aus ihm herausgesprudelt waren. Als ihm bewusst wurde, was er da gesagt hatte, hätte er die Worte am liebsten wieder zurückgenommen. Er wusste nicht, wie es ihm möglich gewesen war, solche Anschuldigungen quasi aus dem Nichts vorzubringen, die er in seinem Kopf in dieser Form noch gar nie sorgfältig formuliert, strukturiert und zu Ende gedacht hatte.
Die nachfolgende Stille war ihm zutiefst peinlich, und er senkte beschämt seinen Kopf.
Paul Glauser schwieg betroffen und entschied, nachdem er Luc Balmer einen vielsagenden Blick zugeworfen hatte, das Thema zu wechseln:
»Was proben Sie morgen auch schon wieder, Luc? Die zweite Symphonie von Robert Schumann? Schwieriges Werk, aber faszinierend, wie im langsamen Satz der Wahnsinn Gestalt annimmt ...«
*
Bruno Steinmann saß am Esstisch seines Wohnzimmers und hatte einen anstrengenden Tag in der Praxis mit drei anschließenden Hausbesuchen hinter sich. Er versuchte, sich zu entspannen, die Pendenzen, die er noch zu erledigen hatte, auszublenden und sich seinem Familienleben zu widmen. Er wartete auf seinen einzigen Sohn, dem er versprochen hatte, sich nach der Arbeit Zeit zu nehmen, um über dessen Zukunft zu diskutieren.
Der Abend zuvor war ziemlich turbulent verlaufen. Er war nach Hause gekommen und hatte die vorherrschende aufgelöste Atmosphäre sofort wahrgenommen. Sein Sohn war ihn Hochstimmung gewesen und wollte ihm sofort vom Gespräch mit dem Musikagenten aus Zürich berichten, während seine Frau ihn drängte, doch auch einmal ein Machtwort zu sprechen, in Anbetracht dessen, dass ihr Sohn am Abend zuvor einfach nicht zu Hause erschienen war und dabei nicht zuletzt das liebe Mädchen Charlotte in ratlosen Zustand versetzt hatte.
So hatte er zunächst einmal dem Drängen seiner Frau nachgegeben und Victor ins Gewissen geredet, was er sich eigentlich mit seinem Verhalten gedacht habe und dass seine Mutter durch sein nächtliches Fernbleiben schon das Schlimmste befürchtet habe.
Victor hatte die Schelte über sich ergehen lassen, sich einsichtig und zerknirscht gezeigt, bloß allerdings, um möglichst rasch das Thema wieder auf Hans Heinrich Baumberger lenken zu können. Bruno hatte abgewinkt und gemeint, dass sein Sohn auch einmal spüren müsse, wie sich das anfühle, wenn Prioritäten nicht von beiden Seiten als gleich wichtig eingestuft würden.
Er hatte ihm in Aussicht gestellt, sich am kommenden Abend Zeit für ihn zu nehmen und betont, dass er die Zeit bis dahin zum Nachdenken nützen solle und dass er von Victor in Zukunft das vernünftige Verhalten von ihm erwarten würde, das sich seines Alters auch zieme.
So saß er nun am Tisch, Gertrud erledigte die Küchenarbeiten, und im Musikzimmer hörte er seinen Sohn Klavier spielen. Er seufzte und stützte den Kopf in seine Hände. Victor war während des Abendessens völlig aufgedreht gewesen und hatte seine Mahlzeit so rasch als möglich beenden wollen.
Bruno hatte ihn allerdings ermahnt, Ruhe zu bewahren und erklärt, dass man sich zusammensetzten werde, sobald der Tisch abgeräumt und das Geschirr gespült sei, sodass auch Gertrud sich in aller Ruhe zu ihnen setzen, zuhören und ihre Meinung einbringen könne. Er hatte eigentlich erwartet, dass Victor seiner Mutter zur Hand gehen würde, damit die Arbeiten schneller erledigt wären und man sich früher über seine Zukunft unterhalten könnte. Doch da hatte er sich getäuscht. Victor war nach dem Essen sofort aufgestanden und hatte sich in seine Musikwelt zurückgezogen.
Bruno Steinmann war unglaublich stolz auf seinen Sohn, hatte gemeinsam mit seiner Frau beide Konzerte im Casino miterlebt – das zweite Mal sogar zusammen mit seinem Bruder – und wurde seither von seinen Patienten regelmäßig auf seinen begabten Sohn angesprochen. Er war jedoch nicht in der Lage, ihn seine Freude spüren zu lassen oder ihm gar zu zeigen – vielleicht dadurch, dass er ihn in die Arme nahm – welch enormes Glücksgefühl dieser ihm beschert hatte.
Ganz anders waren die Reaktionen am Nachmittag von Krisztina Szábo und Wilhelm Frank ausgefallen. Victor hatte sich mit den beiden in der Bierquelle verabredet und ihnen aufgeregt von der Begegnung mit Hans Heinrich Baumberger erzählt. Seine ehemalige Klavierlehrerin hatte ihn begeistert umarmt und mit Küssen eingedeckt.
»Was freue ich mich für dich, mein Junge, mein großer Professor!«, hatte sie ihrer Begeisterung Ausdruck gegeben, und sogar der antiautoritäre Zuckerfrank hatte ihm die Hände geschüttelt und nach den Gratulationen mit einem Augenzwinkern hinzugefügt:
»Wenn es denn schon einen neuen Dirigenten geben soll, dann wenigstens einen, bei dem wir mitgeholfen haben, ihn zurecht zu biegen.«
»Und morgen«, erzählte Victor ganz aufgeregt weiter, »erscheint im Bund der Artikel, den Ferdinand Tanner über mich verfasst hat.«
»Ach, der Herr Tanner«, seufzte Mademoiselle Szábo verträumt, »was für ein Gentleman der alten Schule. Wie schade, dass er mit Frauen nichts anfangen kann.«
»Und seine Kenntnisse über die barocke Musik sind doch eher mangelhaft!« Zuckerfrank mochte den Musikkritiker überhaupt nicht, weil er das Gefühl hatte, dass die Symphoniekonzerte im Vergleich mit Aufführungen Alter Musik in dessen Zeitung deutlich Überhang hatten, worauf er ihn schon mehrmals erfolglos angesprochen hatte.
Tatsache war, dass Gertrud Steinmann den Artikel über Victor sorgfältig ausschneiden und in ihrem Album einkleben würde, in dem sie alles sammeln sollte, was in Zukunft über ihren Sohn publiziert werden würde. Im Moment befand sich darin nämlich nur gerade ein Artikel, und das war die begeisterte Konzertbesprechung Ferdinand Tanners von Victors Bruckner-Aufführungen.
Sie hatte ihre Küchenarbeiten mittlerweile beendet und setzte sich zu ihrem Mann an den Esstisch, wo die beiden lange sitzen blieben und in ihre Gedanken vertieft waren. Sie warfen sich gegenseitig fragende Blicke zu, die das Gegenüber auffordern sollten, den Sohn an den Tisch zu holen; doch keiner der beiden wollte sich erheben.
Obschon Victor sie beide sehr stolz gemacht und ihnen große Freude bereitet hatte, nahmen sie seine Entwicklung mit Sorgen zur Kenntnis. Seine Veränderung war nicht unbemerkt an ihnen vorbeigegangen, und es blieb eine Angst zurück, ihren Sohn an eine Welt zu verlieren, die ihnen beiden völlig verschlossen war und die ihn wie ein Wirbel mit einer sogartigen Wirkung aus dem realen Leben in ihren Bann gezogen hatte.
Sie hatten sich schon häufig darüber ausgetauscht, und Brunos Beobachtungen deckten sich mit denjenigen von Gertrud: Die Musik war für Victor allgegenwärtig, sie war sein Lebenselixier geworden, die ihm kein Platz mehr für andere Interessen ließ, wie es doch gleichaltrige junge Männer vorzogen, neben dem Beruf oder dem Studium eine Freizeitbeschäftigung zu pflegen, sich mit Freunden zu treffen und sich auch mal gehen zu lassen.
Das alles schien ihren Sohn nicht zu interessieren, und Freunde hatten sie bei ihm eigentlich auch keine feststellen können. Sein näheres Umfeld war beschränkt auf Leute aus der Musikszene – von Paul Glauser über Krisztina Szábo bis hin zu Luc Balmer –, und das junge Mädchen, Charlotte Arnold, das sie im Restaurant Harmonie nach Victors Konzert kennengelernt hatten und das ihm so gut tun würde, schien er ebenfalls zu vernachlässigen.
Bruno Steinmann seufzte, nachdem ihm seine Frau erneut einen bittenden Blick zugeworfen hatte, erhob sich und klopfte an die Tür des Musikzimmers, in dem das Klavierspiel augenblicklich abbrach. Victor hatte lange auf diesen Moment gewartet und sich die lange Wartezeit mit Franz Liszt vertrieben.
Nun setzte er sich erwartungsfroh an den Wohnzimmertisch und begann, ausführlich über das Gespräch mit Baumberger und die damit verbundenen Reaktionen seiner Vertrauten zu erzählen.
Vater und Mutter Steinmann hörten ihm aufmerksam zu; trotz der großen Bedenken wuchs ihr Stolz von Minute zu Minute, was man Gertrud durch ihr strahlendes Gesicht deutlich ansehen konnte, während Bruno ruhig Victors Ausführungen lauschte, ohne eine Reaktion zu zeigen. Als dieser geendet hatte, räusperte sich sein Vater und sprach danach sachlich und emotionslos mit ihm über das weitere Vorgehen.
»Lass dir den Vertrag von diesem Baumberger zustellen«, ermunterte er ihn. »Ich werde ihn unserem Notar zur Prüfung vorlegen, bevor du deine Unterschrift darunter setzt. Um die Finanzen brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Du hast unsere volle Unterstützung.«
»Mein Sohn wird ein Dirigent. Er wird berühmt werden und um die ganze Welt reisen. Wer hätte das gedacht?« flüsterte Gertrud immer wieder und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Augen, wobei nicht ganz klar war, ob es sich dabei um Freudentränen handelte oder um die Angst, ihren Sohn an die ihr so unbekannte Welt zu verlieren.
Victor überlegte sich in der Nacht, ob er seine Eltern nicht doch falsch eingeschätzt hatte. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere und konnte nicht einschlafen. Sein Puls raste, wenn er sich seinen Auftritt im Casino immer und immer wieder vorstellte. Die Stille vor dem Konzert, der Fluss der Musik, der Klang, den er dem Orchester hatte aufzwingen können und dann der tosende Applaus nach dem Schlussakkord, die begeisterten Bravorufe, die Gratulationen der Musiker, seiner Bekannten, und vor allem das Lob von Professor Glauser.
Er wusste, dass an diesem Konzert ein Virus von ihm Besitz genommen hatte, ein Virus, der ihn nun ganz kribbelig machte, und er spürte eine tiefe Sehnsucht danach, diesen Glücksmoment immer und immer wieder zu erleben. Es fühlte sich an wie eine Droge, und er stellte sich vor, wie er in den großen Konzertsälen dieser Welt auftreten würde.
Die Carnegie Hall in New York, das Concertgebouw in Amsterdam und eben der Musikvereinssaal in Wien. Überall wollte er dirigieren, Erfolge feiern und sich bewundern lassen.
Er fragte sich, ob er seinen Eltern Unrecht getan hatte, ob er ihnen überhaupt ankreiden durfte, mit so wenig gefühlter Zuneigung aufgewachsen zu sein und ob er ein anderer Mensch geworden wäre, wenn sich Mutter und Vater mehr für ihn und seine Musik interessiert hätten.
Er reiste am nächsten Tag nach Zürich, um Hans Heinrich Baumberger nochmals zu treffen und mit dem Feuilletonredaktor der NZZ ein Interview zu führen. Sein zukünftiger Agent war bei diesem Gespräch dabei, band Victors euphorische Antworten etwas zurück und präzisierte auf sachliche Art und Weise, wie er gedachte, mit seinem Schützling zu arbeiten.
Die beiden Artikel, welche im Bund und in der NZZ ein paar Tage später erschienen, und die von Gertrud Steinmann sorgfältig ausgeschnitten und verwahrt wurden, waren sehr wohlwollend verfasst, vor allem Ferdinand Tanner beschrieb Victor als einen »äußerst zielstrebigen jungen Musiker mit bereits enorm hoher Sachkompetenz und einem untrüglichen Gespür für die Zusammensetzung des Klangs.« Er schrieb weiter: »Wie ein Maler auf seiner Farbpalette mischt der angehende Maestro nach sorgfältigem Studium der Partitur die verschiedenen Klänge mit völliger Selbstsicherheit wohldosiert zusammen, feilt daran, bis das Optimum herausgeholt wird und er Klangwelten entstehen lassen kann, von denen man unweigerlich in ihren Bann gezogen wird, ohne dass er dabei den großen Bogen aus den Augen verliert.«
Hans Heinrich Baumberger war sehr zufrieden mit der guten Presse und begann sofort, nachdem Victor in Anwesenheit von Vater Bruno und dessen Notar den Vertrag unterschrieben hatte, den jungen Dirigenten den verschiedensten Musik- und Opernhäusern anzubieten.
»Der erste Schritt ist getan«, sagte Professor Glauser. »Nun haben wir vorläufig aber noch andere Ziele. Sie müssen Ihr Studium beenden, das soll jetzt Ihre ganze Aufmerksamkeit erfordern und dann schauen wir weiter. HH wird seine Arbeit gut machen, Sie werden sehen. Ich bin mir sicher, dass er Ihnen viele Auftritte vermitteln wird. Aber wie gesagt: Eins nach dem anderen.«
»Wozu brauche ich noch Klavier und Komposition?«, maulte Victor. »Ich will dirigieren, ich muss Partituren studieren, ich muss vorbereitet sein, wenn’s zählt!«
»Wollen Sie alles, wofür Sie bisher hier am Konservatorium gearbeitet haben, in den Sand setzen? Victor, schließen Sie jetzt einmal etwas ab, bevor Sie sich weiter mit Ihrer Zukunft befassen. Die Auftritte kommen nicht von heute auf morgen. Sie haben noch viel Zeit, bis der ganze Zirkus anrollen wird. Nutzen Sie diese sinnvoll!«
Und so beendete Victor seufzend seine beiden Studienfächer, setzte sich aber nur noch mittelmäßig dafür ein, erreichte aber trotzdem einen beachtlichen Abschluss. Jede freie Minute verbrachte er aber mit Partiturstudium, nutzte jede Gelegenheit, um das Berner Orchester bei den Proben und den Konzerten zu verfolgen und fragte immer wieder bei Luc Balmer nach, ob er Zeit habe, um die aufgetauchten Probleme und Fragen gemeinsam durchzugehen.
*
Victor Steinmann entjungferte Charlotte Arnold an einem Wochenende im Hause ihrer Lieblingstante in Münchenbuchsee und ließ sie anschließend wie eine heiße Kartoffel fallen, ohne sich dabei ein schlechtes Gewissen zu machen. Zurück blieben ein gebrochenes Herz sowie ein verräterischer Blutfleck auf der Bettwäsche, den die angehende Lehrerin laut schluchzend und zuerst einmal ohne Erfolg zu entfernen versuchte – als ob ihr die Schmach alleine, die Victor ihr wohlkalkuliert zugefügt hatte, nicht schon genug zusetzen würde.
Mit gütiger Mithilfe ihrer besten Freundin Sophie und deren Rat, das Leintuch in kaltes Salzwasser einzulegen, konnte wenigstens dieser Schaden innert kürzester Zeit behoben werden. Die Verletzung, die das ohnehin fragile Seelenkostüm von Charlotte, erlitten hatte, blieb hingegen lange Zeit irreparabel, und es sollte eine geraume Weile dauern, bis sie wieder zu einem Mann Vertrauen fassen und sich verlieben konnte.
Sie waren sich zufälligerweise auf dem Waisenhausplatz begegnet, und Charlotte empfand diese Fügung als einen Wink des Schicksals, nach dem sie unbedingt greifen und ihn festhalten sollte. Da hatte sie doch Stunden vor dem Konservatorium verbracht, um ihn zu treffen, hatte seine Eltern eingespannt, um eine Begegnung herbeizuführen – alles vergebens. Und dann ergab es sich hier auf einem öffentlichen Platz, völlig ungeplant und vom Zufall gesteuert, dass sie eine zweite Chance erhalten sollte! Das musste ein Zeichen sein! Charlotte war völlig außer sich, ihr Herz raste vor Aufregung, als sie den Augenkontakt mit ihm suchte, den er erst erwiderte, als sie vor ihm stand.
Victor hingegen war völlig in Gedanken versunken gewesen, Schumanns Violinkonzert, dessen Partitur ihn vom ersten Takt an in ihren Bann gezogen hatte, geisterte ihm im Kopf herum. Luc Balmer hatte ihm das Werk ans Herz gelegt, als Victor ihm erzählt hatte, er wolle sich etwas ausführlicher mit Robert Schumann befassen, und ihm geraten, sich intensiv damit auseinanderzusetzen, da die Komposition sehr viel vom Seelenzustand des Musikers während der Entstehungszeit wiedergebe, bevor er ein Jahr später in die Nervenheilanstalt eingeliefert worden war.
Hätte ihn das Violinkonzert nicht so sehr beschäftigt, so hätte er Charlotte schon von weitem erblickt und wäre ihr wahrscheinlich ausgewichen, wäre in die Aarbergergasse eingeschwenkt oder hätte sich schlichtweg umgedreht und irgendwo im Schatten der Häuserwände Zuflucht gesucht.
So blieb ihm aber nichts anderes übrig, als sie mit ernster Miene zu begrüßen und sich ihre entschuldigenden Worte, die wie ein Wasserfall aus ihrem Mund quollen, um die Ohren schlagen zu lassen. Er hatte dadurch genug Zeit, sich die Taktik zurecht zu legen, mit der er vorzugehen gedachte und sah in dem jungen, immer noch verliebten Mädchen die Chance, die Tür, welche er so lange verschlossen gehalten hatte, einen Spalt weit zu öffnen, um der neuen Seite des Victor Steinmanns Einlass zu bieten.
Also entschuldigte er sich für seinen ungestümen Drang, mit ihr schlafen zu wollen, damals in ihrem Elternhaus im Breitenrain und fand, dass er seine zerknirschte und mit sich selbst hadernde Haltung ziemlich gut hinüberbringen konnte. Sie fand, dass es bestimmt nicht an ihm liege, sich zu rechtfertigen; der Fehler liege ganz alleine auf ihrer Seite und ihre Reaktion sei völlig überzogen gewesen. Aber jetzt, lachte sie, gebe es ja die Chance für einen Neuanfang, und sie würde ihn gerne zur Feier des Tages zu sich nach Hause zum Abendessen einladen.
Victor seinerseits hatte sein Ziel klar abgesteckt und wollte nicht wieder in Familiengeschichten hineingezogen werden. So erklärte er ihr, dass sein Terminplan momentan ziemlich gefüllt sei, aber dass man sich bei diesem frühlingshaften Wetter doch auf den Bärenplatz setzen könne, um eine Kleinigkeit zu trinken.
Das taten die beiden dann auch, und Charlotte war selig und labte sich an ihrem Glücksgefühl, das durch die unerwartete Begegnung und die wundervolle Art Victors, ihr zu vergeben, hervorgerufen worden war. Sie scherzte und lachte, ergriff seine Hände, um sie zu küssen und erzählte ihm dann mit verschwörerischer Miene, dass sich für das kommende Wochenende eine verlockende Zweisamkeit anbieten würde.
Ihre Tante Lina aus Münchenbuchsee war für ein paar Tage verreist und hatte ihre Nichte gebeten, sich während dieser Zeit um den Garten und die Kaninchen zu kümmern.
Mit einem Augenzwinkern fragte Charlotte Victor, ob er denn nicht Lust hätte, sie am Wochenende in den Berner Vorort zu begleiten, um dort gewisse Sachen nachzuholen, um die sie sich bisher zu wenig gekümmert hätten.
Victor verschlug es beinahe die Sprache und war erstaunt darüber, wie leicht es ihm Charlotte zu machen gedachte. Natürlich wäre er nicht bereit gewesen, Dutzende von Verabredungen über sich ergehen zu lassen, bis er zum Ziel kommen würde, doch dass Charlotte ihm ihre Jungfräulichkeit quasi auf dem Serviertablett präsentieren würde, damit hatte er niemals zu rechnen gewagt.
Das junge Mädchen erhoffte sich von ihrem spontanen Angebot natürlich, Victors Verstimmtheit möglichst rasch besänftigen zu können und ihm damit zu zeigen, dass sie es ernst mit ihm meinte. Wie hoch ihr Einsatz dabei war, das wurde ihr erst im stillen Kämmerlein bewusst, als sie in sich gekehrt auf ihrem Bett lag und das Gespräch mit Victor auf dem Bärenplatz noch einmal Revue passieren ließ.
Ihre Euphorie wich dabei einer quälenden Unsicherheit und endete in einer panikartigen Attacke, die sie keuchend nach Luft schnappen ließ. Wie gerne hätte sie mit Sophie über ihre Gefühle und Bedenken gesprochen und sie um Rat gefragt; doch sie kannte deren Antworten bereits im Voraus, wusste, dass ihre Freundin an ihre Vernunft und ihren Verstand appellieren und sie beknien würde, die ganze Aktion abzubrechen.
So fuhren sie am Wochenende mit dem Fahrrad nach Münchenbuchsee, und Charlotte hatte einen dicken Kloß im Hals, traute sich aber natürlich nicht, mit Victor über ihre Bedenken zu sprechen, sondern lauschte seinen Plänen und Träumen für die Zukunft.
Der junge Steinmann hingegen war in Hochstimmung. Wohl hatte er gemerkt, dass Charlotte etwas leiser und zurückhaltender als sonst war, und er konnte sich die Gründe dafür sehr gut vorstellen, doch letztendlich war es ihm egal. Er wollte endlich damit beginnen, seine Lust auszuleben und hatte beschlossen, dabei keine Rücksicht auf die angehende Lehrerin zu nehmen. Sie hatte ihn damals in jener Nacht auf eine Art und Weise von sich gestoßen, die ihm unverzeihlich erschien und wofür er sie büßen lassen wollte.
Der Beischlaf wurde schließlich zu einer Katastrophe. Charlotte verkrampfte sich komplett, und Victor hatte zu wenig Erfahrung, um die Situation meistern zu können; es fehlten ihm die gezielten Anleitungen oder die selbstverständliche Führung der Wilden Lena. Als er es letzten Endes schaffte, mühevoll in sie einzudringen, schrie sie laut auf und grub ihre Fingernägel so fest in seine Schultern, dass rote Striemen zurückblieben.
»Eine junge, wilde Liebhaberin?«, sollte die Wilde Lena sticheln, als sie ein paar Tage später mit Victor im Bett landete, doch er würde ihr niemals von diesem desolaten ersten Mal ohne Helene Weber erzählen, auch wenn sich die Schamgefühle bei ihm in Grenzen hielten.
Er blickte in das schmerzverzerrte Gesicht von Charlotte Arnold und befürchtete, die Situation könnte vollends außer Kontrolle geraten. So schloss er konzentriert die Augen, stieß ein paar Mal kräftig zu, bis er kam und zog sich aus ihr zurück.
Die Stille danach war erdrückend; Charlotte blieb leise schluchzend auf dem Bett liegen, während Victor sich erhob und nach seiner Hose suchte. Er verließ das Schlafzimmer mit ein paar entschuldigenden Phrasen, welches die letzten Worte waren, die er an Charlotte Arnold richten sollte. Wenn sie sich in Zukunft in der Stadt begegneten, sollten sie sich diskret aus dem Weg gehen, wie es Victor Steinmann damals auf dem Waisenhausplatz wohl auch getan hätte, wenn in seinem Kopf nicht gerade Schumanns Violinkonzert abgelaufen wäre, und womit das schicksalhafte Wochenende bei Tante Lina in Münchenbuchsee wohl hätte vermieden werden können.
Das junge Mädchen blieb nach Victors Abgang teilnahmslos liegen, wurde von Weinkrämpfen durchgeschüttelt und fand erst wieder richtig in die Gegenwart zurück, als sie aufstand und den Blutfleck auf dem Leintuch erblickte.
Zu diesem Zeitpunkt saß Victor aber schon wieder auf seinem Fahrrad und radelte zurück nach Bern. Er vermisste das euphorische Gefühl, das sich nicht einstellen wollte und das er eigentlich erwartet hatte. Zum einen wegen der geglückten Rache und zum anderen als Bestätigung des ersten Schritts in seiner neuen Lebenseinstellung.
So tat er den Beischlaf mit Charlotte als etwas unglücklichen Start ab, als entscheidend empfand er die Erkenntnis, wie einfach es ihm doch gefallen war, sie ins Bett zu kriegen und dass dies doch mit anderen Frauen auch möglich sein müsse. Es musste ja nicht immer so dramatische Begleiterscheinungen geben, wie das mit Charlotte der Fall gewesen war. Die Wilde Lena hatte ihm das mit ihrer sexuell offenen Haltung deutlich gezeigt.
Allerdings ließ er dabei außer Acht, dass Helene Weber die Männer, mit denen sie schlief, liebte und ihre Sexualität frei auslebte, ohne damit jemandem wissentlich schaden zu wollen oder ihn gar zu verletzen oder zu demütigen.
Victor Steinmann dagegen hatte mit der traurigen Behandlung von Charlotte Arnold den ersten Schritt zu seiner misanthropischen Lebenseinstellung gemacht.
*
Es ging mit seiner Karriere nicht gerade kometenhaft aufwärts, aber immerhin erarbeitete sich Victor in der Schweiz einen hohen Bekanntheitsgrad und erste kleinere Engagements aus dem Ausland ließen nicht auf sich warten. Die Kritiken waren meistens wohlwollend und wer den jungen Dirigenten einmal auf dem Podest hatte erleben dürfen, sprach nicht selten von einem »Dämon im Frack« oder von dem »feurigen und elektrisierenden Blick«, mit dem er das Orchester mitzureißen vermochte.
Hans Heinrich Baumberger konnte ihm Engagements in kleinen Städten vermitteln, meistens in Deutschland oder Österreich, und investierte viel Zeit in Gespräche mit Victor, in denen er den jungen Musiker besänftigen und wieder auf den Boden der Realität zurückholen musste. Dieser beklagte sich ständig über inkompetente Orchestermusiker, eitle Solisten und unsorgfältig zusammengestellte Konzertprogramme.
»Es ist, wie es ist, Herr Steinmann«, sagte Baumberger. »Das sind Ihre Lehr- und Wanderjahre. Sie müssen sich ein Repertoire aneignen und Ihre Erfahrungen machen. Wir sind auf einem guten Weg, auch wenn es nicht so steil aufwärts geht, wie Sie das vielleicht möchten. Glauben Sie mir, es wird schon noch die Zeit kommen, in der Sie die Solisten auswählen und die Konzertprogramme bestimmen können.«
»Er hat recht, Victor«, besänftigte Professor Glauser seinen ehemaligen Schützling bei ihren zahlreichen Telefongesprächen. »Sie haben sich in der Musikwelt bereits einen Namen gemacht, man kennt Sie.«
»Wer ist man?«, frotzelte Victor auf solche Aufbauversuche. »Sie können sich nicht vorstellen, mit welchen Banausen ich es hier zu tun habe.«
»Victor«, seufzte Glauser, »ein bisschen mehr Bescheidenheit und Demut würden Ihnen ganz gut zu Gesichte stehen!«
»Es ist doch wahr!«, konterte Victor. »Am schlimmsten ist es in der Oper. Viert- oder fünftklassige Sänger – können die überhaupt Noten lesen? Und dann die Akustik in diesen Häusern – grauenhaft! Und als Sahnehäubchen muss ich mich mit Regisseuren herumschlagen, welche die Sänger kreuz und quer über die Bühne marschieren lassen, sodass man ihren Gesang gar nicht mehr hören kann. Wenn ich mir irgendeinmal meine Auftritte selber auswählen kann, so werde ich wohl einen weiten Bogen um die Oper machen.«
»Machen Sie das, Victor, machen Sie das. Aber bis es soweit ist, werden auch Sie sich im Orchestergraben behaupten müssen.«
In der Tat sollte Victor Steinmann nach seinem endgültigen Durchbruch nur noch vereinzelt Opern dirigieren, um sie schließlich völlig zu umgehen. Dafür setzte er häufig konzertante Aufführungen der großen Opernwerke aufs Programm, bei denen sich die Sängerinnen und Sänger nicht bewegen mussten und somit die akustische Perfektion gewährleistet werden konnte.
Vorläufig musste er sich allerdings, wie es sich für einen jungen Kapellmeister ziemte, mehr mit dem Musiktheater zufrieden geben und somit in den Tiefen des Orchestergrabens seine Präsenz ausleben, während Auftritte auf dem Podium mit einem symphonischen Programm eher zur Seltenheit gehörten.
Als er im Theater von Heidelberg Franz Lehárs Lustige Witwe leitete, erreichte ihn die Nachricht von Krisztina Szábos Ableben.
Seine ehemalige Klavierlehrerin war wohl einem Herzversagen erlegen; einer ihrer Schüler fand sie am Vormittag, nachdem sie ihm die Türe nicht geöffnet hatte, in ihrem Ohrensessel, in dem sie saß, wenn sie ihren Schülern aufmerksam und entspannt zuhörte – was bekanntlich durch ihre lebendige Art ja selten der Fall gewesen war.
Der Schüler rannte schreiend aus der Wohnung, nachdem er festgestellt hatte, dass seine Lehrerin nicht bloß schlief, und ein Nachbar rief schließlich einen Krankenwagen. Die Sanitäter stellten nicht bloß den Tod der großen Klavierpädagogin fest, sie mussten sich auch noch um den zehnjährigen Jungen kümmern, der zusammengebrochen war und aus diesem Erlebnis traumatische Folgeschäden erleiden sollte.
In Krisztina Szábos Schoss fand man eine Biografie über Richard Wagner, und es ist bis heute nicht geklärt, was die gebürtige Ungarin dazu gebracht haben könnte, sich mit dem Meister aus Bayreuth, den sie so abgrundtief ablehnte, wieder zu versöhnen – wenn sie es denn überhaupt getan hatte. Vielleicht hatte ihre Liebe zu seiner großartigen Musik seinen politischen Einstellungen gegenüber Überhand gewonnen, man wusste es nicht so genau.
Möglich wäre aber auch, dass sie sich bei der Lektüre seines Lebens so maßlos aufgeregt hatte, dass ihr Herz den Dienst versagte und sie somit indirekt von Wagner – dem alten Nazi, wie sie ihn nannte – in den Tod getrieben worden war – ein solch melodramatisches Ende hätte zu ihrem verflossenen Leben gut gepasst.
Victor war es durch sein Engagement in Heidelberg nicht möglich, an der Trauerfeier teilzunehmen, und so setzte er sich an diesem Tag ins Dirigentenzimmer des Theaters und spielte auf dem Klavier – in Memoriam an Krisztina Szábo – die Nocturnes von Frédéric Chopin, die sie so sehr gemocht hatte, besonders das zweite Stück in Es-Dur, das er demzufolge sogar wiederholte.
Als der letzte Ton verklungen war, saß er lange bewegungslos und mit geschlossenen Augen vor dem Instrument, wobei er sich die vielen Begegnungen mit seiner Klavierlehrerin in Erinnerung rief. Er sah sie vor sich, wie sie ihm eindringlich erklärte, wie das Pedal bei ihrem Lieblingsnocturne von Chopin, das er vorher zweimal gespielt hatte, einzusetzen sei. Er erinnerte sich, wie sie sich mit übertriebener Abscheu auf Alfred Hitchcocks Psycho vor dem Kino eine Zigarette angezündet hatte. Und er fühlte ihre spontanen Berührungen und ihre Küsse, wenn sie ihm gratuliert hatte, sich für ihn freute und ihn mit einem schelmischen Lächeln Professor genannt hatte – die Anrede, die sie für alle großen Musiker zu benutzt hatte.
Nun war sie tot, und mit ihr hatte er eine Vertraute verloren, die immer ein offenes Ohr für ihn gehabt und ihn in den kritischen Momenten aufgebaut und beraten hatte – immer mit einer positiven Lebenseinstellung, auch wenn diese hinter ihren melodramatischen Gesten und ihrer manchmal plakativ gespielten Empörung nicht immer deutlich festzustellen gewesen war.
Victor öffnete die Augen und legte die Hände auf die Tasten, allerdings ohne sie niederzudrücken. Mit einem grimmigen Lächeln wusste er plötzlich, was er zu tun hatte. Er setzte sich aufrecht vor das Klavier und begann mit seiner Transkription von Richard Wagners Tannhäuser-Ouvertüre, die er an der Vortragsübung gespielt hatte, an der Mademoiselle Szábo auch anwesend gewesen war und sich nicht getraut hatte, vor lauter Ehrfurcht vor der Kultur, ihren Platz demonstrativ zu verlassen.
Er griff in die Tasten und sang laut mit, denn er wusste, dass Krisztina Szábo irgendwo da oben sitzen, ihn beobachten und trotz allem – mit gespieltem Entsetzen – ihre unbändige Freude an Richard Wagners Musik haben würde.