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Niemand würde je wieder den grauenvollen Aufschrei zu Beginn des letzten Satzes von Sibelius’ Erster mehr hören. Vater hatte diese Symphonie zu einem seiner wenigen Schlüsselwerke außerhalb der deutsch-österreichischen Musikliteratur gemacht, das er häufig aufs Programm setzte. »Eine Aufführung von Sibelius’ E-Moll-Symphonie mit Victor Steinmann ist ein Erlebnis, ein Ereignis; wer immer ihm auch beigewohnt haben mag, er wird es nie mehr aus seiner Erinnerung bringen; dem Maestro gelingt es, eine Tragik ohnegleichen aufzutürmen, die im letzten Satz kumuliert und den ganzen Weltschmerz unverhohlen und mit einer eruptiven Kraft zum Ausdruck bringt«, hatte irgendein Kritiker in irgendeiner sich für wertvoll und aussagekräftig haltenden Musikzeitschrift zum Besten gegeben. Jedes Wort habe ich mir gemerkt.

Ich erinnere mich, wie ich zum ersten Mal Vater mit diesem Werk auf der Bühne erlebt habe: Es war in einer Probe, und ich durfte als kleiner Bub von sechs oder sieben Jahren im Parterre anwesend sein.

Ich saß also in einem Sessel, die Beine, die noch nicht bis zum Boden reichten, baumelten in der Luft, und ich hatte ein Comicheftchen vor mir auf den Knien, das ich aber bereits von vorne nach hinten und von hinten nach vorne ausgiebig studiert hatte und langweilte mich dementsprechend, da mich das, was vorne auf dem Podest geboten wurde, nicht wirklich interessierte. Ich war noch zu klein. Manchmal blickte ich auf, besonders wenn Vater eine harsche Anweisung gab.

»Kann ich die Oboe noch einmal hören, oder haben Sie sie etwa gehört?«

»Meine Herren, Vibrato zu spielen ist keine Kunst, sondern ein Handwerk, also versuchen Sie doch bitte nicht, kunstvoll zu wirken.«

»Bässe! Mein Gott! Haben Sie etwa Minderwertigkeitskomplexe? Ihr Ding ist doch groß genug oder etwa nicht?«

So etwa könnte es geklungen haben, so habe ich Vater oft erlebt. Mit einem verklärten Lächeln lasse ich mir solche Anweisungen wieder durch den Kopf gehen.

Damals war niemandem zum Lachen zumute gewesen, weder mir noch den Musikern – und dann kam dieser letzte Satz von Sibelius’ erster Symphonie. Forte-Einsatz der Violinen, gefolgt vom Blech.

Ich blickte auf, doch wohl mehr aus Langeweile, weil Micky Maus und Donald Duck beim x-ten Male wirklich nicht mehr interessant waren und registrierte, wie Vater den Stock senkte, nach unten auf seine Schuhspitzen starrte und den Kopf schüttelte. Er war aufgestanden, um diesen Einsatz zu geben – sonst probte er eigentlich meistens sitzend – und setzte sich jetzt wieder auf seinen Stuhl, den Kopf immer noch gesenkt.

Es war mucksmäuschenstill im Orchester, und ich sank in meinen Stuhl zurück, den nächsten Wutausbruch meines Vaters erwartend. Doch er blieb still. Wie hypnotisiert starrte ich auf Vater, der seinen Kopf langsam hob und ins Orchester blickte. Sein Blick war verändert, ich wusste nicht, ob er ins Leere starrte oder ob er einen bestimmten Musiker fixierte. Da hob sich sein Kopf noch ein wenig, und ich stellte fest, dass er jetzt einen Blick in die Runde warf, wahrscheinlich jeden Musiker von kurz anblickend, die Augen dämonisch flackernd, nicht von dieser Welt. Es war nach wie vor kein Pieps zu hören, wie gebannt studierte ich Vaters Gesicht und merkte, dass er seine Lippen nun leicht gespitzt hatte und den Mund kaum bemerkbar öffnete.

Er blieb sitzen und hob erneut seinen Taktstock. In Sekundenschnelle machten sich die Musiker bereit. Mit einer leichten Aufwärtsbewegung gab er den Einsatz. Es war fast nur das Zucken in seinem Handgelenk zu beobachten gewesen. Ein Nichts für einen Forte-Einsatz.

Doch was dann kam ...

Ein Aufschrei, wie ich ihn noch nie in meinem Leben gehört hatte. Sämtliche Nackenhaare stellten sich mir auf. Die Welt um mich herum schien sich zu verändern, bis sie schließlich inexistent wurde, und vor mir öffnete sich eine Türe, die mich in eine andere Dimension führte, in der ein kräftiger Sog mich packte, von mir Besitz ergriff und mich nicht mehr losließ. Während der ersten paar Takte starrte ich zunächst noch auf das Podest, dann schloss ich die Augen und lauschte mit großer Faszination dem, was sich vor mir abspielte. Nie hatte ich zuvor eine solch gewaltige Kraft aus der Musik vernehmen können.

Vater brach nicht mehr ab, er ließ den ganzen Satz durchspielen. Wenn ich von Zeit zu Zeit die Augen wieder öffnete, konnte ich feststellen, dass seine Dirigierbewegungen sehr klein, fast unerkennbar waren, und trotzdem schienen diese dem Orchester voll und ganz zu genügen. Nachdem das letzte Pizzicato verklungen war, herrschte lange Stille. Gebannt starrte ich auf meinen Vater.

Er senkte seinen Stock, reichte ihn dem Konzertmeister, stand auf und lief zum Ausgang, ohne ein Wort zu verlieren. Dabei blickte er mich kurz an und deutete mit einer Kopfbewegung, dass ich ihm folgen sollte. Ich kletterte von meinem Stuhl runter, ließ meinen Comic vor lauter Aufregung auf dem Boden liegen und rannte ihm nach, konnte ihn jedoch nicht vor seiner Garderobe einholen.

Dort fand ich ihn auf seinem Ledersofa sitzend, völlig in sich zusammengesunken. Das lange, dunkle Haar fiel ihm wie ein Vorhang in die Stirn. Er schien auf eine merkwürdige Art und Weise völlig entrückt zu sein und beachtete mich zunächst überhaupt nicht, als ich im Türrahmen auftauchte. Nichts mehr war von dem stolzen Maestro übriggeblieben, der noch vor wenigen Augenblicken im Stechschritt und mit erhobenem Haupt die Bühne verlassen hatte.

Er blickte auf, als ich in die Garderobe trat, und ich wusste nicht, ob ich weitergehen durfte. Es herrschte völlige Stille, was mich zusätzlich verunsicherte. Da breitete er die Arme aus, und ich rannte auf ihn zu, ließ mich von ihm umarmen und setzte mich auf seinen Schoss. Er drückte meinen Kopf an seine Brust, ich vernahm eine Art Keuchen, das stoßweise aus ihm herauskam, gleichzeitig hob und senkte sich seine Brust. Ich wusste nicht, ob er so außer Atem war oder ob er weinte. Als ich aufblickte und in seine feuchten Augen sah, wusste ich, dass er Tränen vergossen hatte.

»Fabrice«, flüsterte er, »Fabrice. Du bist ja auch noch da. Ich habe dich ganz vergessen.«

»Papa«, erwiderte ich, »ich hab dich lieb.«

»Und ich dich. Wenn ich nur in Worte fassen könnte, wie viel du mir bedeutest. Fabrice, mein Sohn.«

»Papa, warum weinst du?«

»Weil es so sein muss, Fabrice. Weißt du, manchmal müssen die Menschen einfach weinen, manchmal brechen die Tränen einfach so aus einem heraus. Es muss nicht sein, dass man traurig ist, weißt du. Glaube nicht, dass ich immer unglücklich bin, wenn du mich weinen siehst. Schau, ich weine häufig auch, wenn ich sehr, sehr glücklich bin, wenn mich Freude überkommt, wenn ich, wie vorher in der Probe, in der Musik die Wirklichkeit erlebt habe.«

Ich zog die Nase kraus. »Papa, was ist das: die Wirklichkeit erleben?«

»Die Wirklichkeit, Fabrice, die Wirklichkeit. Hat dir die Musik vorher gefallen?«

»Oh ja, Papa. Ich habe ganz aufmerksam zugehört, und es war irgendwie unheimlich und geheimnisvoll. Irgendwie habe ich mich gefürchtet. Aber es war sehr schön.«

»Es war schön. Ja, siehst du, Fabrice. Ich glaube, du hast vorher auch die Wirklichkeit erlebt. Die Musik hat dich gefangen genommen und dich nicht mehr los gelassen. Du hast alles rund um dich herum vergessen und warst drin.«

»Wo drin war ich denn, Papa?«

»In der Musik, mein Sohn, in der Musik.« Und da wurde Vater wieder von einem Weinkrampf überfallen. Er schlug die Hände vors Gesicht, und sein ganzer Körper schüttelte sich, so dass ich damals wirklich Angst um ihn hatte.

»Papa, bist du krank? Hast du Schmerzen?«

»Ich liebe dich, Fabrice. Glaub mir, einmal wirst du mich verstehen, und du wirst dich an meine Worte erinnern.« Er wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln und erhob sich. »Komm, lass uns ein Eis essen gehen.«

Natürlich erinnerte ich mich an seine Worte. Immer wieder. Auch jetzt, wenn ich hier in Gigaro sitze, einen Wodka trinke und mir diese Bilder aus der Vergangenheit wieder in Erinnerung rufe. Immer wieder sehe ich Vater vor mir auf dem schwarzen Ledersofa, nach vorne gebeugt, in sich hinein schluchzend. Er wird nie wieder weinen können.

Eine Träne läuft über mein Gesicht.

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