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Kapitel 6

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Die Kälte kroch durch ihre Kleidung und ließ sie frösteln. Ariane zitterte und hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie sich befand. Sie hockte mit angezogenen Knien auf dem Rücksitz von Ellas Volvo C30 und spielte bereits das fünfte Mal mit dem Gedanken auszusteigen, um ihren Koffer aus dem Kofferraum zu holen, damit sie sich wärmere Sachen anziehen konnte. Ella schlief. Sie saß vornübergesunken auf dem Lenkrad und gab immer wieder einen Seufzer von sich. Hin und wieder schrie sie leise auf, ruckte hoch, ohne dabei aufzuwachen.

Ariane wischte mit dem Handrücken über das beschlagene Seitenfenster und bemühte sich, draußen in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Außer der Nacht sah sie nichts. Es war finster. Kein Stern am Himmel zu sehen. Keine Lichter in der Ferne. Sie fragte sich, ob der Fährmann überhaupt etwas erkennen konnte. Ariane drehte den Kopf und blickte in Richtung Leitstand des kleinen Bootes. Hinter den Fenstern sah sie nur schwache Schemen und das Glimmen einer Zigarette. Der Bekannte Ellas, der den Fährbetrieb führte, war ein alter Mann mit hagerem Gesicht, vollem Bart und wenig Haaren auf dem Kopf. Er wirkte wie der Henker aus einem Horrorfilm. Ariane konnte sich nur nicht mehr erinnern, an welchen. Zu allem Übel trug er noch einen dieser Ölmäntel, der in der Dunkelheit gruselig auf Ariane wirkte.

Mach dir nichts vor, sagte sie ich. Das einzig Gruselige, was momentan passiert, ist das, was in Boden und Luleå vor sich geht.

Ariane rieb sich über die Oberarme. Die Kälte war nicht mehr auszuhalten und so würde sie unmöglich schlafen können. Sie beugte sich zwischen den Sitzen nach vorne und nahm den Wagenschlüssel an sich, den Ella auf die Mittelkonsole vor der Handbremse gelegt hatte. Dann klappte sie den Beifahrersitz nach vorn, öffnete die Tür und zwängte sich aus dem Wagen. Mit eng umschlungenen Armen ging sie zum Kofferraum, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn. Es klemmte. Sie brauchte drei Anläufe und war froh, als sie ein vertrautes Klacken hörte. Die Haube schwang hoch. Ariane beugte sich über ihren Koffer, fischte einen Rolli heraus und eine Windjacke. Den Pullover zog sie sich über ihre Bluse und erwartete, sich gleich wärmer zu fühlen. Enttäuscht musste sie feststellen, dass die Wolle des Pullovers eiskalt war und sie nur noch umso mehr fror. Rasch streifte sie die Jacke über und zog den Reißverschluss bis zum Kinn hoch.

Sie schloss die Haube. Eigentlich wollte sie sofort wieder in den Wagen gehen, doch dann erstaunte sie sich selbst, indem sie den Weg Richtung Leitstand einschlug. Vor der Kabinentür blieb sie stehen und klopfte. Als keine Antwort kam, drehte sie den Knauf. Die Tür schwang nach innen auf. Warme, stickige Luft wehte ihr entgegen. Rasch trat Ariane ein und drückte die Tür wieder zu.

»Was wollen Sie?«

Die Stimme des Mannes war ein Brummen. Sein Englisch hatte einen deutlichen Akzent. So wie er da am Ruder stand, die Zigarette im Mundwinkel, den Blick starr geradeaus gerichtet, die Ärmel seines dicken Pullovers hochgekrempelt, sodass auf seinen Unterarmen schlangenhafte Tätowierungen sichtbar wurden, glaubte Ariane, er würde sich jeden Moment steif zu ihr umdrehen, eine Axt nehmen und ihr den Schädel damit spalten.

Unsinn!

»Ehrlich gesagt, ist mir kalt und ich kann nicht schlafen. Ich dachte mir, ich leiste Ihnen ein wenig Gesellschaft. Immerhin haben Sie es hier muckelig warm.« Arianes Blick wanderte zu der Ölheizung, die in der Ecke der Kabine stand. Sie war über ihr Netzkabel mit einer Steckdose verbunden, die wahrscheinlich Strom vom Generator im Bauch des Fährbootes erhielt.

»Hm«, machte der Skipper.

»Haben Sie ein Radio?«

Er drehte tatsächlich den Kopf, doch statt Ariane anzusehen, nickte er nur mit dem Kinn auf eine Stelle seitlich vom Armaturenbrett, auf dem ein altes Kofferradio stand.

»Haben Sie schon Nachrichten gehört?«

»Hm.«

Ariane deutete das als ein Nein und beugte sich vor, um das Radio einzuschalten. Es knackte. Dann war nur Rauschen zu hören. Ariane streckte die Hand nach dem Frequenzregler aus, da ließ die schneidende Stimme des Skippers sie zusammenzucken.

»Nicht anfassen! Der Sender ist eingestellt. Aber hier draußen haben wir keinen Empfang. Wir kommen in zwei, zweieinhalb Stunden in Ufer- und damit in Sendereichweite.«

»Haben Sie denn vorhin noch mal reingehört?«

»Hm.«

Ariane verdrehte die Augen. »Und?«

Jetzt sah er sie an. Sein Blick war trüb. Ariane glaubte, der Mann würde jeden Augenblick umkippen und nicht mehr aufstehen. Doch er stand wie ein Fels in der Brandung und umklammerte das Ruder, ohne vor oder zurück zu wanken.

»Die haben was von einer Virenepidemie gesagt.« Das Thema schien für ihn damit erledigt zu sein. Er wandte den Blick wieder nach vorn.

»Ganz toll.« Ariane verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Windjacke gab ein quietschendes Geräusch von sich. »Gibt es von dort, wo wir anlegen, eine Möglichkeit, weiterzureisen und zu einem Flughafen zu gelangen.«

»Hm.«

Ariane seufzte und wollte den Skipper gerade in den Stiefel stellen, als er wider Erwarten weiterredete.

»Sie kommen von dort aus auf die Autobahn. E4 und E10. Die E4 führt zur finnischen Grenze nach Tornio. Im Nordwesten gibt es einen kleinen Flughafen, über den Sie nach Helsinki kommen, wenn Ihnen das weiterhilft.«

Es lebe die EU!, dachte Ariane. Die Grenze zwischen Schweden und Finnland war offen. Sie brauchte kein Visum. Und Helsinki klang nicht übel, wenn sie somit dem ganzen Schlamassel entfliehen konnte. Doch was war mit Schweden? Was mit Ella? Und Liam? Der musste sich doch längst in der Luft auf dem Weg nach Luleå befinden. Möglicherweise bekam seine Maschine gar keine Landeerlaubnis und wurde umgeleitet.

»Danke«, sagte Ariane und wandte sich zum Gehen. »Ich werde die Augen ein wenig zutun. Können Sie mich wecken, wenn wir wieder in Sendereichweite sind?«

»Hm.«

Wie auch immer.

Ariane kehrte zum Auto zurück, setzte sich diesmal jedoch auf den Beifahrersitz und stellte ihn in eine halbe Liegeposition. Sie holte ihr iPhone aus der Tasche und drückte kurz die Home-Taste. Das Display erwachte zum Leben. Kein Netz. Und die Akkustandanzeige näherte sich bedenklich dem roten Bereich. Ariane wischte mit dem Finger über das Display, entsperrte es und wählte sofort das Einstellungenmenü, um den Flugmodus zu aktivieren. Damit unterband sie die ständige Suche nach einem verfügbaren Netz und würde etwas Akkuleistung sparen. Sie schob das Handy in die Jackentasche, verschränkte die Arme vor der Brust lehnte den Kopf an die Nackenstütze des Sitzes. Über den Gedanken, wie sie dem ganzen Mist, in den sie sich manövriert hatte, entfliehen konnte, schlief sie ein.

* * *

Das tiefe Brummen eines Nebelhorns holte Ariane Hellenberg aus dem Schlaf. Sie hob träge die Lider und glaubte zu träumen. Entschlossen, einfach weiterzuschlafen, fielen ihr wieder die Augen zu, doch der erneute Ton des Horns und ein Stups in ihre Seite ließen sie schlagartig wach werden. Verschlafen blinzelte sie und drehte den Kopf zur Seite, nur um festzustellen, dass ihr Nacken steif war. Ihre Beine taten weh, die Schultern waren verspannt. Sie verzog das Gesicht und drehte den Kopf etwas weiter.

»Guten Morgen!«, sagte Ella neben ihr. »Du schnarchst.«

Morgen? Erst jetzt fiel Ariane auf, dass es heller Tag war. Sie bewegte einen Arm, um auf ihre Uhr zu sehen.

»Neun.« Ella gab ein Brummen von sich, als wäre sie selbst nicht erbaut darüber, so lange geschlafen zu haben. »Dieser Mistkerl hat uns nicht geweckt, als er das Boot festgemacht hat.« Die Schwedin nickte in Richtung Ufer, während Ariane immer noch damit rang, ihre Gedanken zusammenzubekommen.

»Wo sind wir?«

»Sieht nach Sundom aus.« Ella schüttelte den Kopf. »Wir sind viel weiter nördlich als vereinbart.«

»Der Kapitän wollte mich wecken, wenn wir in Reichweite eines Radiosenders sind.«

»Na, wie du siehst, ist daraus nichts geworden. Ich bin ganz schön sauer.«

»Wo steckt der Kerl denn?«

»Ist an Land gegangen. Er will wohl die Konditionen für den Liegeplatz aushandeln.«

Ariane streckte sich und drückte die Beine unter Schmerzen durch. Dann beugte sie sich vor und drehte am Knopf in Ellas Autoradio.

»Oh, ich darf doch?«

»Sicher. Ich bin auch gerade erst wach geworden.«

»Du hast geschlafen wie ein Murmeltier.«

»Schwindel mich nicht an, Ariane, ich weiß, dass ich schlecht geträumt habe und mehrmals im Schlaf hochgeschreckt bin.«

Aus dem Radio kam zunächst ein Rauschen. Ariane probierte eine andere Sendetaste und bekam eine Station herein.

»… die Vorfälle in Boden sind noch immer nicht verifiziert. Nach Angaben der Behörden, vornehmlich des Gesundheitsministeriums, handelt es sich um eine Virusepidemie, die von einem Touristen eingeschleppt wurde. Derzeit befindet sich Boden in Evakuierung. Infizierte werden in Quarantäneauffangstationen untergebracht, während die bisher als gesund eingestuften Einwohner in ein Zwischenlager zur Beobachtung gebracht werden, um einen weiteren Ausbruch der Krankheit zu vermeiden. Aus ungesicherten Pressequellen berichten zwei Reporter von einer Vertuschung der Angelegenheit. Angeblich sei das Militär vor Ort und habe ein Experiment mit Biowaffen durchgeführt, dem die gesamte Bevölkerung Bodens zum Opfer gefallen sei. Diesen Berichten nach soll niemand mehr in Boden am Leben sein. Das würde bedeuten, dass mehr als 19 000 Bürger …«

Ella schaltete das Radio aus. Tränen liefen über ihre Wangen.

Ariane beugte sich zu ihr hinüber und nahm sie in den Arm.

»Es ist genauso wie am See. Wie bei meinem Bruder und seiner Familie. Niemand will etwas wissen. Alle reden nur von einem Unfall oder einer Epidemie. Keiner sagt die Wahrheit.«

»Es tut mir leid.« Ariane kam sich hilflos vor. Ihr kam eine Idee. Sie nahm ihr Telefon und schaltete es ein. Die Batterieanzeige war fast leer und rötlich eingefärbt. Vielleicht reichte es noch für einen Anruf. Sie schaltete den Flugzeugmodus ab und wartete, bis das Gerät ein Netz fand. Anschließend wählte sie Liams Nummer. Zu ihrer Überraschung bekam sie ein Freizeichen. Nach zweimaligem Klingeln wurde am anderen Ende abgenommen.

»Hallo, Ari!«

»Liam. Wo bist du?«

»Noch unterwegs in einem Passagierflieger nach von Stockholm nach Lule…«

»Hast du die Nachrichten gehört?«, unterbrach Ariane ihn.

»Ja, offenbar sind deine mysteriösen Todesfälle auf eine Virenepidemie zurückzuführen.«

»Das glaubst du doch selbst nicht, sonst wärst du nicht unterwegs hierher.«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, sagte Liam. »Man hat mich geschickt, um mir ein Bild von der Situation zu machen.«

»Man hat dich geschickt«, echote Ariane tonlos. Sie wollte gerade etwas einwenden, was sicherlich in eine Grundsatzdiskussion ausgeartet wäre. Aber dafür blieb ihr keine Zeit. Und auch nicht genug Akkustrom.

»Ich erkläre es dir, wenn wir uns sehen. Wo bist du?«

»Außerhalb von Luleå. Der Ort heißt Sundom. Ich weiß nicht, etwa zwanzig Kilometer nördlich. Wir sind mit einer Fähre hierhergekommen. Ella ist bei mir.«

»Gut, bleibt dort. Mein Flug sollte erst gecancelt werden, aber wir haben nicht mehr genug Sprit für einen Rückflug. Wir werden so oder so in Luleå oder, falls die Epidemie um sich greift, in Tornio landen.«

»Tornio klingt gut.« Ariane holte tief Luft. »Der Fährmann sagte, von dort gehen Flüge nach Helsinki. Wäre also ein Notanker.«

»Ich werde nach Sundom kommen und gebe dir Bescheid, sobald ich in Luleå gelandet bin.«

»In Ordnung. Mein Akku ist fast leer, ich hoffe, ich finde irgendwo eine Steckdose.«

»Okay. Bis später, Ari!«

»Ja.«

Sie drückte die Verbindung weg und schaltete rasch das Display aus.

Liam O’Connell arbeitete nicht für Scotland Yard. So viel war sicher. Die schickten keinen Kriminalermittler von England nach Schweden, um eine Virenepidemie zu untersuchen. Sie war jetzt schon auf seine Erklärung gespannt.

Das Öffnen der Fahrertür ließ Ariane zusammenzucken. Ella machte Anstalten auszusteigen.

»Wohin …?«

»Der Skipper kommt zurück.«

Ariane sah den Mann in seinem Ölmantel den Anlegesteg heraufhumpeln. Er zog das linke Bein nach. Hinter ihm schüttelte ein Mann an der Anlegestelle den Kopf und scheuchte mit einer Handbewegung eine Frau ins Haus zurück.

Ella rief etwas auf Schwedisch.

Anscheinend war der alte Skipper auch ihr gegenüber nicht gesprächiger. Er antwortete in der Ariane gewohnten Weise.

»Hm.«

»Was hat er gesagt?« Ariane biss sich auf die Zunge. Wie doof von mir.

Ella sah sie an, als zweifle sie an ihrem Verstand. Sie wiederholte die Frage, diesmal auf Englisch.

»Gibt es Probleme?«

Der alte Mann erreichte den Bootsrand und deutete mit dem Daumen nach hinten. »Sie wollen uns nicht. Die Anlegestelle sei wegen der Epidemiewarnung in Luleå gesperrt und müsse für Rettungskräfte freigehalten werden. Wir fahren weiter nach Norden. In Råneå gibt es noch eine Möglichkeit anzulegen. Von dort gelangt ihr genauso auf die Autobahn.«

Ella runzelte fragend die Stirn.

»Tornio«, sagte Ariane. »Er meinte, es wäre das Beste, wenn wir von dort aus nach Helsinki fliegen.«

»Hm.«

»Hm?«, hakte Ariane nach, schaffte es aber nicht, seinen brummenden Tonfall zu imitieren.

»So habe ich das nicht gesagt.«

»Egal, ich …«

Ella schrie auf und deutete den Steg entlang. Am Ufer stürzte jemand mitsamt seinem Fahrrad um. Ein Scheppern war zu hören, als ein kleiner Fiat in ein Haus neben dem Anlegesteg krachte. Weiter hinten in der Bucht sah Ariane zwei Menschen, die eben noch am Strandufer mit einem Hund spazieren gingen, einfach umkippen. Der Hund rannte, blieb plötzlich stehen, schnüffelte und fiel seitwärts zu Boden. Er rührte sich genauso wenig wie die Menschen.

Ariane spürte, wie ihr das Blut in den Adern zu gefrieren schien. Entsetzt sah sie mit an, wie der Mann am Anlegesteg zusammenbrach. Aus dem Haus war ein Klappern und Poltern zu hören.

»Mein Gott, es ist hier!«, rief Ella.

Der Skipper hob die Brauen und legte den Kopf schief. »Hm?«

Eine Sekunde darauf schlug er hart auf dem Deck seiner Fähre auf.

Tot.

Ariane wusste, was als Nächstes kam. Nur noch sie und Ella waren übrig. Mit einer Mischung aus Panik, Angst und der stillen Gewissheit, dass alles in den nächsten Augenblicken zu Ende sein würde, ergab sie sich ihrem Schicksal.

Ellas Kopf fuhr herum. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Ariane an. »Was war das?«

Was war das?, dachte Ariane.

Ella fiel – wie in Zeitlupe.

Ihre Knie knickten weg. Sie sackte in sich zusammen, prallte auf die Planken neben dem Volvo. Sie war nicht sofort tot wie die anderen. Ihr Körper wand und verkrampfte sich in rasanten Zuckungen.

Dann nahm Ariane etwas am Rande ihres Bewusstseins wahr. Einen Reflex. Sie konnte ihn nicht genau zuordnen. War es ein Funke? Ein Geräusch? Ein Gefühl?

Was war das?, fragte sie sich und erinnerte sich an Ellas Worte und an das schlichte »Hm?« des Skippers, ehe er zusammenklappte und starb.

Ein Schwindelgefühl kam über sie. Sie sah doppelt, wankte, streckte eine Hand aus und hielt sich an der Dachkante des Volvos fest.

Komm schon, bring es zu Ende!

Ein schwarzes Tuch wurde über Ariane geworfen. Die plötzliche Dunkelheit wirkte beklemmend und riss die Journalistin in einen tiefen Schlund. Sie merkte nicht, wie sie fiel.

Und fiel.

Tiefer. Der Sturz dauerte scheinbar endlos, war haltlos, schnürte ihr die Kehle zu. Ihr gellender Schrei klang wie ein Tosen in ihren Ohren. Die Lungen brannten. Ihre Zunge wurde trocken. Die Augen tränten.

Dann war da nichts mehr.

* * *

Sie hatte diesen Song im Ohr. Eine engelsgleiche Stimme, die zu Gitarrenklängen sang. Ein Ohrwurm. Sie konnte sich noch gut an das Konzert der Band erinnern, die ihre eigene Interpretation von Mocheebas Enjoy the Ride zum Besten gab.

Colours and dreams, dachte sie und lächelte.

Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie zum Takt der Musik, die in ihren Gedanken so lebendig spielte, als würden Sängerin und Gitarrist direkt neben ihr stehen, mitgewippt.

With the moonlight to guide you

Feel the joy to be alive

The day that you stop running

Is the day that you arrive

And the night that you got locked in

Was the time to decide

Stop chasing shadows

Just enjoy the ride

Ariane Hellenberg konnte nicht wippen. Soweit es sie betraf, war sie gerade gestorben. Noch während sie darüber nachdachte, welchen Zeitraum das Wort gerade umfasste, sinnierte sie darüber nach, ob sich der Tod richtig anfühlte. Es war finster. Kalt. Sie hatte Schmerzen.

Du bist tot.

Stop chasing shadows.

Aber sie dachte. Sie atmete. Wenn das der Tod war, schien er nichts zu gleichen, wovon man unter den Lebenden berichtete. Keine Höllenhitze. Kein lichtes Paradies. Keine ewige Dunkelheit.

Ein Husten riss sie aus den Überlegungen. Es war ihr eigenes. Sie schmeckte Erbrochenes, gemischt mit Blut. Ariane wurde übel. Gedanklich schüttelte sie den Kopf.

Das war nicht der Tod.

Das war das beschissenste Leben, das sie sich vorstellen konnte.

Sie schlug die Lider auf und wünschte sich sofort, sie hätte es nicht getan. Der eiskalte Blick des Skippers starrte sie direkt an. Seine Zunge hing aus den Mundwinkeln. Die Pupillen waren trüb. Etwas seitwärts von ihm, direkt neben dem Wagen auf der Fährladefläche, lag Ella. Sie zuckte noch immer in Krämpfen. Ihr Körper bebte, bockte auf, schlug wieder auf den Boden. Der Kopf wand sich hin und her. Aus dem Mund spritzte unkontrolliert Speichel und die weißblonden Haare waren klatschnass.

Ariane hob leicht den Kopf. Ihre Wange löste sich aus einer Pfütze Erbrochenem. Angewidert strich sie sich über die Haut und das Haar und stellte fest, dass es völlig verklebt war. Sie würgte. Spätestens jetzt akzeptierte sie, dass sie noch lebte.

Sie und Ella. Als Einzige. Ariane blickte zum Ufer hinüber. Sundom war tot. Die gesamte Gemeinde war innerhalb weniger Sekunden gestorben. Aber was bedeutete es, dass sie überlebt hatte? War sie immun gegen das Virus? War es überhaupt ein Virus?

Vage erinnerte sie sich an die Wahrnehmung kurz vor ihrem Zusammenbruch. Aber sie konnte noch immer nicht einordnen, was sie überhaupt gespürt hatte. Ariane schloss die Augen und wollte begreifen, welches Gefühl sie vor ihrer Ohnmacht gehabt hatte.

Ein Funke. Es war ein Funke.

Aber den hatte sie nicht gesehen, sondern irgendwie wahrgenommen. Als würde er in ihr entstehen. In ihren Gedanken.

Ariane atmete tief durch und sog den Gestank der Kotze ein. Sie drückte sich vom Boden hoch, kam auf die Knie und rutschte auf allen vieren zu Ella hinüber. Sie nahm sie in die Arme, strich ihr über die Stirn und drückte sie an sich.

»Sch! Sch! Ruhig, alles wird gut.« Ariane merkte nicht einmal, wie hohl und unglaubwürdig ihre Worte klangen. Sie fand auch nicht die Kraft, sich an ihnen festzuklammern, um Hoffnung zu schöpfen. Alles, was sie sagen konnte, war, dass sie dankbar war, noch am Leben zu sein.

Tränen schossen ihr in die Augen. Sie schluchzte und weinte, bis selbst das zu anstrengend war. Apathisch starrte sie geradeaus, nichts um sie herum wahrnehmend und unentwegt durch Ellas Haar streichend.

»Alles wird gut. Alles wird gut.«

Ariane vermochte später nicht zu sagen, wie lange sie so dagesessen hatte. Ihr kam es wie Stunden vor, doch es hätten genauso gut Tage sein können. Irgendwann hörte Ella auf, zu zucken und sich zu winden. Ihr Körper zitterte noch. Die Lippen bebten und stießen immer wieder Zischlaute aus.

»Wir müssen fort«, sagte Ariane und löste sich von ihrer Freundin. Sie ging um den Wagen, öffnete die Beifahrertür, kehrte dann zu Ella zurück und packte die Schwedin unter den Schultern.

»Mein Gott, bist du schwer!« Sie schaffte es nur, den Oberkörper leicht anzuheben, und zog Ella schleifend über die Planken der Fähre. Mit einiger Mühe bugsierte sie sie auf den Beifahrersitz, schnallte sie an und drehte ihren Kopf so, dass er gegen die Fensterscheibe lehnte.

Ariane atmete tief durch. Sie suchte den Fahrstand der Fähre auf, fand einen Kanister mit Wasser und wusch sich notdürftig durch das Gesicht und die Haare. Den Gestank nach Erbrochenem wurde sie nicht los, aber zumindest konnte sie sich von den klebrigen Resten befreien. Sie zog Jacke und Pullover aus, warf beides achtlos fort und kehrte zum Volvo zurück. In ihrem Koffer fand sie einen zweiten Rolli und eine Strickjacke.

Sie setzte sich hinter das Steuer und dankte dem toten Skipper dafür, dass er bereits die Rampe heruntergelassen hatte. So startete sie den Motor und fuhr von Bord durch die leblosen Straßen Sundoms. Wo sie nur hinblickte, ob auf dem Asphalt, den Gehwegen, auf Rasen, Schaufenstern, an einer Tankstelle oder im Eingang eines Hofes – überall lagen Leichen. Die Menschen waren einfach zusammengeklappt und gestorben. Wie der Skipper. Und offenbar ging allen etwas voraus: eine Wahrnehmung und die verwirrte Frage, was das gewesen war.

Warum bin ich nicht gestorben?

Während Ariane den Wagen auf den Zubringer zur Autobahn lenkte, wandte sie den Kopf zur Seite und sah Ella an.

Warum Ella nicht?

Ihre schwedische Freundin schlief. Endlich hatte sie sich beruhigt und aufgehört zu zittern. Ihre Haut war schweißnass, das Haar verklebt. Das Blond hatte einen silberfarbenen Schimmer angenommen. Ellas Haar sah aus, als hätte sie es frisch gefärbt. Und sie redete im Schlaf. Doch beim besten Willen hörte Ariane nicht ein einziges schwedisches Wort heraus. Sie wusste nicht, in welcher Sprache Ella träumte.

Überrannt

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