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Kapitel 4
ОглавлениеDer Flug von Hannover nach Luleå war abenteuerlich gewesen. Ariane Hellenberg nahm sich vor, bei ihren zukünftigen Reiseplanungen keine exotischen Ziele mehr in Angriff zu nehmen. Die meisten ihrer Redaktionskollegen wussten nicht einmal, wo Luleå lag. So war sie besser beraten, ihnen mitzuteilen, dass sie einen Trip nach Stockholm machte.
Von Hannover ging es mit einem Inlandsflug nach Frankfurt. Ihr Gepäck war allerdings irrtümlich nach München verschickt worden. Um den Anschlussflug nach Stockholm nicht zu verpassen, nahm sie die geplante Maschine der Scandinavian Airlines. Man versprach, ihr den Koffer hinterherzuschicken. In Stockholm hatte die Maschine nach Luleå zwei Stunden Verspätung und bis dahin war ihr Gepäck noch immer nicht eingetroffen. Ariane sah sich die Nacht schon in der Wartehalle im Flughafen verbringen, als dann doch der Flug nach Luleå angekündigt wurde. Ihr Koffer kam auf den letzten Drücker mit einer Maschine aus Berlin nach Stockholm. Zweifelsohne hatte er jetzt jeden Winkel Deutschlands gesehen. Glücklicherweise befand er sich noch in demselben Zustand, in dem sie ihn in Hannover aufgegeben hatte.
Glück im Unglück, dachte Ariane während sie den Trolley durch den Ankunftsterminal hinter sich her zog. Es war früher Abend und Ariane spielte mit dem Gedanken, sich an einem Kiosk mit Magazinen einzudecken, doch noch bevor sie den nächsten Zeitschriftenstand ansteuern konnte, erinnerte sie sich daran, warum sie hier war. Dies war weder eine Urlaubsreise noch eine Recherche für eine normale Reportage. Ariane hatte sich immer auf den Bereich wissenschaftlicher Fachjournalismus konzentriert und nie daran gedacht, Krisen- oder Sensationsreporterin zu werden. Sie verschmähte die Kollegen, die sich wie die Aasgeier auf jedes Fitzelchen Information stürzten, nur um ein aktuelles Thema bis zur Neige auszuschöpfen.
Ich bin hier, um einer Freundin zu helfen, sagte sie sich, auch wenn sie den Begriff Freundschaft wohl neu definieren musste, denn Ella war im Grunde nicht mehr als eine Urlaubsbekanntschaft, zu der Ariane anschließend einen lockeren Kontakt gehalten hatte. Wie gut, dass sie freischaffend tätig war. Zwar ließen sich die Kosten für die Flüge nach Schweden und zurück nicht über die Redaktion absetzen, aber zumindest konnte sie sich sofort freinehmen, ohne Urlaubsansprüche geltend machen und sich mit ihren Kollegen abstimmen zu müssen.
Der Flughafen von Luleå war überschaubar und glich den kleinen Regionalflughäfen in Deutschland. So passierte Ariane rasch die Ankunftshalle und wehrte einen beflissenen Mann ab, der ihren Koffer zu einem Taxi tragen wollte. Sie hoffte, dass Ella Wort hielt und sie am Flughafen abholte.
Kurz vor dem Ausgang blieb Ariane stehen und strich sich eine Strähne ihres brünetten Haares hinter das Ohr. Sie griff in ihre Jackentasche nach dem iPhone, entsperrte den Bildschirm mit einem Daumenwischen und und rief das Einstellungsmenü auf, um den Flugmodus zu deaktivieren. Es dauerte eine halbe Minute, bis sich das Telefon ins schwedische Netz eingebucht hatte. Dann poppte auch schon ein Nachrichtenfenster auf. Sie hatte drei SMS erhalten.
Die erste kam vom schwedischen Mobilfunkanbieter und teilte ihr auf Schwedisch und Englisch mit, dass sie von günstigen Roamingkosten profitieren konnte. Die zweite Nachricht war von ihrer Freundin Sybille Stobbe.
Ari, das war das letzte Mal, dass ich deine olle Töle zu mir genommen habe. Er hat mir die ganze Wohnung vollgemacht. Du schuldest mir was. Komm rasch zurück. Bille.
Ariane schmunzelte. Sie wusste, dass Sybille ihr nicht wirklich böse war, denn sie war in Rocky vernarrt und hätte ihn am liebsten behalten. Jedes Mal, wenn Ariane den Hund abholte, lag Sybille ihr in den Ohren, dass sie ihn gar nicht wieder hergeben wollte.
Die zweite SMS stammte von Liam O’Connell. Ariane runzelte überrascht die Stirn. Sie hatte eigentlich nicht mit einer Antwort von ihm gerechnet. Umso erstaunter war sie, als sie den schlichten, sachlichen Text las.
Ariane, wir sehen uns in Luleå. Liam.
Er kommt hierher? Was bildet sich dieser Kerl eigentlich ein? Will er die Situation ausnutzen, um mich wiederzusehen?
»Das darf doch nicht wahr sein!« Ariane spürte, wie Wut in ihr aufstieg. So hatte sie sich das nicht vorgestellt, als sie Liam um Hilfe bat.
»Ariane?«
Zuerst hörte sie ihren Namen nicht, sondern nur das Blut, das in ihren Ohren zu rauschen begonnen hatte. Wenn sie den Mistkerl zwischen die Finger bekam … Lieber nicht. Besser war es, sie würden sich in Luleå erst gar nicht über den Weg laufen.
»Hey, Ariane!«
Sie blickte hoch und sah eine große, schlanke Blondine auf sich zulaufen. Blond war jedoch nicht ganz korrekt, denn Ella Degerlunds lange Haare waren so hell, dass sie je nach Lichteinfall beinahe weiß schimmerten. Sie war vermutlich der Inbegriff der Vorstellung einer Schwedin. Fast klischeehaft. Doch wenn Ariane sich im Flughafenterminal umblickte, sah sie, dass die meisten Frauen alle möglichen Haarfarben trugen und nur wenige wirklich blond waren.
Ella erreichte Ariane und fiel ihr in die Arme. Sie drückte sie so fest an sich, dass diese beinahe ihr iPhone fallen gelassen hätte. Sie erwiderte die Umarmung und strich Ella über den Rücken.
»Ich bin so froh, dich zu sehen.« Die Schwedin schluchzte.
Ariane widerstand der Versuchung, darauf hinzuweisen, dass sie sich so gut auch nicht kannten. Sie standen zwei Minuten einfach nur eng umschlungen da, bis es Ariane zu unangenehm wurde und sie die andere Frau mit sanftem Nachdruck von sich schob und auf Armeslänge an den Schultern festhielt.
»Ist alles in Ordnung?« Sie sah, wie Ella die Tränen die Wange hinunterliefen, und zog ein Taschentuch aus der Jacke.
»Danke. Es wird schon gehen.« Ella schnäuzte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Und danke, dass du extra hergekommen bist. Ich … ich weiß gar nicht, wie ich das wiedergutmachen kann.«
Ariane wollte etwas einwenden, doch Ella unterbrach sie mit einer raschen Geste.
»Es geht nicht um Trost, auch wenn ich dir dafür dankbar bin, aber hier ist etwas ganz Großes im Gange, Ariane. Das spüre ich.«
Sie spürt es, na toll! Ohne Beweise werden wir da kaum etwas ändern können. Ariane dachte an Liams SMS. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder war Ellas Gespür sehr gut und Liam hatte ebenfalls etwas herausgefunden, das seine Anwesenheit in Schweden erforderlich machte, oder Ariane bildete sich nicht einfach nur ein, dass der Brite die Lage ausnutzte, um sie wiederzusehen.
Ausgerechnet in Schweden, das hätte er auch einfacher haben können. Also, was soll das Ganze?
»In den Nachrichten sagen sie nichts«, sagte Ella und schob das Taschentuch in ihre Handtasche. »Aber die Leute reden bereits über den Vorfall. Irgendwie sickert immer etwas durch. Es heißt, dass eine Gruppe Jugendlicher auch betroffen und ein Kamerateam mit einem Hubschrauber abgestürzt sei. Das Militär ist jetzt oben am See und hat alles abgeriegelt.«
»Vielleicht wollen sie ein Virus eindämmen.« Ariane merkte, dass sich das nicht mal in ihren eigenen Ohren überzeugend anhörte. Wenn sich Liam extra die Mühe machte hierherzukommen, hatte das ganz sicherlich nicht mit einer Epidemie zu tun. Dafür schickte Scotland Yard keine Detectives los. »Hast du irgendeinen Verdacht?«
Ella schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich will doch nur Gewissheit haben, was geschehen ist, und ich will Vincent und seine Lieben noch einmal sehen, bevor sie bestattet werden.«
»Sie sind noch nicht bestattet worden?«
»Nein, die Gerichtsmedizin hat ihre … hat sie noch nicht freigegeben. Ich weiß nicht mehr, was ich noch …«
In diesem Moment klingelte ein Handy. Ella zuckte zusammen und griff in ihre Handtasche. Gleichzeitig gab auch Arianes iPhone einen Pieps von sich. Sie war noch im mobilen Datennetz eingebucht und hatte eine Pushnachricht von irgendeinem Anbieter erhalten. Da Ella ohnehin damit beschäftigt war, ans Telefon zu gehen, warf Ariane einen Blick auf ihr Gerät.
Eine Sofortnachricht ihrer Tagesschau-App.
Evakuierungsalarm in Nordschweden!
Ein heißer Schauer fuhr ihr über den Rücken. Was war das für ein böser Streich? Sie zögerte, den Daumen über das kleine Benachrichtigungsfenster zu legen. In dem Moment, indem sie die App aufrief, um die ganze Nachricht zu lesen, schnappte Ella nach Luft und stöhnte. Sie sagte etwas auf Schwedisch zu ihrem Gesprächspartner.
Ihre Stimme wurde dabei hektisch.
Schriller. Schneller.
Ariane sah das Tagesschau-Logo auf dem Display. Ein sich drehender Kreis zeigte an, dass die Daten geladen wurden.
Ella keuchte und griff nach Arianes Arm.
Die Nachricht erschien auf dem iPhone.
Ellas Finger krallten sich in Arianes Fleisch unter der Jacke, doch die Schmerzen waren nicht stark genug, um sie von der Nachricht auf dem Display des Telefons ablenken zu können.
Evakuierungsalarm in Nordschweden!
Die schwedischen Behörden haben für den Raum Luleå vorsorglich den Notstand ausgerufen. Genaue Ursache der Maßnahme ist bisher nicht bekannt gegeben worden. Experten berichten von Gerüchten einer Virusepidemie, die ihren Ursprung an den Ufern des etwa fünfzig Kilometer nordwestlich von Luleå gelegenen Sees Buddbyträsket haben soll. Betroffen ist derzeit die am südlichen Seeufer gelegene Stadt Boden, die momentan komplett evakuiert wird. Die Quarantänezone ist auf zwanzig Kilometer rund um Boden ausgeweitet worden. Bewohner über diese Grenze hinaus werden gebeten, bis auf Widerruf in ihren Häusern und Wohnungen zu bleiben und Türen und Fenster geschlossen zu halten. Kontakt zu Mitmenschen sollte prophylaktisch vermieden werden.
Ariane merkte, wie ihr schlecht wurde.
Ellas Griff wurde noch fester. Nur am Rande nahm Ariane wahr, wie die andere Frau sie mit sich zog. Wie gebannt starrte sie noch immer auf das Display ihres Telefons und bemühte sich zu begreifen, was geschehen war. Wo war sie da nur reingeschlittert?
Ihr erster Impuls bestand darin, sich loszureißen, den Koffer zu nehmen und zum nächsten Abflugschalter zu rennen, um wieder nach Hause zu fliegen, doch als Ariane ihren Blick endlich von der Eilmeldung löste, stand sie bereits vor einem goldmetallicfarbenen Volvo C30. Ein Zwitschern und das kurze Aufblitzen der Türblinker deuteten an, dass der Wagen geöffnet worden war.
»Rasch!«, rief Ella und klemmte sich bereits hinters Steuer.
Der Kofferraum sprang auf. Ariane stand unschlüssig da und sah zurück zum Flughafenterminal. Erstaunlich, sie befand sich etwa fünfhundert Meter davon entfernt auf einem Parkplatz. Sie hatte gar nicht mitbekommen, so weit gelaufen zu sein. Aus der Ferne schimmerte der runde Wellblechvorbau des Eingangs in Karmesinrot. Gegenüber auf der Straße stand eine Skulptur die von Weitem wie ein braungoldener Kaktus aussah.
»Ariane!«
Sie zuckte zusammen, als Ella sie durch das heruntergelassene Seitenfenster anbrüllte.
»Ich will zurück«, sagte sie.
Ella schüttelte den Kopf. Dabei blieben ihr einige Strähnen im Gesicht hängen. »Das geht nicht. Du kriegst jetzt keinen Flug. Und in einer Stunde ist hier die Hölle los, weil jeder fortwill. Dann ist es zu spät wegzufahren, weil die Straßen verstopft sein werden. Und du würdest noch immer keinen Flug bekommen. Jetzt steig endlich ein!«
Widerwillig hievte Ariane den Trolley über die Kofferraumkante und schlug den Deckel zu. Dann ließ sie sich in den Beifahrersitz fallen. Ella fuhr bereits los, ehe Ariane sich anschnallen konnte. Die Straße vor dem Flughafen rauschte an ihr vorbei. Dann verschwand auch der Parkplatz aus ihrem Blick und machte Baumgruppen Platz. Um die Gegend einen Wald zu nennen, waren die Bäume zu klein. Sie glichen eher künstlich angepflanzten Hainen, die errichtet wurden, nachdem die Baustelle Flughafen irgendwann geschlossen werden konnte.
Ella folgte der Straße kurz nach Norden, doch statt an der Abzweigung den Verkehrsschildern Richtung Luleå zu folgen, bog sie rechts ab. Nach fünfzig Metern kamen an Arianes Fensterseite wieder die Parkplätze des Flughafens in Sicht. Sie sah die parkenden Fahrzeuge durch die Bäume im Licht der untergehenden Herbstsonne schimmern.
»Wohin fahren wir?«, hörte sie sich leise fragen. Zuerst befürchtete sie, dass Ella sie nicht verstanden oder sie die Frage nur in Gedanken formuliert hatte, doch dann drehte die Schwedin den Kopf zur Seite.
»In der Stadt ist es nicht sicher. Da wird bald Chaos herrschen. Mein Bruder hat eine Hütte weiter im Norden. Ich muss einen Umweg fahren, damit ich den Hauptstraßen Luleås nicht zu nahe komme und wir nicht in einem Stau hängen bleiben.«
»Wie weit nach Norden?«
Sie ließen das Flughafengelände hinter sich. Die Bäume wurden weniger und machten einer hügeligen Graslandschaft Platz. Im Süden waren die Ufer der Ostsee zu sehen.
»Wir setzen über nach Sandon. Es gibt im Süden einen Fährdienst, keinen offiziellen, aber mein Vater hat den Eigner gekannt. So sind wir öfter zum Flughafen gekommen, statt uns durch die Stadt zu quälen. Die Fähre bringt uns hoch nach Bottenviken, von dort erreichen wir die Hütte.«
Ariane spürte, wie ihr Puls raste. Ihr fiel das Atmen schwer und sie fühlte einen Druck auf ihrer Brust. Angst. Panik. Sie merkte, dass sie noch immer ihr Handy umklammerte, und sah auf das Display. Ohne zu überlegen, tippte sie auf dem Touchscreen eine SMS an Liam O’Connell, die er hoffentlich noch las, bevor er in ein Flugzeug nach Luleå stieg.
Komm nicht! Hier herrscht Ausnahmezustand. Verfolg die Nachrichten! Ari
Dann schaltete sie das iPhone ab und begann zu weinen.