Читать книгу Überrannt - Martin Kay - Страница 3
Prolog
Beginn
ОглавлениеDer Tag, den Vincent Degerlund mit Faulenzen nutzte, markierte das Ende der Menschheit. Die meisten Menschen verbrachten zu viel Zeit in der Vergangenheit. Im Gestern. Ihnen fehlte der Mut und die Zuversicht, nach vorn zu blicken. Dabei vergaßen sie oft, sich im Jetzt aufzuhalten und das zu tun, wozu sie auf Erden waren: zu leben.
Einfach zu leben. Den Tag zu genießen. Jedem Tag die Chance zu geben, der schönste zu werden. Das war Vincent Degerlunds Maxime und Devise. Er hatte oft genug miterlebt, was geschah, wenn man der Vergangenheit nachhing. Das Leben stagnierte. Statt zu sich weiterzuentwickeln, stapfte man auf der Stelle. Daraus ergab sich oft eine Unzufriedenheit mit sich selbst und dem Rest der Welt. Und diejenigen, die mit sich selbst im Argen lagen, zogen meist ihre Mitmenschen noch mit hinein. Tagein, tagaus hatten sie nichts Besseres zu tun, sich über alles zu beschweren, und gewannen noch Sympathien und Zustimmung für ihre Meinung.
Vincent Degerlund lächelte, als er daran dachte, dass er dies alles hinter sich gelassen hatte. Er konzentrierte sich auf das, was er erlebte und erleben wollte. Er lenkte seine Gedanken und Wünsche in die richtigen Bahnen und bekam dafür vom Leben das geschenkt, was er wollte: Glück und Freude.
Ja, er war ein glücklicher Mann geworden, seit er aufgehört hatte, in der Vergangenheit zu leben. Er hatte eine wunderschöne Frau, zwei prächtige Söhne, erfreute sich bester Gesundheit und war als freischaffender Berater von börsenorientierten Unternehmen finanziell unabhängig. Letzterer Punkt ermöglichte es ihm und seiner Familie, des Öfteren eine Auszeit zu nehmen. Wenn Geld keine große Rolle spielte, war man frei genug, einfach mal seine Sachen zu packen und übers Wochenende wegzufahren.
So wie an diesem verlängerten Osterwochenende. Sie hatten Glück mit dem Wetter. Die Temperaturen lagen zwar um die zehn Grad, doch der Himmel war wolkenlos und sonnig.
Die Jungs tollten am Ufer im Gras und warfen Steine ins Wasser, während Mia den Picknickkorb auspackte und Vincent immer wieder einen ihrer strahlenden Blicke zuwarf. Sie war genauso glücklich wie er. Das sah er. Er spürte es.
Es war perfekt.
Vincent war heute Morgen in aller Früh mit seiner Familie von Luleå nach Boden aufgebrochen und hatte einen schönen Platz am Ufer des Buddbyträsket gefunden, noch bevor andere Osterurlauber auf die gleiche Idee kamen. Am späten Vormittag begann sich das Grasufer zu füllen. Keine zwanzig Meter von ihrem Picknickplatz entfernt hatte sich eine Gruppe junger Leute niedergelassen, die Drachen steigen ließen.
»Ist dir nicht kalt?«, fragte Mia und riss Vincent aus den Gedanken.
Er sah sie an und wollte den Kopf schütteln, doch dann überlegte er, ob ein Vorwurf in ihrer Stimme lag. Immerhin rekelte er sich auf der ausgebreiteten Decke und faulenzte, während seine Frau die Arbeit machte.
»Möchtest du eine Jacke?« Er sah, wie Mia den Kragen ihrer Strickjacke hochgezogen hatte. Im Wagen hatten sie noch Windjacken. Vielleicht war es besser, sie zu holen.
»Du bist ein Schatz.« Mia beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf den Mund.
Als Vincent aufstand und zum Wagen ging, wehten die Klänge von Lenny Kravitz’ Stand zu ihm herüber. Er warf einen Blick zurück und sah, wie einige der jungen Leute tanzten und ausgelassen feierten. Sollten sie ihren Spaß haben, solange niemand im betrunkenen Zustand begann Stunk zu machen.
Vincent fischte die Jacken aus dem Wagen und hörte über die Musik hinweg plötzlich einen Laut, der jeden Vater sofort alarmierte: das Schreien seines Knirpses Casper. Er sah, wie der Kleine und sein jüngerer Bruder Linus auf Mia zurannten, die die beiden in ihre Arme schloss.
»Was ist denn los?«, fragte Vincent.
Linus begann zu weinen, während Casper in Richtung der jungen Leute zeigte. Eine Handvoll von ihnen hatte sich um einen Mann geschart, der offenbar neben der Picknickdecke auf dem Boden lag. Anscheinend war etwas passiert.
»Wartet, ich schau mal nach«, sagte Vincent. Doch bevor er Mia die Jacken reichen und gehen konnte, fiel einer der anderen Männer ohne Vorwarnung hin. Direkt aus dem Stand. Er knickte in den Knien ein und stürzte, als hätte man einer Marionette die Fäden durchgeschnitten.
Ehe einer der anderen überhaupt begriff, was geschah, fiel der Nächste.
Dann noch einer.
Eine Frau folgte. Zwei, drei Menschen sahen sich an, ehe sie einfach umkippten und nicht wieder aufstanden.
Casper brüllte wie am Spieß.
»Was geht da vor sich, Vincent?«, rief Mia verzweifelt. Ein hysterischer Unterton schwang in ihrer Stimme mit.
Vincent stand wie angewurzelt da. Er fühlte sich mit einem Mal überhaupt nicht mehr verpflichtet, nach dem Rechten zu sehen. Ihn beschlich das Gefühl, dass das, was die Jugendlichen heimsuchte, ihn selbst befallen konnte, wenn er nur in deren Nähe geriet.
Jetzt erwischte es auch die Leute, die vorher am Seeufer getanzt hatten. Wie die Fliegen fielen sie, einer nach dem anderen. Zwei Frauen kreischten und rannten davon. Eine kam keine zwei Meter weit, als sie hinfiel und sich nicht mehr rührte. Die andere schaffte es bis zu einem der Vans, mit dem sie hergekommen waren, doch kaum dass sie die Tür berührte, brach auch sie zusammen.
»Rasch, weg hier!« Vincent spürte Panik in sich aufsteigen. »Lasst alles stehen und liegen!«
»Mama!« Linus. »Was war das?«
Der Junge entglitt Mias Hand und sackte zu Boden.
Nein, nicht Linus!
Mias und Vincents Blicke trafen sich. Entsetzen stand in ihren Augen, gepaart mit tiefgründiger Furcht und der Gewissheit, dass es kein Entkommen gab.
Dann änderte sich Mias Ausdruck. Eine Falte entstand zwischen ihren Brauen. »Was … was war das?«
Im nächsten Moment klappte sie zusammen.
Casper hörte auf zu brüllen. Er sah Vincent an. Dieser wollte irgendetwas tun, seinen Jungen packen und rennen, doch das, was um ihn herum geschah, lähmte ihn. Nicht nur sein Körper war wie festgefroren, auch seine Gedanken schienen in einem Eisblock festzustecken.
»Papa?«
Casper sank vor seinen Augen zu Boden. Er verdrehte die Augen. Die Lider schlossen sich, dann fiel er in sich zusammen. Neben seinem Bruder und seiner Mutter.
Vincent verfolgte den Sturz wie in Zeitlupe. Er war nicht fähig, zu denken, zu fühlen oder zu begreifen. Er merkte nicht, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach, wie Übelkeit einen Würgereiz verursachte, ohne dass er in der Lage war, sich zu übergeben.
Fassungslos starrte er auf die leblosen Körper.
Dann jedoch erwachte für einen Sekundenbruchteil sein Verstand, als er etwas registrierte, das er nicht einordnen konnte: etwas Fremdes, nicht Greifbares.
Irritiert hob er die Brauen und sah sich um.
»Was war das?«, hörte er sich selbst sagen.
Nur einen Augenblick darauf wurde es dunkel um ihn.
Vincent war bereits in dem Moment tot, in dem seine Beine nachgaben.