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Kapitel 8

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Der Ausdruck stockfinster traf Albin Nielsens Situation nicht einmal annähernd, denn in dem sogenannten Stockhaus, dem alten Wort für Gefängnis, war es niemals so dunkel, dass man rein gar nichts sehen konnte. Sosehr sich Nielsen jedoch anstrengte, es war nicht das kleinste Lichtteilchen da, das eine Reaktion auf seiner Netzhaut hervorrufen konnte, ganz gleich wie weit seine Pupillen geöffnet waren. Selbst wenn er einen Restlichtverstärker gehabt hätte, wäre dieser nicht in der Lage gewesen, überhaupt ein Bild zu erzeugen.

Es gab kein Restlicht.

Das Quarantänezelt war absolut dicht und ließ nichts herein und nichts hinaus. Und dennoch war es den anderen Wissenschaftlern zum Verhängnis geworden. Nielsen glaubte nicht, dass noch jemand von ihnen lebte. Etwas hatte sie erwischt und er war der festen Überzeugung, dass nur seine Tat, sämtlichen Strom abzuschalten, ihn, Hanna und Dr. Eggström gerettet hatte.

Seither saßen sie in der undurchdringlichen Dunkelheit und warteten. Die erste halbe Stunde hatte Nielsen geschätzt. Danach hatte er an seiner Armbanduhr einen Timer eingeschaltet, der zu jeder vollen Stunde ein Piepsen von sich gab. Aus einem unbestimmten Grund hatte er es vermieden, die Beleuchtung der Uhr einzuschalten. Solange er nicht wusste, was die anderen getötet hatte, musste er von allem Möglichen ausgehen. Er glaubte, dass es irgendeine Art von Signal war. Aus dem Funkverkehr zu seinen gefallenen Männern und den Worten der toten Wissenschaftler schloss er, dass sie kurz vor ihrem Tod etwas bemerkt hatten. Leider konnte er niemanden mehr fragen, was es war. Ein Geräusch? Ein Gefühl? Einen Geruch oder etwas Sichtbares?

Als die Uhr das neunte Mal piepste, hörte Nielsen es nicht mehr. Irgendwann bemerkte er, dass Hannas Körper in seinen Armen zusammensank und ihr Atem regelmäßiger wurde. Sie schlief ein. Das musste kurz nach Mitternacht gewesen sein. Von Eggström hörte Nielsen gar keinen Laut. Er wagte aber auch nicht, den anderen Mann zu rufen. Zuletzt hatte er ihn vor den Überwachungsmonitoren gesehen. Möglicherweise war er ebenfalls tot.

Nielsen hielt zwei Stunden länger durch als Hanna und schlief dann gleichfalls ein. Er wurde von einem weiteren Piepsen geweckt, wusste aber nicht, das wievielte es gewesen sein mochte. Sein Schlaf war unruhig gewesen. Er glaubte, geträumt zu haben, konnte sich jedoch nicht mehr erinnern, was.

Neben ihm, in seinen Armen, seufzte Hanna und kuschelte sich an ihn. Vielleicht sollte er den Moment, der ihm noch blieb, einfach genießen. Das letzte Mal, dass er eine bildhübsche Frau in den Armen gehalten hatte, war schon ein Weilchen her. Und sie war eine Prostituierte gewesen.

»Wie spät mag es sein?« Das war Eggströms Stimme. Der Doktor lebte.

»Wo sind Sie?«, fragte Nielsen leise.

»Unter dem Board der Überwachungsmonitore. Warum haben Sie den Strom abgeschaltet?«

»Das wissen Sie doch«, sagte Nielsen. »Sie haben doch gehört, was mit den anderen passiert ist. Irgendetwas ist in ihre Zelte gedrungen. Und da wir noch leben, muss dies auf einem elektronischen Weg geschehen sein.«

Hanna rührte sich. »Hab ich geschlafen?«

»Schätze schon.«

Sie drückte sich von ihm weg und streifte seinen Arm von ihrer Schulter. »Danke. Was tun wir jetzt?«

Nielsen zuckte die Achseln. Dann erinnerte er sich daran, dass ihn niemand sehen konnte.

»Ich werde da rausgehen.«

»Sind Sie wahnsinnig?«, rief Eggström.

»Möglich. Aber wir können nicht ewig hier sitzen bleiben. Wenn mich mein Zeitempfinden nicht täuscht, bin ich vielleicht um drei Uhr nachts weggedöst. Es könnte jetzt acht oder neun am Morgen sein. Wenn wir einfach nur abwarten, sterben wir irgendwann an Sauerstoffmangel oder verdursten. Sie bleiben hier, ich gehe raus.«

»Das ist viel zu riskant.«

Nielsen spürte Hannas Hand auf seinem Arm.

»Ich weiß. Aber uns bleibt keine andere Wahl. Wenn es sicher ist, nehme ich Funkkontakt auf. Wir haben noch die Walkie-Talkies, die haben eine Reichweite von zehn Kilometern. Geben Sie mir eine halbe Stunde, danach schalten Sie eines der Geräte ein, auf Kanal zwei. Aber senden Sie nicht, warten Sie, bis ich Sie anfunke.«

Er hörte ein Schlucken. »In Ordnung.«

Albin Nielsen tastete sich an Hannas Arm entlang, fand ihre Schulter und klopfte ihr aufmunternd darauf. Anschließend erhob er sich und tastete sich im Dunkeln die Zeltbahn entlang, bis er die Schleuse fand.

»Soll ich Ihnen beim Anlegen der restlichen Rüstungsteile helfen?«, fragte Hanna.

»Die hat Larsen und den anderen auch nicht geholfen. Ich gehe so, wie ich bin.« Trotz dieser Worte griff Nielsen nach dem Lokipuls, schulterte den Karabiner und öffnete die Schleusentür.

»Viel Glück!«, rief Hanna ihm hinterher.

Er presste die Lippen zusammen und nickte nur, auch wenn niemand es sehen konnte.

* * *

Draußen war es mittlerweile hell. Nielsen lag mit seiner Vermutung richtig, dass es früher Vormittag sein musste. Nachdem er durch die Schleuse auf den Vorplatz der Quarantänezelte getreten war, riskierte er auch endlich einen Blick auf die Uhr. Die digitale Anzeige verriet ihm, dass es kurz nach acht war. Er blieb vor dem Zelt stehen und atmete tief durch. Nielsen zählte bis zehn, stieß die Luft aus und atmete erneut ein. Langsam. Durch den Bauch.

Er genoss jeden Atemzug und wartete dabei auf den Tod.

Der allerdings nicht kam.

Als er glaubte, so sicher zu sein wie an den Ufern des Buddbyträsket, entspannte er sich ein wenig. Er sah sich um. Zu seiner Überraschung flog am Himmel ein Vogelpärchen vorbei und irgendwo hörte er eine Fliege summen. Vor den Zelten und auf dem Platz waren nirgends Leichen zu sehen. Das bedeutete, dass das Virus oder die Angreifer, je nachdem, wie er es sehen wollte, nicht bis hierher gekommen waren. Trotzdem hatte es die Wissenschaftler in den anderen Zelten erwischt.

Nielsen rieb sich übers Kinn. Seine Bartstoppeln kratzten unter den Fingerkuppen. Alle wissenschaftlichen Mitglieder seines Teams waren in den Zelten mit der Obduktion beschäftigt gewesen. Seine Männer hatte er nach Boden geschickt. Hier draußen war niemand mehr gewesen, als Boden angegriffen wurde.

Er sah zu einem der anderen Zelte und überlegte, ob er eintreten sollte, um sich zu vergewissern, dass die Männer und Frauen darin tatsächlich tot waren. Er verwarf den Gedanken. Die Schreie waren eindeutig gewesen. Aber er brauchte Gewissheit. So schaltete er sein Funkgerät noch vor der vereinbarten Zeit ein.

»Hier ist Major Nielsen. Kann mich jemand hören?«

Es knackte. Kurz darauf war Eggströms Stimme zu hören.

»Hier. Ich dachte, Sie wollten sich später melden.«

Nielsen rümpfte die Nase und schluckte die scharfe Erwiderung, die ihm auf der Zunge lag, herunter. »Es ist draußen sicher, Doktor. Zumindest in unserem Umfeld. Keine Leichen, weder menschliche noch tierische. Das Virus – ich bleibe vorerst dabei, bis wir wissen, womit wir es zu tun haben – hat sich offenbar auf elektronischem Weg fortgepflanzt und Ihre Kollegen in den anderen Zelten getötet. Erinnern Sie sich an die Fragen der Soldaten?«

»Sie meinen das ›Was war das?‹?« Hanna Agren mischte sich in das Gespräch ein.

»Ganz genau. Ich nehme an, dass sie vor ihrem Tod irgendetwas wahrgenommen haben. Ein akustisches oder optisches Signal oder einen Reflex. Was immer es war, es muss das Trägersignal gewesen sein, das die Mitochondrien in ihren Körpern vernichtet hat.«

Eggström keuchte ins Funkgerät. »Das … das ist … das wäre unglaublich.«

»Wir kommen raus«, sagte Hanna.

»Nein!« Nielsen überraschte sich selbst, wie scharf das Wort in seinen Ohren klang. Er nahm einen Atemzug, ehe er weiterredete. »Ich halte das für keine gute Idee. Das, was Boden angegriffen hat, kann immer noch auf dem Weg hierher sein. Wir haben keine Garantie, dass es wirklich fort ist. Ich gehe jetzt in die Stadt und sehe mich dort ein wenig um. Bis dahin halten wir Funkstille. Ich melde mich in dreißig Minuten wieder. Nielsen, over and out.«

Er schaltete das Funkgerät ab, ehe einer der beiden anderen antworten konnte. Ein paar Augenblicke wartete er noch und verfolgte die Flugbahn einer Gruppe Möwen, die von Süden kam. Wenn sie ihren Kurs nicht änderte, flog sie genau auf Boden zu. Nielsen beschloss, sie im Auge zu behalten. Sollte sich der Angreifer noch in der Stadt aufhalten, würde es die Möwen zuerst erwischen.

Schweigend und mit einem Gefühl, das ihn nur selten beschlich, setzte er sich in Bewegung.

Das Gefühl war nackte Angst.

* * *

Boden war tot. So tot, wie eine Stadt nur sein konnte. Wo Albin Nielsen auch hinsah, entdeckte er Leichen. Tote Menschen auf den Straßen, den Gehwegen, in den Parkanlagen. Tote in Fahrzeugen. Hinter den Fenstern ihrer Wohnungen, auf den Balkons. Die meisten sahen aus, als wären sie einfach umgefallen, was sie angesichts der bisherigen Beobachtungen wohl auch waren. Einige andere waren durch ihren Tod in Unfälle verwickelt worden: waren mit ihren Autos in andere gekracht, hatten Fußgänger und Radfahrer gerammt, Hauswände und Schaufensterscheiben durchbrochen. Ein Bus lag quer auf der Straße. Im Gegensatz zu den vielen anderen Opfern waren die Reisenden in keinem guten Zustand mehr, ihre Körper mit Blut überströmt, durchzogen von heftigen Schnittwunden, die sie sich beim Umkippen zugezogen hatten, und durch Glassplitter, die beim Aufprall wie tödliche Schrapnelle durch die Gegend geflogen waren.

Aus einigen Häuser qualmte es. Angebranntes Essen, in Brand geratenes Bratfett, vergessene Zigaretten oder Kerzen, die zündelten.

Nielsen kam an einer Tankstelle vorbei. Zwei Wagen standen an den Zapfsäulen. Zum Glück hatten die Ventilstopps an den Hähnen funktioniert und keinen Treibstofftank zum Überlaufen gebracht. Die Besitzer der Fahrzeuge lagen tot daneben. Genau wie der Tankstellenpächter hinter den Fenstern des Verkaufsraumes.

Das in Boden stationierte Ausbildungsregiment hatte es ebenso ohne Vorwarnung überrannt und ausgelöscht wie den Rest der Bevölkerung. Nielsen bezweifelte, dass es sinnvoll gewesen wäre, den Kommandanten vorab über eine mögliche Bedrohung in Kenntnis zu setzen. Wenn sie vorher gewusst hätten, was geschehen könnte, hätte die ganze Umgebung evakuiert werden müssen.

Niemand hatte jedoch das Ausmaß dieses Angriffs erahnen können. Nielsen schluckte hart und kämpfte mit den Tränen, während er durch die verlassenen Straßen ging. Wäre er durch die Obduktion der Leichen vom Buddbyträsket nicht schlauer gewesen, hätte er vermutet, dass irgendeine Supermacht oder eine Terrororganisation eine Neutronenbombe innerhalb des Stadtzentrums gezündet hätte. Keine Zerstörung, nur Tod.

Ein Virus schloss er mittlerweile ganz aus. Das hätte auch ihn infizieren müssen, doch was immer Boden heimgesucht hatte, war nach dem Morden an der Bevölkerung verschwunden.

Vielleicht nicht ganz.

Als Nielsen die nächste Kreuzung erreichte, starrte er schräg gegenüber direkt in die an den Medborgarplatsen angrenzende Fußgängerzone und sah sie.

Sie stand dort auf dem Kopfsteinpflaster zwischen all den Toten. Ihr silbernes, langes Haar wehte im aufkeimenden Wind. Von Weitem konnte Nielsen nur erkennen, dass sie einen Mantel trug und die Hände in die Seitentaschen vergraben hatte.

»Hey!«, rief er ihr zu.

Ihr Kopf ruckte in seine Richtung. Nielsen überquerte die Straße. Im Näherkommen sah er, dass er sich nicht geirrt hatte, ihr Haar war tatsächlich silbern und nicht etwa grau. Es schimmerte metallisch in der Morgensonne.

Als sie ihn sah, drehte sich die Fremde fort und ging in Richtung Fußgängerzone.

»Halt, warten Sie!« Das gibt’s doch nicht, die einzige Überlebende geht mir durch die Lappen.

Doch sie rannte nicht. Sie machte zwei Schritte vorwärts und blickte genau in dem Moment über ihre Schulter zurück, in dem Albin Nielsen einer inneren Eingebung nachgab und sein Mobiltelefon hob, um ein Foto der unbekannten Frau zu schießen.

Er drückte den Auslöser.

Nur den Bruchteil einer Sekunde darauf musste er geblendet die Augen schließen, denn genau dort, wo die Frau stand, explodierte eine Lichtkaskade in Tausenden von Funken, die wie ein Insektenschwarm in alle Himmelsrichtungen davonstoben.

Nielsen blinzelte. Flecken tanzten vor seinen Augen. Er brauchte einen Moment, bis er wieder einigermaßen sehen konnte.

Die Fremde war fort. Sie hatte sich gewissermaßen in Luft aufgelöst.

Nielsen blickte auf das Handy und wählte die Galerieansicht, um das Foto aufzurufen. Es war etwas überbelichtet, offenbar zündete die Lichtflut gerade. Die Frau war zu sehen, allerdings war ihr Bild körnig, unscharf und viel zu weit entfernt, als dass man Details hätte erkennen können. Aber das Foto war zumindest ein Beweis, dass er sich die Sichtung nicht eingebildet hatte. Er revidierte allerdings seine Vermutung, dass die Frau eine Überlebende war. So hatte sie sich ganz und gar nicht verhalten, sondern eher wie …

Nielsens Gedanken stockten. »Wie jemand, der nach einem Angriff sein Werk begutachtet.« Ihm wurde schwindelig bei der Eingebung. Er hatte soeben den Feind gesehen.

Und ihn laufen lassen.

* * *

Er zuckte zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Rasch griff er in die Luft, wirbelte herum und hätte Hanna Agren beinahe direkt ins Gesicht geschlagen.

»Was zum …? Wie kommen Sie denn hierher?«

»Sind Sie noch bei Trost?« Dr. Eggström war bei ihr und starrte Nielsen entsetzt an. »Nehmen Sie gefälligst die Hand herunter.«

Nielsen gehorchte und ließ Hannas Arm los. »Entschuldigung. Ich habe Sie für jemand anderen gehalten.«

»Wer sollte denn noch hier sein?«, fragte die Wissenschaftlerin.

Als Antwort hob Nielsen sein Telefon, aktivierte das Display und hielt es Hanna unter die Augen. Mit fasziniertem Blick studierte sie seinen Schnappschuss.

»Wer ist das?«, fragte Eggström, der Hanna über die Schulter blickte.

Nielsen zuckte die Achseln. »Sie stand dort drüben. Dann verschwand sie in einer Lichtexplosion. So wie sie sich bewegte, vermute ich, dass Sie für den Angriff verantwortlich ist. Sie tat gerade so, als begutachte sie ihr Werk.« Er sah Hanna an. »Warum sind Sie nicht im Zelt?«

Die Ärztin legte den Kopf schief. »Sie sind seit über zwei Stunden hier draußen und haben sich nicht mehr gemeldet. Über Funk konnte ich Sie nicht erreichen. Wir haben uns Sorgen gemacht und sind ebenfalls hergekommen.«

»Beim nächsten Mal …« Nielsen machte eine Pause und hob den Finger. Er zeigte direkt auf Hanna, dann zu Eggström, »… hören Sie auf das, was ich sage. Hier ist es nicht sicher. Wenn diese Fremde tatsächlich den Angriff zu verantworten hat, kann sie jederzeit auch uns treffen. Ich hab nicht den blassesten Schimmer, warum wir überhaupt noch leben. Alle anderen sind tot.«

Ein Schreien strafte seine Worte Lügen. Nielsens Kopf ruckte hoch. Hanna zuckte zusammen. Eggström runzelte die Stirn.

Das war ein Kinderschreien.

Babygeschrei!

»Das kommt von dort drüben!« Dr. Eggström deutete auf ein Gebäude, das auf dieser Straßenseite schräg hinter dem Eingang zur Einkaufszone lag.

Nielsen sah ein geöffnetes Fenster. Das konnte unmöglich sein. Boden war tot. Und doch …

»Wir sollten nachsehen«, sagte Hanna, als das Schreien nicht abriss. »Klingt, als hätte da jemand Hunger.«

»Na schön.« Nielsen presste die Lippen aufeinander. Sie hatten ohnehin nichts Besseres zu tun, als zwischen Leichen zu waten. Er glaubte nicht, dass sie von den Toten bessere Erkenntnisse gewannen als von jenen, die sie am See gefunden und im Basiscamp obduziert hatten. Aber vielleicht gab es Antworten von den Lebenden. »Folgen Sie mir.«

Zu dritt überquerten sie die Straße. Nielsen nahm das Lokipuls von der Schulter, lud es durch und hielt den Lauf gesenkt. Die ganze Zeit über war er der Meinung gewesen, die Waffe nicht zu brauchen, doch jetzt hatte er einen Feind vor Augen. Eine Gestalt. Ein Gesicht. Etwas, auf das er zielen und schießen konnte, sollte es sich noch einmal zeigen und angreifen.

Sie, korrigierte er sich in Gedanken. Auch wenn er die Frau nur von Weitem gesehen hatte, ging ihm ihr Bild nicht mehr aus dem Kopf. War sie wirklich der Feind?

Die drei erreichten die andere Straßenseite. Nielsen hob eine Hand und bedeutete den beiden Wissenschaftlern, stehen zu bleiben. Er sah hoch. Das offene Fenster befand sich im ersten Stockwerk. Noch immer drang munteres Babyplärren aus dem Haus.

»Ich gehe vor.« Nielsen setzte sich in Bewegung. Er kam jedoch nicht bis zum Eingang.

Völlig unverhofft öffnete sich die Haustür. Nielsen riss das Gewehr hoch und legte an. Er hörte hinter sich den erschrockenen Ruf Hannas.

Im Eingang erschien ein Fuß. Dann ein zweiter. Auf der Schwelle stand ein Mann in Stoffhosen und Strickjacke. In der rechten Hand hielt er einen Stock, auf seiner Nase saß eine getönte Brille.

»Albin!«, rief Hanna.

Vermutlich rettete dem Mann die Tatsache, dass Hanna Nielsen beim Vornamen nannte, das Leben. Irritiert ließ er den Finger vom Abzug und sah die Wissenschaftlerin an. Nichts passiert. Er blickte wieder zu dem Mann in der Tür und wusste, wovor ihn Hanna warnen wollte. Der Fremde war kein Gegner, sondern ein Anwohner.

Und er war blind.

Nielsen senkte den Lauf, bedeutete Hanna und Eggström, auf der anderen Seite zu bleiben, und überquerte die Straße. Auf dem Gehweg vor dem Hauseingang blieb er stehen.

»Wer sind Sie?«, fragte der Blinde.

»Major Albin Nielsen, SSG. Wie ist Ihr Name?«

»Torfs.« Der Stock des Mannes begann ein Eigenleben zu entwickeln und stieß gegen den Türrahmen, doch der Blinde bewegte sich nicht von der Stelle. »Olov Torfs.«

Nielsen schätzte den anderen auf Anfang sechzig. Er zeigte äußerlich keinerlei Anzeichen irgendeiner Infektion, aber das war nicht verwunderlich, da die Leichen auch keine Merkmale einer Seuche aufwiesen.

»Wohnen Sie hier?«

»Ja.« Torfs legte den Kopf schief, als lausche er. Offenbar hörte er die Schritte von Eggström und Hanna, die sich nun entgegen Nielsens Anweisung doch näherten.

Nielsen seufzte. Zweifellos hatte er die Befehlsgewalt über sein Gruppe endgültig verloren. »Das sind die Doktoren Eggström und Hanna Agren.« Ihm wurde bewusst, dass Eggströms Vorname ihm momentan komplett entfallen war.

Egal.

»Wissen Sie, was passiert ist?«, fragte er.

Torfs schüttelte den Kopf.

»Was haben Sie gemacht?«

»Ich habe gelesen. Dann hörte ich ein Poltern von oben aus der Wohnung meines Nachbarn. Ich dachte mir nichts dabei. Von draußen kam ein Scheppern. Ich nehme an, es hat einen Unfall gegeben. Aber …« Die Stimme des Mannes verlor an Kraft. Die nächsten Worte kamen leise, mit einem Hauch von Angst und Ehrfurcht. »… dann wurde es plötzlich still. Eine Stille, die ich so noch nie gehört habe, nicht einmal nachts.«

Neben sich hörte Nielsen ein Schlucken. Hanna. Sie sah ihn an. In ihren Augen schimmerte es feucht. Nielsen legte ihr eine Hand auf die Schulter und nickte ihr aufmunternd zu.

Er wandte sich wieder an Torfs. »Was haben Sie dann getan?«

Der Blinde senkte das Kinn auf die Brust. »Gewartet«, sagte er leise. »Die Stille … wurde unerträglich. Dann fing das Kind an zu schreien und ich … bin herausgekommen. Was ist denn geschehen?«

Nielsen nickte Eggström zu, der einen Schritt vor tat und den Blinden vorsichtig am Arm fasste und vom Eingang fortzog. Er selbst winkte Hanna zu sich und gemeinsam betraten sie das Treppenhaus des Gebäudes. Sie gingen in den ersten Stock und orientierten sich am Geschrei des Kindes. Als sie die richtige Wohnungstür fanden, blieb Nielsen nichts anderes übrig, als sie aufzubrechen. Ein elektromagnetisch beschleunigtes Projektil aus dem Lokipuls erledigte die Arbeit für ihn und sprengte das Schloss auseinander. Der Knall ließ das Schreien des Kindes abrupt verstummen. Nielsen stürmte in die Wohnung. Ein Flur. Küche. Wohnzimmer.

Da! Ein Kinderzimmer an das Schlafzimmer der Eltern angrenzend. Vor dem geöffneten Kleiderschrank lag die Mutter. In ihrem toten Blick lag eine Mischung aus Überraschung und Entsetzen. Von dem Vater war nirgends eine Spur zu finden. Vermutlich befand er sich zum Zeitpunkt des Angriffs bei seiner Arbeit. In einem Kinderbett lag ein Baby. Nielsen schätzte es auf nicht älter als ein Jahr. Es krabbelte, zog sich am Gitter hoch und begann wieder zu brüllen, als es Nielsen und Hanna entdeckte.

»Wie gut können Sie mit Kindern umgehen?«

»Ich hoffe, Sie schätzen mich jetzt nicht als Nanny ein, nur weil ich eine Frau bin.« Hannas Stimme klang eine Spur beleidigt.

Er sah sie an. »Das würde ich niemals tun, Hanna. Aber Frauen haben nun einmal mütterliche Instinkte. Wenn Sie Hemmungen haben, übernehme ich das.«

Der versöhnliche Klang in seiner Stimme, brach das Eis, das im Begriff war, zwischen ihnen zu gefrieren. Hanna nickte, trat an das Bett heran und nahm das Kind in die Arme. »Schon gut. Tut mir leid.«

»Mir auch«, sagte Nielsen.

Das Kind legte den Kopf an Hannas Brust und ließ zu, dass sie es streichelte und leichte wiegte. Es beruhigte sich und blieb still.

Nielsen stieß die Luft aus. »Also schön, was haben ein Blinder und ein Kleinkind gemeinsam, das sie vor dem Angriff geschützt haben könnte?«

Überrannt

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