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Kapitel 3

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Das Streichholz rieb am Zündblättchen und flammte auf. Wie gewöhnlich wartete Liam O’Connell damit, sich die Zigarette anzuzünden, und zögerte den Moment so lange hinaus, bis die Flamme fast die Haut seiner Fingerkuppen verbrannte. Er beobachtete fasziniert, wie sich die Energie durch das Holz fraß und sich Daumen und Zeigefinger näherte, während er in der anderen Hand die Benson & Hedges hielt. Viel zu teuer, um sie in drei oder vier Minuten zu inhalieren und dabei zuzusehen, wie der erlesene Tabak in Qualm aufging. In jeder ruhigen Minute wie dieser spielte O’Connell mit dem Gedanken, mit dem Rauchen aufzuhören.

In jeder ruhigen Minute wie dieser verlor er den Kampf.

Die Flamme berührte den Tabak und das Zigarettenblättchen. Würziges Aroma stieg auf. O’Connell nahm einen Zug und blies das Streichholz aus, ehe seine Fingerkuppen Brandblasen warfen. Er stieß den Rauch aus, schnippte das heruntergebrannte Streichholz in den Aschenbecher auf seinem Tisch und stützte sein Kinn in die freie Hand. Er sah auf den Bildschirm vor sich und klickte sich durch ein paar Google-Seiten im Internet. Eigentlich wäre er heute gar nicht im Büro gewesen, sondern würde jetzt in einem Flieger nach Hongkong sitzen, um an einer Übergabe von Dokumenten teilzunehmen. Das Treffen war in letzter Minute abgesagt worden. Der Flug wurde storniert und O’Connells Gepäck befand sich noch auf dem Weg vom Flughafen zu seiner Wohnung in London. So etwas passierte hin und wieder. Doch dann gab es unerträgliche Leerläufe, die in Langeweile gipfelten. Er überlegte, ob er einige Berichte aufarbeiten sollte, befand jedoch, dass er nach der Zigarette für den Rest des Tages freinehmen würde, um sich zu Hause auf der Couch zu entspannen. Den tausendseitigen Neal-Stephenson-Wälzer Reamde hatte er zum Glück im Handgepäck. Er würde ein paar Kapitel lesen, Scotch dabei schlürfen und am Abend eine Blu-Ray einwerfen. Irgendwie ließ sich ein geplatzter Auftrag schon kompensieren. Zumindest heute. Morgen sah die Welt ganz anders aus.

O’Connell wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als die Tür aufflog und Noah Zabot seinen wirren Blondschopf durch den Rahmen streckte.

»Ah, du bist noch da.«

»Ich hau auch nicht ab.«

Zabot trat ein, hielt aber die Türklinke fest, als wolle er jeden Moment wieder gehen. »Hongkong?«

O’Connell schüttelte den Kopf.

»Autsch! Na, hast du dir schon einen Alternativplan überlegt?«

»Ich geh mit Stephenson auf die Couch.« O’Connell nahm einen weiteren Zug aus der Zigarette und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück.

»Ist Stephenson dein Hund oder deine Flamme?«

Statt zu antworten, beugte sich O’Connell vor, griff in seine Reisetasche und zog den Schmöker hervor. Er knallte das Buch auf den Tisch.

»Verstehe.« Zabot grinste. »Falls du nichts Besseres zu tun haben solltest, als deine Nase in einen Science-Fiction-Roman zu stecken, könntest du dich der Realität widmen. Da hat jemand für dich angerufen.«

O’Connell runzelte die Stirn, als der Kollege nicht weitersprach. »Und? Verrätst du auch, wer, oder muss ich dafür einen Vokal kaufen?«

»Eine Frau. Sie kam über die Rufumleitung deiner alten Scotland-Yard-Nummer.«

Scotland Yard. Es war schon drei Jahre her, dass er beim Metropolitan Police Service London als Detective Inspector gearbeitet hatte. Danach gab er ein Gastspiel bei der Royal Navy, als er während des Afghanistan-Konflikts als Reservist einberufen und abkommandiert wurde. Sein Vorgesetzter bei der Polizei war alles andere als begeistert, doch die Navy brauchte einige Soldaten, die in verdeckten Operationen ausgebildet waren. O’Connell begrüßte die Abwechslung zunächst. Sein Wechsel zum britischen Auslandsnachrichtendienst, der Military Intelligence, Sektion 6 – kurz MI6 –, war abrupt gekommen. Dabei half ihm seine militärische Laufbahn und ein heldenhafter Einsatz in Afghanistan, bei dem er eine Gruppe Zivilisten vor einem Anschlag der Taliban rettete. Die Rekrutierungsoffiziere des Secret Service arbeiteten schnell und zuverlässig. Sie warben ihn von New Scotland Yard direkt nach Vauxhall Cross ab, beförderten ihn vom Sub-Lieutenant der Royal Navy zum Lieutenant im Feldeinsatz Ihrer Majestät.

Es gab zwei, drei Übergabeszenarien und Infiltrationsaufträge, doch die meiste Zeit saß Liam O’Connell tatsächlich am Schreibtisch und wertete Satellitenaufnahmen, Telefonmitschnitte und E-Mails aus, besprach sich mit anderen Sicherheitsbehörden und fand das Geheimagentenleben alles andere als spannend. Bei der Kriminalpolizei war zumindest etwas los gewesen.

»Du sagst deinen Frauen immer noch, dass du bei der Polizei beschäftigt bist?«, stichelte Zabot mit breitem Grinsen, das O’Connell dem anderen am liebsten aus dem Gesicht geschlagen hätte.

Noah Zabot war sein Verbindungsoffizier während der Auslandseinsätze gewesen. Er war kein gebürtiger Brite. Sein Vater stammte aus Algerien, die Mutter aus Frankreich. Die Großeltern mütterlicherseits kamen allerdings aus London. Zabot lebte nach eigenen Angaben seit über fünfzehn Jahren wieder in England, hatte die britische Staatsbürgerschaft erworben und war nach seiner Militärzeit zunächst zum MI5, dem Inlandsnachrichtendienst, und später dann zum MI6 gekommen. Trotz O’Connells Bemühungen, mehr über Zabots Privatleben bei einem Bier nach Feierabend zu erfahren, blockte der Kollege stets ab. Dabei war er selbst äußerst neugierig, alles über O’Connell zu erfahren. Seine Sticheleien und taktischen Fragen widerten O’Connell mittlerweile an.

»Vergiss es einfach, Zabot. Wer hat angerufen?«

Zabot blickte auf einen Zettel. »Ihr Name ist Ariane Hellenberg. Deutsche Rufnummer.« Er trat an O’Connells Tisch heran und legte ihm den Zettel mit krakelig geschriebenem Namen und Nummer auf die Computertastatur.

»Sie sagte, es gehe um einen Vorfall in Schweden, den die Regierung vertuschen würde, und ob du über Interpol etwas herausbekommen könntest.«

O’Connell runzelte die Stirn. »Das hat sie dir erzählt?«

»Na klar, ich bin doch dein bester Kollege bei Scotland Yard.«

»Arschloch!« O’Connell machte eine Handbewegung, um den anderen zu verscheuchen, und griff nach dem Hörer. Von Ariane hatte er schon seit über einem Jahr nichts gehört.

»Woher kennst du sie?«, fragte Zabot auf dem Weg zur Tür.

»Pass mal auf, Franzose, das geht dich überhaupt nichts an.«

»Ganz wie du meinst, Ire, aber ich denke, wir werden noch darüber reden.« Zabot verließ das Bürozimmer, ließ die Tür aber offen.

O’Connell seufzte. Die alte Leier zwischen ihnen. Wenn er wütend auf Noah war, nannte er ihn einen Franzosen, und der hatte nichts Besseres zu tun, als ihn wegen seines Namens als Iren zu beschimpfen. Natürlich hatte er irische Wurzeln, aber die lagen wesentlich weiter zurück als Zabots französisch-algerische.

Während er die Nummer wählte, rief sich O’Connell Arianes Gesicht in Erinnerung. Sie waren sich durch Zufall in London begegnet. Ariane war auf Urlaubsreise gewesen und sie hatten sich ein Taxi von Heathrow in die Innenstadt geteilt. Anschließend waren sie in der Lounge des Hotels, in dem Ariane ein Zimmer gebucht hatte, hängen geblieben und hatten über vier Stunden bei Tee und Latte macchiato über Gott und die Welt gequatscht. O’Connell war sich sicher, dass er sie rumgekriegt und sie ihn mit auf ihr Zimmer genommen hätte, aber er wahrte An- und Abstand. Sie hielten losen Kontakt per E-Mail und einmal hatte er sie angerufen, weil sie für ihn in ihrer Journalistenfunktion eine Recherche betreiben sollte. Er schuldete ihr etwas dafür, denn dank ihrer Hilfe musste er nicht den bürokratischen Weg wählen und offizielle Kanäle bemühen, was nur zu unzähligen Antragsformularen und dem Warten auf Genehmigungen geführt hätte. Selbstredend hatte er ihr gegenüber erwähnt, dass er für die Londoner Kriminalpolizei arbeitete. Im Umgangsjargon redeten alle von Scotland Yard, als ob es eine Behörde wäre, doch der New Scotland Yard war nur das Gebäude, in dem die Dienststellen des Metropolitan Police Service of London untergebracht waren.

»Hellenberg?«

O’Connell schrak auf. Er war ziemlich vertieft in Erinnerungen gewesen und hatte nicht damit gerechnet, dass jeden Moment jemand abheben konnte.

»Hallo!«, sagte er rasch. Seine Stimme klang heiser. Verflucht!

»Wer ist denn da? Liam?«

»Ja, entschuldige. Ich hatte gerade – wie sagt ihr? – einen Frosch im Hals …«

»… der keine Miete zahlt, ja.« Ariane lachte.

Er hatte ganz vergessen, wie schön ihre Stimme klang. Nicht zu dunkel und weit davon entfernt, schrill zu sein. Angenehm. Mit einem Mal wünschte er sich, er hätte sich nicht zu rasch von ihr verabschiedet, als sie hier gewesen war.

Reiß dich zusammen!

»Wie geht es dir?«, fragte er.

Sie prustete. »Eigentlich ganz gut, aber … ach, tut mir leid, wenn ich gleich zur Sache komme. Ich bin auf dem Sprung und hab einen Flug gebucht, den ich erwischen muss.«

Einen Flug? O’Connell merkte, wie sein Herz einen Satz bei dem Gedanken machte, sie könnte nach London kommen. Er atmete tief durch.

»Wohin geht es denn?«

»Schweden.«

O’Connell erinnerte sich an Zabots Worte, dass Ariane wegen Schweden angerufen hatte.

»Das ist alles nicht so einfach. Ich hab mittlerweile einen putzigen Hund, den ich bei jemandem unterbringen muss, aber Bille hat sich bereit erklärt, auf ihn aufzupassen, solange ich fort bin.«

Ein Hund. Bille. Er hatte keine Ahnung, wer Bille war, und ertappte sich dabei, dass er hoffte, es handele sich um einen weiblichen Kosenamen. Arianes Englisch war ausgezeichnet. Sie sprach akzentfrei, als käme sie direkt von der Oxford University.

»Aber darum geht es nicht. Ich habe in Schweden eine Freundin, na ja, eher eine Brief- und Internetfreundin, obwohl ich sie schon mal gesehen habe. Ihr Bruder und seine Familie sind vor etwa einer Woche plötzlich verstorben. Soweit Ella, das ist meine Freundin, also … soweit sie sagen kann, war ihr Bruder mit Frau und Kindern über Ostern an einem See in der Nähe von Boden.«

O’Connell notierte den Ort und tippte ihn gleich bei Google Maps ein. Eine Karte erschien auf dem Bildschirm, während Ariane weiterredete.

»Die Behörden haben sie vom Tod der ganzen Familie unterrichtet. Angeblich ein Unwetter, das zu Überschwemmung an einem Seeufer geführt hat. Als Ella die Leichen sehen wollte, wurde ihr das verwehrt, weil die Gerichtsmedizin sie noch nicht freigegeben hätte. Von Unwetterwarnungen war auf keinem Nachrichtensender die Rede. Ella meint, dass es noch weitere Todesfälle am See gibt.«

Ariane hielt inne.

»Nun, vielleicht ist die Todesursache noch nicht ganz klar, daher die fehlende Freigabe«, sagte O’Connell. »Glaubt deine Ella denn, dass es kein Unfall war?«

»Ich fürchte, sie hat sich das in den Kopf gesetzt. Wir haben gestern geskypt, sie war völlig aufgelöst und aufgebracht und sprach von einer Verschwörung.«

»Offenbar hat sie dich damit angesteckt, Ariane.«

»Wie meinst du das?«

»Du sprichst so schnell, wenn du dich aufregst oder erregt bist.«

»Oh!«

»Macht nichts. Aber wie komme ich ins Spiel?«

»Nun … ich weiß auch nicht, ich möchte nur etwas herausbekommen. Ich dachte mir, wenn es irgendetwas gibt, das die schwedische Regierung der Öffentlichkeit vorenthält, dann kann es doch nur ein Skandal oder ein Verbrechen sein. Und wenn es ein Verbrechen ist, vielleicht Brandstiftung, ein Chemieunfall, ein terroristischer Angriff oder irgendetwas, dann könntest … du … vielleicht …?«

Sie stockte bei den letzten Worten. O’Connell musste lächeln und zwang sich, nicht das Wort süß laut auszusprechen. Er schnalzte mit der Zunge und wollte erwidern, dass er das nicht für sie tun konnte, aber er wusste, dass sie ihm dann mit dem Gefallen kam, den er ihr schuldete. Zu dumm nur, dass sie damit recht hatte. Es konnte sicherlich nicht schaden, sich etwas umzuhören, nur um ihr den Gefallen zu tun. Wie viele Informationen er dann an sie weitergab, stand auf einem anderen Blatt.

»Ich kann mich mal umhören«, sagte O’Connell. »Versprechen kann ich natürlich nichts, aber unter uns, ich glaube nicht, dass etwas da dran ist. Ich kenne deine Ella nicht, aber vielleicht ist sie nur etwas hysterisch. Das kann ihr niemand angesichts ihres Verlusts verübeln. Du willst trotzdem ihretwegen nach Schweden?«

»Ich hab es ihr versprochen. Sie ist völlig aufgelöst und daneben.« Ein Seufzen drang aus dem Telefon. »Ich muss jetzt los, Liam. Mein Flieger landet um 18:30 Uhr in Stockholm. Kannst du mich anrufen?«

»Falls ich bis dahin was habe. Bleibst du in Stockholm?«

»Nein«, sagte Ariane. »Ich hab einen Anschlussflug nach Luleå und bin dann wieder nicht erreichbar. Falls mein Telefon ausgeschaltet ist, schick mir doch bitte eine Mail. Ich rufe sie ab, sobald ich gelandet bin.«

»Okay. Ich hoffe, ich kann dir helfen oder dich zumindest beruhigen, dass die Verschwörungstheorien deiner Freundin keinen realen Hintergrund haben. Schön, mal wieder was von dir zu hören, Ariane. Wir könnten vielleicht öfter mal reden.« Was sag ich da? »Nur wenn du magst«, beeilte er sich zu sagen.

Ein Lachen. »Klar. Mach’s gut, bis später, okay?«

»Bye!«

Die Verbindung wurde unterbrochen. O’Connell legte den Hörer zurück auf die Gabel, schürzte die Lippen und dachte nach. Schweden. Ausgerechnet Schweden.

Er schüttelte den Kopf, stand auf und ging ins Nebenbüro, wo Zabot sich durch einen Stapel Berichte kämpfte. Als O’Connell anklopfte, blickte der Blonde auf und zog fragend eine Braue hoch.

»Na? Wird’s ein Date?«

O’Connell legte den Kopf schief und funkelte sein Gegenüber an. »Das geht dich einen Scheißdreck an, Zabot. Sag mal, hattest du nicht Aktien in Schweden?«

Zabot hob abwehrend die Hände. »Schon gut, ich wollte dich nur aufziehen.«

»Das kenn ich ja von dir.« O’Connells Stimme glich dem tiefen Brummen eines Baggermotors.

»Schweden? Ja, ich hab da ein paar Kontakte aus einer alten Operation.«

»Irgendetwas Frisches dabei?«

»Russische Flottenbewegungen im Nordpolarmeer?«, fragte Zabot und grinste. »Die Zeiten sind eigentlich längst vorbei.«

»Eher Ostsee. Luleå.«

Zabot machte eine wegwerfende Geste. »Da tut sich nachrichtendienstlich so gut wie gar nichts. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Verlegung der Truppenstützpunkte ziemlich uninteressant geworden.«

»Kannst du deine Quellen anzapfen und hören, ob es irgendwelche Vorfälle in der letzten Woche gab, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind? Am Seeufer bei Boden?«

»Klar. Wenn du mir verrätst, was mit der Kleinen aus Deutschland ist?«

O’Connell verzog die Mundwinkel. »Noah Zabot, du bist und bleibst ein kleines Arschloch.«

Zabots Grinsen wurde breiter. »Ich weiß.«

O’Connell drehte sich um und hatte bereits die Hoffnung auf eine gute Zusammenarbeit mit Zabot aufgegeben, als dieser ihm hinterherrief: »Gib mir eine halbe Stunde, alter Schwede.«

* * *

Exakt neunundzwanzig Minuten und drei Benson & Hedges später läutete Liam O’Connells Telefon. Der Anrufton signalisierte ein internes Gespräch, das von irgendwo aus dem Gebäude kam. O’Connell kannte die Nummer nicht. Er hob ab.

»O’Connell.«

»Ich bin’s, Noah.«

»Von wo aus rufst du an?«

»Satellitenraum. Du solltest mal hier runterkommen. Aber beeil dich.«

Satellitenraum? »Ich komme.«

O’Connell legte auf. Der SAT-Raum befand sich drei Stockwerke unter der Erde. Um dorthin zu gelangen, brauchte er eine Freigabe der Stufe 1 und normalerweise eine zusätzliche Genehmigung durch seinen Vorgesetzten. Als O’Connell den Hauptkorridor nahm und dann im Aufzug das dritte Untergeschoss anwählte, wurde seine ID-Card anstandslos akzeptiert. Offenbar hatte sein Abteilungsleiter seinem Aufenthalt bereits zugestimmt.

Tatsächlich befand sich Colonel Gilbert Aidan Smythe gemeinsam mit zweien seiner Analysten und Noah Zabot im Satellitenraum, als O’Connell diesen betrat. Was zum Henker war hier los?

»O’Connell, woher haben Sie die Schweden-Information?« Smythe rauchte Zigarre, obwohl der Konsum von Nikotin und Speisen im SAT-Raum strengstens untersagt war. Der Mann hatte breite Schultern und war etwa 1,90 Meter groß. Sein Haar war voll, doch bereits so ergraut, dass er nicht mehr den Versuch unternahm, Stellen nachzufärben. Eine Narbe verunstaltete seine Nasenspitze. Das wenig rühmliche Andenken verdankte er keinen Kampfhandlungen, sondern einer Auseinandersetzung vor einigen Jahren mit der Katze seiner Tochter.

»Eine Journalistin aus Deutschland rief mich an. Ihre Brieffreundin aus Schweden ist die Schwester eines Verstorbenen, dessen Tod und der seiner Familie angeblich von den schwedischen Behörden unter Verschluss gehalten werden. Worum geht es überhaupt?«

Smythe nickte in Zabots Richtung.

Der schluckte sichtlich und sah O’Connell an. »Ich hab ein bisschen telefoniert: Interpol, schwedischer Geheimdienst, Botschaft. Der Polizei lagen keine Informationen vor, auch die Botschaft hatte keine Kenntnis von irgendwelchen Vorfällen. Allerdings hat mein Kontaktmann beim Nachrichtendienst das Gespräch gleich abgewürgt und mich gewarnt, die Finger davonzulassen. Dass mich das erst recht neugierig gemacht hat, muss ich nicht unbedingt erwähnen. Da dies keine offizielle Operation ist, hab ich die Finger von Anträgen auf einen Satelliten gelassen, aber ich kenne jemanden bei der ESA, der mir für den Zeitraum der letzten Woche Aufnahmen eines europäischen Wettersatelliten zur Verfügung hat kommen lassen. Wenn die Schweden etwas vertuschen wollen, ist das ihr Bier, aber sie haben keine Kontrolle über die Wettersatelliten.«

Zabot wandte sich zum riesigen Plasmaschirm an der Wand und drückte eine Taste auf einer Fernbedienung, die aussah wie ein Smartphone. Vermutlich war es eines.

»Auf den ersten Blick ist nichts Ungewöhnliches zu erkennen, man muss wissen, wonach man sucht. Mein Anhaltspunkt war das Seeufer nahe der Stadt Boden. Hier!«

Er berührte den Touchscreen der Fernbedienung und zoomte die Satellitenaufnahme auf maximale Vergrößerung heran. Das Bild wurde körnig, doch anhand der Farben konnte man deutlich Grünflächen wie Wälder von den Brauntönen der Wiesen und dem Blaugrau des Wassers unterscheiden. Zwischen einem blauen Farbklecks und einem grünen befanden sich menschliche Silhouetten.

O’Connell wusste, was das bedeutete. Arianes Freundin aus Schweden hatte recht.

»Ich habe die Aufnahmen über mehrere Stunden verfolgt. Nicht einer von denen hat sich bewegt. Es ist später Vormittag am Ostersonntag. Auch am späten Nachmittag liegen sie alle noch genauso da. Für andere Zeiträume gibt es keine Aufnahmen mehr, da die Satellitenkameras auf andere Regionen ausgerichtet wurden. Wir könnten einen unserer skandinavischen Überwachungssatelliten in Parkposition über Luleå bringen, wenn wir das zu einer offiziellen Operation machen wollen.«

»Wir machen es zu einer«, sagte Smythe. »Aber unauffällig.« Er wandte sich O’Connell zu und blies den Zigarrenrauch aus. »Und Sie haben eine Reise nach Schweden gewonnen. Finden Sie heraus, was da vor sich geht. Wenn es sich um einen terroristischen Angriff handelt, werden wir Maßnahmen treffen. Entpuppt sich das Ganze nur als Amoklauf irgendeines Wahnsinnigen, brechen wir ab.«

»Halten Sie das denn wirklich für notwendig?«, fragte O’Connell. »Wir könnten die Schweden mit diesen Fotos konfrontieren und eine Erklärung verlangen.«

»Wenn die sich jetzt noch nicht an die EU-Kommission gewandt haben, dann werden die uns nur mit irgendwelchen Lügen abspeisen. Fliegen Sie nach Schweden. Ach, nur aus Neugier, hat Ihre Kontaktperson gesagt, was sie vermutet, wie diese Leute gestorben sind?«

O’Connell schürzte die Lippen. »Nein. Aber was immer es gewesen ist – wenn man sich die Fotos betrachtet, gibt es zumindest drei Kategorien von Opfern.«

Alle wandten sich dem Schirm zu, während O’Connell sich einen Laserpointer von Zabot ausborgte und mit dem Lichtpunkt Kreise um die Menschen auf der Satellitenaufnahme zog.

»Wir sehen hier ein paar parkende Wagen und eine Gruppierung von Leuten. Das dürften die Erstbetroffenen sein, Menschen, die bereits vor Ort waren, als es geschah. Dann haben wir hier Rettungsfahrzeuge.« Der Lichtpunkt verharrte auf dem Dach eines Fahrzeugs, das einen Rufcode für Luftfahrzeuge aufgedruckt hatte. Von dort wanderte er weiter zu drei Körpern, die sich in der Nähe des Fahrzeugs auf dem Boden befanden. Auch wenn das Bild unscharf und grob war, war anhand ihrer Kleidung deutlich zu erkennen, dass es sich um Rettungssanitäter handeln musste.

»Ich gehe davon aus, dass die erst später dazugekommen sind.«

Der Lichtpunkt vollführte einen Satz zu einem größeren Fahrzeug am Rand der Lichtung. Offenbar ein Lkw.

»Das hier dürfte ein Fahrzeug der Seuchenbehörde sein und hier«, der Laser erfasste einige leblose Körper vor dem Wagen, »haben wir die Wissenschaftler des Teams, sauber eingepackt in ihre Bioschutzanzüge und dennoch tot. Was immer sie erwischt hat, ist über einen längeren Zeitraum dort gewesen oder immer noch da. Es sieht fast so als, als hätte etwas oder jemand sie aus heiterem Himmel ins Jenseits befördert. Als wären sie einfach tot umgefallen.«

Smythe sog scharf die Luft ein.

Ein Röcheln kam aus Zabots Richtung. O’Connell blickte seinen Kollegen an und stellte fest, dass er kreidebleich geworden war.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Einfach tot umge…« Zabot sah zur Seite und begegnete O’Connells Blick. Er fasste sich. »Schon gut, alles in Ordnung. Ich werde einen Satelliten anzapfen und sehen, ob wir aktuelle Bilder bekommen.«

»Gentlemen.« Smythe blickte in die Runde. »Sie wissen, was Sie zu tun haben. An die Arbeit!«

Überrannt

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