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Denn nun sitze ich hier in La Croix Valmer, in unserem wunderschönen Ferienhaus am Plage de Gigaro an der Côte d’Azur und lächle, während ich mir meine todernsten Fantasien durch den Kopf gehen lasse.

Ich blicke wieder zum Fenster hinaus, lehne mich in meinen Stuhl zurück und lasse meinen Blick durchs Zimmer schweifen. Meine Augen schmerzen von der flackernden Helligkeit des Bildschirms, doch noch gönne ich mir keine Ruhe. Mein Blick fällt auf eine zusammengefaltete Seite einer Zeitung, die in der Ablage auf dem Schreibtisch liegt und die Vater wohl von einer Konzertreise mit nach Hause genommen hat. Es handelt sich um das herausgerissene Feuilleton des Boston Globe, und ich entdecke darin einen Artikel, unter dem ein Bild von Vater abgedruckt ist.

Merkwürdig, gewöhnlich scherte er sich keinen Deut um die Meinung der Musikkritiker. Es musste sich also um einen äußerst positiv verfassten Artikel handeln, der auf seine starke Zustimmung gestoßen war, sonst hätte er ihn nicht aufbewahrt.

Ich greife nach der Seite und beginne zu lesen:

»Nie zuvor habe ich Brahms so musiziert gehört. Victor Steinmann ist es gelungen, seiner Zuhörerschaft einen Brahms zu präsentieren, der noch für sehr viel Gesprächsstoff sorgen wird und der uns den immer wieder falsch schubladisierten Romantiker in einem neuen Licht sehen lässt.«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch, blicke von der Zeitung auf und erinnere mich: Vater ist anfangs dieses Jahres in den Vereinigten Staaten unterwegs gewesen, wo er mit einem amerikanischen Orchester in verschiedenen Städten einen Brahms-Zyklus zum Besten gegeben hat.

Der Musikkritiker der vor mir liegenden Zeitung ist ein großer Bewunderer von Vaters Arbeit. Er ist mir bestens bekannt und hat vor Jahren einen grässlichen Verriss über mich verfasst. Ich schlage die Augen nieder und starre erneut auf den Titel des Artikels.

Entromantisierter Brahms.

Ich schlucke leer und lese weiter:

»Maestro Steinmann verstand es, das Publikum mit viel Feingefühl und absoluter Transparenz durch die Partitur zu führen. Er vermied jeden Anflug von Sentimentalität und war fest gewillt, dem Auditorium zu zeigen, wo Brahms seiner Meinung nach hingehört – nämlich in die Sparte der Klassik. Es war unglaublich, mit anhören zu dürfen, wie Steinmann mit dem Orchester vom ersten Ton an in eine ganz andere Welt eintauchte, als wir es uns bisher von einem Brahmswerk gewöhnt waren. Zuweilen spröde, oft hart und absolut strikt dem klassischen Ton untergeordnet. Das Orchester folgte dem Maestro auf beinahe wundersame Weise und setzte zu einer Leistung an, wie wir sie schon lange nicht mehr von dieser Formation hören durften.«

Wieder blicke ich auf und starre ins Leere. Nun habe ich Klarheit über den Grund, weshalb der Artikel aufbewahrt worden ist.

Entromantisierter Brahms – genau, was Vater immer vorgeschwebt hat. Ich erinnere mich gut an seine Wutausbrüche, wenn er etwas über den Romantiker Brahms gelesen oder gehört hat.

»Alles Dilettanten!«, tobte er in solchen Augenblicken. »Jedes Kind weiß doch, dass Brahms nichts mit Romantik zu tun hat. Jeder, der eine Partitur lesen und Strukturen erfassen kann, muss doch den Klassiker in diesem Komponisten erkennen. Die Architektur, die Strenge, die Ökonomie, der Aufbau, mein Gott, was soll das mit Romantik zu tun haben? Und dann vor allem der Ton, der vorherrscht. Man kann doch nicht so verbohrt sein und ihn nur aufgrund seiner Lebensdaten einer Epoche zuschreiben, mit der er nur am Rande etwas zu tun hat!«

Ich war jeweils nicht gewillt, auf solche Wutausbrüche zu reagieren, auch wenn ich mit ihm nicht einer Meinung war. Meine Argumente hätten auf keine Art und Weise ausgereicht, um ihn auch nur ansatzweise in die Schranken weisen zu können. Zu überlegen war sein Fachwissen, zu mächtig seine Persönlichkeit und zu raffiniert seine Rhetorik.

Scheinbar hatte er es während seiner USA-Tournee also wieder einmal geschafft, das Publikum, oder zumindest die Kritiker, von seinen Ansichten, was Brahms betrifft, zu überzeugen.

Keiner kann ihn wohl besser verstehen als ich.

Pultstar

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