Читать книгу Pultstar - Martin Geiser - Страница 18
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ОглавлениеIch erinnere mich, etwa zwanzig Jahre ist es wohl her, an die Vorbereitungen zu einem Auftritt, einem unserer letzten gemeinsamen, an dem Brahms‘ erstes Klavierkonzert auf dem Programm gestanden hatte.
Wir probten damals hier in unserem Ferienhaus in Gigaro und beschäftigten uns intensiv mit dem zweiten Satz. Vater spielte mir am Flügel vor, wie er die Orchestereinleitung des Adagios zu gestalten gedachte: ein fließendes Tempo, sehr streng und straff aufgebaut, ohne jegliche Schnörkel. Ich erschrak, als ich diese wunderbare Musik hörte, die für mich plötzlich so kalt und schroff klang.
Nach seinem Vorspiel sah er zu mir hoch und bemerkte wahrscheinlich mein Erstaunen über seine Auffassung der Partitur. Er runzelte die Stirn und stellte fest, dass er mich überfordert hatte. Da lächelte er leicht und erhob sich von seinem Hocker.
»Vergiss, was du soeben gehört hast«, meinte er. »Mache das, was du für richtig hältst und lasse dich von dem, was du soeben gehört hast, nicht beeinflussen.«
Als ich am Flügel saß, legte er seine Hand auf meine Schulter und flüsterte in bedeutungsschwangerem Tonfall, kaum hörbar: »Aber denk immer daran: Es ist Brahms.«
Damit machte er es mir enorm schwierig. Er setzte sich auf einen Stuhl neben dem Flügel und lehnte sich zurück. Ich sah ihn nicht an, wusste aber, dass er jetzt die Augen geschlossen und die rechte Hand leicht erhoben hatte, bereit zum Mitdirigieren.
Ich beugte mich vor und begann mit dem ersten Klaviereinsatz. Ruhevoll, gleichmäßig schreitend, sehr ausdrucksvoll, darauf bemüht, die vom Orchester vorgegebenen Klangfarben weiterzutragen und voll zum Ausdruck zu bringen.
Ich bemerkte, dass Vater die Hand gesenkt hatte und nicht mehr mitdirigierte. Da brach ich ab und blickte ihn an. Er saß aufrecht da, die Arme verschränkt und die Lippen fest zusammen gepresst.
Er blickte mir direkt in die Augen und sagte dann: »Das war wunderschön, mein Junge.«
Ich wusste nicht, wann er mich das letzte Mal so genannt hatte. Auf jeden Fall lief es mir eiskalt den Rücken runter. Zugleich fühlte ich mich aber völlig hilflos, da ich mit seiner Bemerkung nichts anzufangen wusste.
Er holte tief Luft, beugte sich vor zu mir und wiederholte noch einmal: »Das war wunderschön, aber es war nicht Brahms.«
Ich blickte ihn erstaunt an.
»Es war alles, was die Romantik ausmacht«, fuhr er fort. »Es war ausdrucksvoll, molto espressivo, mit großer Sensibilität vorgetragen. Ich konnte beinahe den Flügel weinen hören.«
Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Ich verstand nicht, was er denn aufgrund seiner Beschreibung an meinem Spiel auszusetzen hatte.
Dann meinte er: »Bitte, lass mich mal an den Flügel. Ich möchte dir zeigen, was ich meine.«
Ich erhob mich und stellte mich hinter ihn. Er ließ sich seufzend auf den Klavierstuhl nieder und blieb wie versteinert sitzen. Dann hob er den Zeigfinger und ließ ihn ganz leicht kreisen. Seine Lippen waren leicht gespitzt, und er blickte zur Decke. Er drehte sich gegen mich und suchte meinen Blick.
»Hörst du das Orchester?«, fragte er. »Du musst zuerst das Orchester hören: das herrliche fallende Thema des Fagotts, welches diesen Satz mit einer Melodie beginnt, die danach von den Streichern weitergetragen wird. Hörst du’s?«
Er blickte mich fragend an. Wahrscheinlich fand er in meinem Gesicht nicht die Bestätigung, die er sich gewünscht hatte, denn er lächelte milde und schüttelte den Kopf. Dann griff er nach meiner Hand und zwang mich sanft, neben ihm auf dem Klavierstuhl Platz zu nehmen.
»Schau, wir müssen uns zuerst die Orchestereinleitung anschauen. Ich habe sie dir vorher vorgespielt. Aber da gibt es noch mehr darüber zu sagen, noch viel mehr. Hör gut zu!«
Und dann spielte er den Orchesterpart nochmals, sang dazu einzelne Stimmen mit, brach ab, wiederholte und wechselte die Stimmen, sang einmal die Celli, dann die Flöte, stellte das Ganze nach und nach zusammen, erklärte, analysierte, ohne Hast, geduldig, aber eindringlich, und mit einer Logik, die mir den Mund offenstehen ließ. Diesen Orchesterteil, der lediglich etwa zwei Minuten dauert, hatte er mir nach einer Stunde fertig erklärt und dargelegt. Die Kälte, die ich zu Beginn empfunden hatte, war verschwunden und hatte Raum für eine einleuchtende und unabdingbare Musik geschaffen. Er strahlte mich an, da er merkte, dass wir gleich fühlten und dass ich seine Welt verstanden hatte. Dann erhob er sich und sagte:
»Und jetzt dein Klaviereinsatz. Kein Angst, er wird perfekt klingen.«
Ich setzte mich an den Flügel und ließ mir die Einleitung nochmals durch den Kopf gehen. Er stand daneben, eine Hand auf den Flügel gelegt, mir den Rücken zugewandt, und ich wusste, auch wenn ich sein Gesicht nicht sehen konnte, dass er in diesem Moment das Gleiche wie ich fühlte. Wir hörten es in uns. Wir waren eins.
Ich ließ den Kopf leicht nach vorne fallen, hob die Hände, berührte die Tasten und begann.
Als ich geendet hatte, blieb ich sitzen, starrte die Steinway-Aufschrift vor mir an und kam langsam wieder in die Welt jenseits der Musik zurück. Ich suchte Vaters Blick, er schaute mir in die Augen. Es brauchte keine Worte, wir hatten es erlebt, und es war richtig so.
Das war mein Vater.
Ich glaube, das war einer der wenigen Momente gewesen, in dem ich mir seinen aufrichtigen und uneingeschränkten Respekt verdient hatte. Ich wünschte, wir hätten uns noch häufig so blind verstehen können.