Читать книгу Pultstar - Martin Geiser - Страница 39
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ОглавлениеManchmal dringt die Helligkeit der Gegenwart doch zu mir durch. So wie gestern, als ich dieses Mädchen in Saint Tropez gefickt habe. Ich erinnere mich nicht an ihren Namen, vielleicht hat sie ihn mir in der Bar, wo ich sie getroffen habe, genannt, vielleicht auch nicht, es ist egal.
Es war mir an diesem Abend tatsächlich nach Gesellschaft, ich ertrug die Einsamkeit plötzlich nicht mehr und entschied mich für einen Abstecher in das nahe Saint Tropez, wo ich am Hafen in einem Lokal saß und die protzigen Millionärsyachten betrachtete. Ich hatte eine Kleinigkeit gegessen und eine Flasche Wein getrunken; es war mir egal, in welchem Zustand ich nach Gigaro zurückfahren musste.
Bevor der Alkohol mich wieder in eine melancholische Stimmung versetzen würde, beschloss ich, dem vorzubeugen und eine Bar oder einen Klub aufzusuchen, wo ich in die Menschenmenge eindringen, mich fallen lassen und mir mit noch mehr Alkohol komplett den Rest geben konnte. Ich fand nach nicht langem Suchen in einer Seitengasse eine Leuchtreklame, die mich ansprach und betrat das Lokal, nachdem ich einen horrenden Eintrittspreis bezahlt hatte.
Der Klub war gut gefüllt, scheinbar hatte ich unwissend ein ziemlich angesagtes In-Lokal ausgewählt und die vom Diskjockey angeheizte Stimmung übertrug sich augenblicklich auf mich. Ich bestellte einen doppelten Whisky, stürzte ihn hinunter und begab mich auf die Tanzfläche, wo ich mich zu den dröhnenden Bum-Bum-Rhythmen treiben ließ. Meine Umgebung nahm ich nicht mehr wahr, ich ließ mich gehen, verrenkte meinen Körper und bemerkte plötzlich, wie mir schwindlig wurde.
Ich ging zurück an die Bar, ließ mich auf einen Barhocker fallen, bestellte noch einmal das Gleiche und merkte nach dem erneuten Herunterstürzen des Alkohols, wie ich mich plötzlich frei und unbesiegbar fühlte.
Ich weiß nicht mehr, ob ich die französische Blondine ansprach oder ob sie den Kontakt zu mir aufnahm. Sie sah unverschämt gut aus, ihr honigfarbenes, natürlich wirkendes Haar trug sie schulterlang zu einem Mittelscheitel gekämmt, und obschon ihr hautenges feuerrotes Kleid mit dem entsprechenden Ausschnitt kein Detail ihres Körpers verheimlichte, wirkte sie nicht billig auf mich. Nach einigen Minuten sinnlosem Small-Talk bemerkte ich allerdings, wie einfältig sie war, doch meine Geilheit wuchs von Moment zu Moment und als ich meine Hand auf ihren Po legte, kicherte sie und schrie mir ins Ohr, ob ich die Yacht ihrer Eltern sehen wolle.
Ich erhob mich mit einigen Problemen, wir hatten inzwischen noch ein paar Getränke konsumiert, und gab mir Mühe, in aufrechter Haltung den Ausgang des Klubs zu finden. Sie ergriff meine Hand und führte mich zum Hafen zurück, wo ich bereits zu Abend gegessen hatte. Auf dem Weg fragte sie mich, was ich so mache und ich antwortete ihr, ich sei Musiker.
»Echt?«, meinte sie. »Ich singe manchmal in einer Band. Spielst du Schlagzeug oder Gitarre?«
Wie dämlich sie mir in diesem Moment vorkam! Am liebsten hätte ich sie zu Boden geworfen und wäre über sie hergefallen. So atmete ich tief durch und erklärte ihr, dass ich mich mit klassischer Musik beschäftige.
»Ach so«, meinte sie, sichtlich enttäuscht.
Dumme Zicke, dachte ich, warte nur, dir werde ich es schon noch so richtig besorgen.
Die Yacht war gewaltig, und die Eltern hatten ihr Töchterchen alleine auf dem Boot zurückgelassen. Die Führung durch die Räumlichkeiten endete in einem großzügig ausgestatten Schlafzimmer, dessen Decke mit Spiegeln verkleidet war, was mich stark an ein Bordell erinnerte. Dort warf sie mich aufs Bett. Gerade als sie ihr Kleid aufknöpfen wollte, kam ihr eine Idee. Sie schenkte mir ein verschwörerisches Lächeln und meinte: »Warte mal, das wird dir bestimmt gefallen.«
Sie verschwand aus dem Zimmer, und als sie kurz darauf zurückkehrte, hörte ich aus Lautsprecherboxen, die irgendwo im Schlafgemach versteckt sein mussten, Ravels Boléro.
»Na?« Sie zog ihr Kleid aus und warf die High Heels in eine Ecke. »Das ist doch was für dich, oder?«
Ein Klischee wie aus dem Bilderbuch, ging es mir durch den Kopf, doch tatsächlich zog mich die Komposition in ihren Bann und zusammen mit dem vielen Alkohol, den ich bereits intus hatte, wurde plötzlich eine Leidenschaft in mir geweckt, wie ich sie schon lange nicht erlebt hatte.
Meine aufgestaute Aggression war plötzlich verfolgen, und wir liebten uns mit verspielter Zärtlichkeit auf dem Bett. Da war sie also, die Gegenwart! Sie nahm Besitz von mir und hüllte mich in das Hier und Jetzt. Die düstere Vergangenheit war im wahrsten Sinne des Wortes wie weggeblasen.
Als ich in sie eindrang, blickte ich ihr tief in die Augen und entdeckte eine unbeschreibliche Lust und Leidenschaft, als sie den Mund öffnete und leicht aufstöhnte.
Ich schloss die Augen und begann mich in ihr zu bewegen. Es fühlte sich großartig an, und die Kopfschmerzen, die der Alkohol verschuldet hatte, waren schlagartig verschwunden.
Doch als ich die Augen wieder öffnete, holte mich die Vergangenheit wieder ein. Es war nicht mehr die junge Französin, die ich unter mir liegen sah. Ich spürte zwar ihren keuchenden Atem noch in meinem Ohr, doch vor mir war Marie Cremers Gesicht erschienen, ungläubig, ängstlich und schmerzverzerrt. Die Gegenwart hatte sich wieder verflüchtigt und Bildern aus vergangenen Tagen Platz gemacht.
Ich blickte in Maries Augen, wohlwissend, dass es sich dabei um eine Täuschung meiner Sinne handelte – die Spur Kokain, die ich zuvor auf der Toilette des Klubs geschnupft hatte, forderte zusammen mit dem Alkohol wohl ihren Tribut.
Vorbei war es da plötzlich mit dem zärtlichen und lustvollen Liebesspiel. Ich schrie zornentbrannt auf und stieß wie wild in das Mädchen hinein. Vorbei war die Rücksichtnahme auf seine Wünsche. Ich nahm es nicht mehr wahr, wusste nicht, ob ich ihm Schmerzen zufügte oder ob es von meinem plötzlichen Stimmungswechsel noch mehr angetörnt war.
Alles um mich herum verschwamm, und ich fickte wie ein wild gewordenes Tier. Ich fühlte mich zurückversetzt in eine andere Zeit und konnte nicht mehr wahrnehmen, was Realität und was Wahn war.
Als ich von der Französin abließ, war ich komplett leer. Ich fühlte mich plötzlich stocknüchtern, und die Kopfschmerzen hatten wieder eingesetzt. Ich vernahm absolute Stille und stellte fest, dass der Boléro wohl schon eine Weile zu Ende war. Auf dem Bettrand sitzend, fühlte ich ihre Hand an meinem Rücken und hörte sie so etwas wie »Mein geiler Hengst« sagen. Ich zuckte zusammen, stand auf und suchte meine Kleider zusammen.
»Was soll denn das?«, fragte sie. »Wo willst du denn hin? Lass es uns noch einmal tun.«
Ich zog mich an und stürzte, ohne noch einmal zu ihr zurückzublicken, aus dem Schlafraum auf das Deck der Yacht. Dort klammerte ich mich an der Reling fest, spürte die Zuckungen in meinem Magen, würgte und übergab mich ins Meer.
Ich musste für einen Moment das Bewusstsein verloren haben, denn plötzlich vernahm ich ihre Stimme und entdeckte die Französin in einem weißen Kimono auf dem Deck. Ihre Worte drangen nicht bis zu meinem Bewusstsein vor, ich richtete mich auf, verließ fluchtartig das Boot und rannte, als ich wieder festen Boden unter den Füssen hatte, in irgendeine Seitenstraße des Hafens, um mich vor dem Blick des Mädchens zu verstecken.
Ich rannte, so weit mich meine Füße trugen, und als ich nicht mehr konnte, stütze ich mich an einer Mauer und rang nach Atem. Meine Gedanken überschlugen sich, die Vergangenheit hatte mich wieder eingeholt, und ich realisierte mit schmerzhafter Gewissheit, dass das Gefühl für die Gegenwart, die ich vor einigen Augenblicken noch glaubte fassen zu können, für mich unentrinnbar verloren war.