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Der Alkoholpegel steigt, meine Einbildungskraft nimmt kuriose und ausschweifende Formen an. Ich denke mir aus, vor dem Beginn eines Konzerts zu stehen.

Langsam und bedächtig setze ich einen Fuß vor den anderen und gehe die Treppe hoch. Ich lasse mir die wichtigsten Stellen des Werks noch einmal durch den Kopf gehen und bin dabei so in Gedanken versunken, dass ich beinahe gestolpert wäre. Ich halte für einen kurzen Moment inne, atme tief durch, zupfe meine imaginären Manschettenknöpfe zurecht und richte die nicht vorhandenen Fliege. Ich schüttle mit einem Lächeln den Kopf und mache mich daran, die letzten Stufen zurückzulegen.

Stopp, jetzt brauche ich wieder einen Schluck Wodka. Ich setze die Flaschenöffnung an meinen Mund und gönne mir einen kräftigen Schluck. Schwankend halte ich mich am Treppengeländer fest und schließe die Augen. Zurück in meine Fantasiewelt.

Im Saal sitzen Hunderte von Leuten, die bereits ungeduldig den Maestro erwarteten, um sich endlich den ersten Takten von Gustav Mahlers fünfter Symphonie hinzugeben. Die letzten Stufen sind erklommen, vor mir liegt noch ein langer Korridor, an dessen Ende sich die Tür befindet, durch die ich in die Welt der Schwerelosigkeit gelange – in den Konzertsaal. Ich beschleunige meine Schritte nicht, sondern lege die letzten paar Meter genauso bedächtig zurück, wie ich die Treppe hinaufgestiegen bin, bevor mich ein leichtes Stolpern fast aus der Bahn geworfen hat. Wie von unsichtbarer Hand wird die Türe aufgerissen, und für einen Augenblick werde ich vom hellen Scheinwerferlicht geblendet.

Ich betrete das Podest, Beifall ertönt. Zuerst zögernd, dann beinahe fanatisch. Ich schüttle dem Konzertmeister – oder ist es etwa eine Konzertmeisterin – die Hand und flüstere ihm etwas zu.

Dann drehe ich mich zum Publikum, verbeuge mich kurz, wende mich dem Orchester zu und blicke auf den Boden. Der Applaus ist verstummt, vereinzeltes Räuspern ist zu hören, einige blättern noch in den Programmen und suchen wohl nach der richtigen Satzbezeichnung. So stehe ich da und warte. Ich habe Zeit und bleibe unbeweglich stehen, bis auch das letzte Geräusch im Konzertsaal verhallt ist und man eine Stecknadel auf den Boden fallen hören könnte.

Dann hebe ich meinen Stab, lasse das Ende durch meine Hand gleiten und schaue ins Orchester, das heißt dorthin, wo die einzelnen Musiker in meiner Vorstellung etwa sitzen könnten. Dem Trompeter muss ich einen besonders aufmerksamen und aufmunternden Blick zuwerfen, denn der beginnt das Werk mit seinem markanten Marschthema.

Dann noch ein letzter Blick zum Konzertmeister – ich entschließe mich für eine Frau, eine sehr hübsche und attraktive Frau sogar, die mich während den Proben angehimmelt hat und die ich nach dem Konzert zu einem Schlummertrunk einladen werde, um dann mit ihr zu schlafen. Sie erwidert meinen Blick und nickt mir zu. Ich antworte ihr ebenfalls mit einem entschiedenen Nicken und hebe den Stock zum Einsatz.

Und jetzt? Zunächst mir nochmals einen tüchtigen Schluck genehmigen. Den habe ich redlich verdient.

Dann der Griff zur Fernbedienung, kurzer Druck auf die Play-Taste des CD-Players, und dann geht’s endlich los. Mahlers Fünfte, gespielt von den Wiener Philharmonikern, geleitet von Leonard Bernstein, nachdirigiert von Fabrice Steinmann. Mein Schwanengesang. Ich laufe durch das Zimmer der Ferienwohnung in Gigaro, hebe die Arme, gebe Einsätze, forme mit den Händen mal geschmeidig, mal energisch unsichtbare Gebilde und tanze zum Teil wie ein Besessener im Takt der Musik. Ich schreie so laut wie ich kann und übertöne damit beinahe gar den Tutti-Einsatz, der in diesem Moment aus den Lautsprecherboxen dröhnt.

Ich bin der Dirigent. Mein Wille geschehe.

Pultstar

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