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Meine erste Orchesterprobe, die ich als junger Dirigent in Düsseldorf absolvierte, war in eine Katastrophe ausgeufert. Es gibt für Orchestermusiker nichts Schöneres, als einen jungen Maestro auf die Probe zu stellen und ihn auf Herz und Nieren zu prüfen. Beherrscht er die Partitur, hört er einen falschen Ton aus dem Gesamtklang heraus? Wie reagiert er, wenn der Perkussionist den Rhythmus nicht ganz exakt einhält? Welche eigenen Ideen bringt er mit? Wie kann er mit einer schwierigen Situation umgehen, sei sie musikalisch oder disziplinär? Meistert er sie mit Humor oder Strenge? Ist er überhaupt eine Führungspersönlichkeit?

Ein Orchester kann beim ersten Zusammentreffen mit dem Dirigenten sehr grausam sein. Dabei muss es sich nicht um einen Jungspund handeln, auch bei einem erfahrenen Maestro wollen die Grenzpflöcke ganz exakt abgesteckt sein und sein Können getestet werden. Und wenn sich jemand wie ich zum ersten Mal vor die Musiker stellt, der bis anhin als Pianist bekannt war, so ist die Skepsis natürlich besonders groß, gibt es doch genug Solisten, welche sich lediglich um des Ansehens oder des Egos willen auch noch als Dirigent versuchen wollen.

Bei mir war allerdings der Stein des Anstoßes noch ein anderer: Ich war der Sohn des großen Victor Steinmanns. Ob die Musiker in Düsseldorf mit ihm auch schon einmal Bekanntschaft gemacht hatten, wusste ich nicht. Aber auf jeden Fall war das ein Ruf, der mir immer vorauseilen würde. Als Pianist spielte das noch weniger eine Rolle, wenn jetzt aber der junge Steinmann auch noch versucht, ein Orchester zu leiten, dann muss er schon einiges zu bieten haben.

Genauso war die Probe verlaufen.

Ich hatte nicht mit solch einer immensen Ablehnung gerechnet, war darauf vorbereitet, dass es Widerstände geben könnte und hatte mich akribisch mit der Partitur auseinandergesetzt. Doch was nützt das, wenn der geniale Geist von Victor Steinmann wie ein Damoklesschwert über einem schwebt! Der bewunderte Maestro, der jede Note auswendig kannte, sämtliche Klangkombinationen schon erlebt hatte, den großen Bogen jedem Werk problemlos entnehmen und den Musikern mit unbarmherziger Strenge seinen Willen aufzwingen konnte, um das Publikum schließlich mit einer grandiosen Aufführung zu begeistern.

Ich hatte mich auf meine erste Orchesterprobe gefreut, war voller Elan, fühlte mich gut vorbereitet und gab den Einsatz, um in die dunkle und spannungsgeladene Einleitung der ersten Symphonie von Johannes Brahms einzutauchen. Doch schon nach den ersten paar Takten merkte ich, dass irgendetwas rhythmisch nicht stimmte, doch ich konnte das Problem nicht genau lokalisieren. Waren es die Holzbläser, die Hörner oder etwa gar die Streicher, welche ein klein wenig hintendrein hinkten? Ich konnte es beim besten Willen nicht ausmachen, winkte ab, lächelte höflich und versuchte es auf die lockere Art: »Das kriegen wir doch rhythmisch problemlos exakter hin, nicht wahr? Noch einmal, bitte.«

Worauf ich vom Konzertmeister zu hören bekam: »Weshalb denn?« Da steckte ich in der Klemme – mit zwei simplen Worten wurde ich vor dem ganzen Orchester bloßgestellt und war unfähig, darauf zu reagieren. Tief in meinem Innersten wusste ich bereits: Ich hatte verloren, versuchte mir aber nichts anmerken zu lassen und erwiderte mit etwas zu scharfer Stimme, um meine Unsicherheit zu verbergen: »Einfach noch exakter, bitte schön.«

Das war’s dann gewesen. Ich hatte das Orchester zu keinem Zeitpunkt mehr im Griff, war abhängig von der höflichen Mitarbeit der Musiker, konnte aber fast keinen Einfluss mehr auf die Gestaltung des Werkes nehmen und musste die zahlreichen Ideen, welche ich mir beim Partiturstudium ausgemalt hatte, den Bach hinuntergehen lassen.

Wenn ich eine Phrase abbrach und das Orchester bat, etwas schneller zu spielen, so hörte ich es irgendwo in der Musikerschar zischen: »So dirigiere doch schneller.«

Oder wenn ich unterbrach und etwas zu meinen Absichten sagen wollte, so schnitt mir der Konzertmeister das Wort ab und meinte: »Wissen Sie, Maestro, zeigen Sie uns doch einfach, was Sie wollen.« Der Spott in seiner Stimme war unüberhörbar.

Es war grauenvoll, und ich war froh, als ich schweißgebadet nach zwei Stunden den Konzertsaal verlassen konnte.

Nach der Probe saß ich in einem Café in der Nähe des Konzerthauses. Ich war in Gedanken versunken, völlig frustriert und merkte gar nicht, dass jemand vor mir stand.

»Entschuldigung, Maestro.«

Ich zuckte zusammen.

»Gestatten Sie, dass ich mich einen Moment zu Ihnen setze?«

Es war die erste Klarinette, ein älterer Herr, vielleicht gegen die Sechzig, fast kahl mit einem Kinnbart.

»Bitte.«

Ich wies auf den leeren Stuhl, er setzte sich, stellte sein Instrument sorgfältig auf den Boden, bestellte beim Kellner, der schon neben ihm stand, einen doppelten Espresso und blickte mich dann lange an.

»Schauen Sie«, meinte er schließlich, »nehmen Sie’s nicht so tragisch. Ich bewundere Sie aufrichtig für die Kraft, die Sie noch haben.«

Ich blickte ihn entgeistert an. »Wie meinen Sie das?«

»Nun«, er lehnte sich zurück, »Sie sind von der Musik gefangen, und Sie setzen Ihre ganze Kraft ein, um Ihre Vorstellungen zu verwirklichen. Das konnte ich deutlich feststellen. Es muss für Sie sehr ernüchternd gewesen sein, was vorhin geschehen ist. Aber Sie müssen das Orchester auch verstehen.«

»Ich denke, dass jeder von Ihnen Gott danken sollte, dass er von ihm seine Begabung erhalten hat und damit nun so einen wunderbaren Beruf ausüben kann, den schönsten, den es wahrscheinlich gibt.«

»Jaja, da haben Sie wohl Recht. Jeder von uns hat wahrscheinlich einmal so gedacht, sonst wäre er wohl nicht Musiker geworden. Aber schauen Sie, jeder Beruf wird zur Routine. Versetzen Sie sich einmal in unsere Lage. Da kommt alle paar Wochen ein neuer Orchesterleiter, der meint, nur er habe die richtige Auffassung von dieser Partitur und nur er könne diese Musik wiedererleben lassen. Er steht da vorn und dirigiert dieses Stück vielleicht zum ersten Mal, während wir es schon x-mal unter den namhaftesten Dirigenten gespielt haben, und jedes Mal musste es natürlich wieder etwas anders klingen, weil es selbstverständlich jeder Künstler anders interpretiert. Das verstehen Sie, oder?«

»Natürlich, aber ...«

»Sehen Sie, ich habe Karajan noch erlebt – und unter Ihrem Vater habe ich übrigens auch schon einmal gespielt. Bei ihm traute sich niemand zu widersprechen, auch wenn wir teilweise andere Ansichten von der Musik hatten. Er war ein Diktator und zugleich auch eine Autorität, und bei ihm wusste man schon im Voraus, woher der Wind weht und stellte sich auch darauf ein. Wir achteten uns gegenseitig und wussten genau, was wir voneinander verlangen konnten. Jetzt stellen Sie sich einmal diesen Gegensatz vor – da kommt ein junger Dirigent und will uns alte Hasen lehren, wie Brahms’ Erste aufzufassen ist, obwohl wir die bereits Dutzende von Malen unter den prominentesten Leitern gespielt haben. Sehen Sie, was ich damit sagen will?«

»Aber das ist doch Ihr Leben. Das ist der Weg, den Sie und tausende von anderen Menschen gewählt haben. Sie haben sich der Musik verschrieben und haben doch damit einen der großartigsten Berufe dieser Welt ergriffen – Sie können Menschen glücklich machen. Ist es für Sie nicht das Höchste, wenn Sie feststellen können, dass dem Zuhörer in der ersten Reihe vor Rührung eine Träne die Wange herunter läuft? Stellen Sie Ihnen nicht die Nackenhaare auf, wenn Ihnen nach einer gelungenen Vorstellung stehende Ovationen gezollt werden? Lohnt es sich nicht, dafür zu leben?«

Die erste Klarinette schaute mich fast etwas mitleidig an, nahm dann einen Schluck aus seiner Tasse, strich sich mit der Zunge über die Lippen und lehnte sich entspannt in seinen Stuhl zurück. Was mochte ihm jetzt wohl durch den Kopf gehen? Er blickte mit einem seligen Lächeln um den Mund verträumt ins Leere und schien nach den richtigen Worten zu suchen. Dann kippte er wieder nach vorne, stützte die Ellbogen auf den Tisch, faltete die Hände, legte sein Kinn auf die Daumen und rieb sich mit den Zeigefingern über den Mund.

»Ich weiß nicht recht, was ich Ihnen jetzt sagen soll.«

Ich wollte eben mit meiner Brandrede weitermachen, aber er gebot mir mit erhobener Hand Einhalt.

»Eigentlich haben Sie Recht. Wir haben einen fantastischen Beruf, einen Job, in dem viele Leute ein Paradebeispiel der Selbstverwirklichung sehen.«

»Es ist doch kein Beruf, sondern vielmehr eine Berufung.«

»Sehen Sie, Sie sind voller Ideale. Der Himmel hängt für Sie voller Geigen und das im wahrsten Sinne des Wortes. Eigentlich sind Sie aber ein Gefangener, die Musik hat Sie eingenommen.«

Schreckenserfüllt und mit offenem Mund starrte ich ihn an. Ich – ein Gefangener der Musik? Der Kerl war wohl nicht recht bei Trost. Wusste er überhaupt, was er da sagte, welch ungeheure Behauptung er da aufstellte? Und das kam ausgerechnet von einem Musiker. Ich konnte es nicht fassen.

»Sehen Sie?« meinte er lächelnd. »Jetzt denken Sie doch bestimmt, dass ich ein alter Spinner bin. Vielleicht haben Sie sogar Recht, aber wissen Sie, ich tue trotzdem das, wozu ich mich berufen fühle. Sicher wäre ich lieber Solist geworden, daran arbeitet jeder, der sich auf ein Konservatorium wagt. Nun habe ich’s aber nur zum Orchestermusiker gebracht. Das ist auch nicht schlecht. Ich habe ein geregeltes Einkommen, darf dafür meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen und habe zusätzlich einen Lehrauftrag am Konservatorium unserer Stadt. Aber ich bin nicht berühmt. Die wenigsten Konzertbesucher kennen meinen Namen und schätzen trotzdem meine Arbeit. Dafür kann ich in der Anonymität untertauchen und stehe nicht immer im Rampenlicht. Diese Vorstellung war zuerst furchtbar für mich – ich, der jahrelang daraufhin gearbeitet hatte, um meinen Namen einmal groß auf Plakaten zu sehen. Wenn ich mich jetzt sehe und zugleich Sie betrachte, so bin ich froh, dass es mit mir nicht so weit gekommen ist. Wie bereits gesagt: Sie sind gefangen von der Musik, Sie sind Ihr Sklave. Ihre Verbissenheit ist deutlich festzustellen. Haben Sie sich schon überlegt, dass es außer Musik auf dieser Welt noch viele andere Dinge gibt, die ebenso schön und wichtig sind? Glauben Sie, dass Sie mit der Musik alle Ihre Probleme lösen können?«

Mit Entsetzen hörte ich ihm zu. Das alles war doch wahr, was er da sagte. Aber aus seinem Munde klang es falsch. Alles, was ich bis anhin als richtig erachtet hatte, sollte nun einfach falsch sein, weil mir das ein frustrierter Möchtegernsolist auf die Nase bindet?

Aber der war ja gar nicht frustriert! Das irritierte mich.

Er trank seinen Espresso aus, lehnte sich nach vorne und schaute mir tief in die Augen.

»Wachen Sie auf! Noch können Sie es. Lassen Sie sich von der Musik nicht völlig vereinnahmen. Ignorieren Sie den großen Schatten ihres Vaters, der über ihnen schwebt. Machen Sie einfach Ihr Ding! Das ist das Einzige, was ich Ihnen raten kann. Den Rest müssen Sie alleine machen. Dirigieren Sie übermorgen dieses Konzert, es wird wunderbar, ganz gewiss. Lassen Sie sich nicht irritieren, lassen Sie sich von den erfahrenen Musikern tragen. Und machen Sie dann einmal eine Pause. Schalten Sie ab, entspannen Sie sich, überdenken Sie einmal Ihre Situation – und zwar ohne Musik. Fliegen Sie weit weg, in die Karibik oder was weiß ich. Ohne Platten, ohne Partitur, ohne Literatur über Musik.«

»Ich kann das nicht. Ich kann ohne Musik nicht leben.«

»Nun – so sind Sie süchtig, und die Musik ist Ihre Droge.« Er schüttelte den Kopf. »Natürlich können Sie es. Natürlich können Sie ohne Musik leben. Jedermann kann das. Man muss es nur wollen.«

»So ist Musik für Sie unwichtig ...«

»Unsinn! Ich bin Musiker. Natürlich ist Musik etwas Wichtiges und etwas enorm Schönes. Aber Sie dürfen sich nicht komplett von ihr einnehmen lassen. Musik kann eine Droge sein wie Alkohol oder andere Rauschmittel. Sie unterscheidet sich durch letztgenannte nur durch eines: Sie bedingt keine körperliche Abhängigkeit. Aber die psychische Wirkung kann genauso schlimm sein, wenn nicht noch schlimmer. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich habe noch eine Klarinettenstunde zu geben.«

Er legte ein paar Münzen auf den Tisch, nickte mir kurz zu und erhob sich. Als er im Begriff war wegzugehen, drehte er sich nochmals um, beugte sich zu mir hinunter und versicherte mir mit einem süffisanten Lächeln:

»Fürchten Sie sich nicht vor der Aufführung. Wir werden das schon schaukeln. Und etwas noch: An der Art, Ihre Eins zu schlagen, müssten Sie noch etwas arbeiten.«

Und dann war er weg.

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