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Kapitel 7

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»Sir, ich muss Sie bitten, sofort das Telefon auszuschalten.«

Liam O’Connell ignorierte die Flugbegleiterin. Er hatte sie vorhin beim Servieren der Getränke kurz angeschaut. Hochtoupiertes, angegrautes Haar. Das Gesicht von so viel tiefen Falten durchzogen, dass auch die Spachtelmasse Make-up kein Aufhübschen mehr hinbekam. Ihre Stimme klang viel zu hoch und tat ihm in den Ohren weh. Das Oxford-Englisch klang viel zu gestelzt und unnatürlich. Man merkte, dass sie Sprachkurse belegt hatte, sich aber nicht in Umgangssprache zurechtfand.

»Sie bekommen sowieso kein Netz«, fuhr die Dame der schwedischen Fluggesellschaft fort. »Hier oben in der Luft erreichen Sie keinen Sendemasten.«

Ah, eine ganz Schlaue, dachte O’Connell und tippte unbeirrbar weiter auf seinem Blackberry Touchscreen. Selbstverständlich bekam er ein Netz. Dafür sorgte das Iridium Satellitentelefon, das er aktiviert hatte und mit dem er eine kabellose Internetverbindung für das Blackberry Smartphone aufbaute, um sich mit den neuesten Nachrichten zu versorgen.

»Sir, bitte. Ich muss darauf insistieren.«

Oh bitte! O’Connell stand auf, drückte sich an der Frau vorbei und eilte den Gang entlang zu den Toiletten.

»Nun machen Sie schon das Telefon aus!«, rief jemand aus den Reihen. »Oder wollen Sie, dass wir abstürzen?«

»Das ist Schwachsinn!«, meldete sich ein anderer. »Es ist nicht bewiesen, dass je ein Mobiltelefon für einen Flugzeugabsturz verantwortlich gewesen ist. Es nutzt Funkwellen auf Frequenzen, die die Elektronik eines Flugzeugs nicht …«

Den Rest bekam O’Connell nicht mit. Er zog die Toilettentür hinter sich zu, lehnte gegen das Waschbecken und scrollte durch seine E-Mails. Die von Aidan Smythe weckte sein Interesse. Er berührte die Nachricht und öffnete sie. Es war eine Weiterleitung einer Depesche, die der MI6 durchgegeben hat.

Notstand für Nordschweden

Der Großraum Luleå ist unter Quarantäne gestellt worden. Inoffizielle Meldungen berichten von einem Angriff auf Luleå selbst. Es wird mit massiven Todesopfern gerechnet. Der Upload eines YouTube-Videos wurde unterbrochen. Unsere Experten versuchen die Teile des Videos, die übertragen wurden, zu extrahieren und zusammenzusetzen.

O’Connell verließ das Menü und rief eine Trackingapplikation auf. Er gab Ariane Hellenbergs Nummer ein und sah kurz darauf, wo sie sich in Schweden befand. Sundom. Allerdings bewegte sie sich nach Nordosten, statt wie vereinbart auf ihn zu warten. Er rief sie an. Nach einem Freizeichen bekam er ein Besetztzeichen und kurz darauf die Mitteilung, dass der Teilnehmer nicht erreichbar sei.

Verdammt!

Er musste mit dem Kapitän sprechen. Wenn Luleå unter Quarantäne stand, würde man das Flugzeug nicht landen lassen und wohl doch eher nach Tornio umleiten. Doch was sollte er in Tornio? Das lag über hundert Kilometer von Luleå entfernt.

Sein Telefon fiepte. Er sah aufs Display. Eine unbekannte Nummer mit schwedischer Mobilvorwahl.

»Hallo?«

»Liam, ich bin es, Ariane.« Sie klang gehetzt. Und näselte. Entweder war sie verschnupft oder hatte sich die Augen aus dem Kopf geweint. Er tippte auf Letzteres. Irgendetwas war seit ihrem letzten Telefonat geschehen.

»Was ist das für eine Nummer?«

»Die von Ella. Mein Akku ist leer. Ich … ich bin nicht mehr in Sundom. Es … ist etwas Schreckliches passiert. Alle sind tot, Liam, alle.«

»Beruhige dich.«

Es klopfte an der Toilettentür. Die Stimme der Flugbegleiterin war zu hören, die ihn wieder aufforderte, das Handy auszuschalten.

»Ich hab es mitangesehen. Liam, was immer es ist, es ist kein Virus. So etwas habe ich noch nie gesehen. Die Menschen sind einfach umgekippt. Reihenweise. Auch die Tiere. Es ist … es war schrecklich.« Sie schluchzte, schnäuzte und dann weinte sie.

O’Connell presste die Lippen zusammen. »Ari, wir sind im Landeanflug auf Luleå. Ich werde mir sofort einen Mietwagen nehmen und zu euch …«

»Nein!« Ariane fing sich wieder. »Du darfst nicht in Luleå landen. Ich weiß nicht, warum ich überlebt habe, aber alle Einwohner von Sundom und auch der Fährkapitän sind tot. Ich habe es gespürt, Liam. Es war bei mir, in mir. Eine Art … Funke, der von mir Besitz ergreifen wollte. Dann wurde ich ohnmächtig. Ich glaube, dass alle Menschen dies kurz vor ihrem Tod spüren. Sie fragen sich, was sie wahrgenommen haben. Achte auf ein Stichwort. Auf eine erstaunte Frage, irgendetwas in Richtung ›Was war das?‹ oder so. Das ist ein sicheres Zeichen, dass es sie gleich erwischt.«

»Ari.« Er unterbrach ihren Redefluss. »Was ist mit deiner Freundin? Mit Ella?«

Ein Schlucken klang aus dem Lautsprecher des Telefons.

»Ich weiß es nicht.«

»Was heißt das?«

»Es … hat sie auch erwischt. Wie mich. Sie schläft, aber … es ist bei ihr anders als bei mir. Sie scheint sich zu verändern.«

»Verän…?«

Es donnerte gegen die Tür.

»Hier ist der Kapitän! Sir, ich muss Sie auffordern, sofort aus der Toilette zu kommen und mir Ihr Telefon auszuhändigen.«

»Ari, ich muss auflegen, hier gibt es Probleme. Lass dieses Telefon eingeschaltet. Das ist wichtig. Darüber kann ich dich finden.«

»Du arbeitest nicht für die Polizei, oder?«

»Später. Fahrt weiter in Richtung finnische Grenze. Ich werde euch dort irgendwo aufgabeln.«

Er unterbrach die Verbindung, schob das Telefon in sein Sakko, richtete die Krawatte und öffnete die Toilettentür.

»Gibt’s irgendein Problem?«

Im Gang standen die Flugbegleiterin und der Pilot. Der Mann sah ungehalten aus. Er streckte fordernd eine Hand O’Connell entgegen.

»Ihr Telefon.«

O’Connell hob abwehrend die Hände. »Ich bitte Sie, ich habe doch gar kein …«

Irgendetwas zog die Aufmerksamkeit des Kapitäns auf sich. Sein Kopf ruckte plötzlich herum. Das Gesicht wurde bleich. Er sprang los und rannte durch den Gang nach vorne. Trotz des dick aufgetragenen Make-ups der Flugbegleiterin wurde auch ihre Haut merklich blasser. Ihr entsetzter Blick ließ ahnen, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste, doch sie blieb wie festgewachsen neben der Toilettentür stehen. O’Connell zwängte sich an ihr vorbei und sah das Unheil. Vorn in der Passagierkabine der ersten Klasse sackten die Menschen reihenweise in sich zusammen. Auf dem Boden lagen zwei der anderen Flugbegleiterinnen und rührten sich nicht mehr. Der Kapitän hatte die erste Frau noch nicht ganz erreicht, als er unvermittelt stehen blieb und irritiert den Kopf hob.

»Was zum …?«

O’Connells Augen weiteten sich alarmiert. Das Stichwort, das Ariane ihm genannt hatte, wenn auch abgewandelt. Nur eine Sekunde darauf stürzte der Pilot zwischen den Sitzen zu Boden und begrub den Körper der Flugbegleiterin unter sich.

Ein schriller Schrei schmerzte in O’Connells Ohren. Die Flugbegleiterin hinter ihm brüllte hysterisch und machte die anderen Fluggäste, vornehmlich die in der Economy Class, erst recht auf den Vorfall aufmerksam. O’Connell versetzte der Frau einen Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht. Er unterschätzte seine Kraft. Ihr Kopf flog herum und stieß gegen die Wand der Toilettenkabine. Die Frau verdrehte die Augen. Ihre Lider flatterten, dann kippte sie kopfüber in den engen Raum und schlug nochmals mit dem Kopf auf der Kante des WCs auf.

Scheiße!

O’Connell nahm eine Silhouette im Übergang zur Economy Class wahr und sah hoch.

»Scheiße!« Diesmal sprach er es laut aus.

»Ich wusste nicht, dass du dich mit Frauen prügelst«, sagte Noah Zabot in einem Tonfall, als hätte er gerade eine interessante Neuigkeit erfahren und keinen krampfhaften Scherz gemacht.

»Noah, was zum Henker? Wie kommst du hierher?«

Zabots Blick fixierte eine Stelle hinter O’Connell. Seine Augen weiteten sich. Er sprang plötzlich vor, packte den Agenten am Arm und zog ihn mit sich in Richtung Economy Class.

»Los, beeil dich, wir haben nicht viel Zeit.«

O’Connell stemmte sich gegen den Kollegen und streifte seine Hand ab. Er blickte über die Schulter zurück und sah, dass die Passagiere noch immer zusammenklappten. Sie fielen der Reihe nach, als wenn eine Welle aus Richtung Cockpit durch das Flugzeug rollte und jeden, den sie berührte, mit sich riss. Aber eine Welle aus was?

»Sieh nicht hin!«, rief Zabot. »Komm schon, Liam!«

Wieder spürte er die Hand des Kollegen an seinem Ärmel. Er ließ sich mitziehen. Zumindest zwei Meter weit. Dann befreite er sich wieder vom Griff des anderen, packte ihn an den Schultern und starrte ihm direkt in die Augen.

»Was – ist – hier – los?«

Zabots Blick wirkte kalt, ohne Emotion. Jede Regung darin hätte O’Connells Widerstand vermutlich verstärkt, doch als Zabot sprach, wusste O’Connell, dass er jetzt die Entscheidung treffen musste, ob er leben oder sterben wollte. Es würde kein Später geben, um Fragen zu beantworten.

»Ich bin hier, um dich zu retten, Liam. Komm!«

Zabot drehte sich um und rannte den Gang entlang durch die Economy Class. Er schob Passagiere, die von ihren Sitzen aufgestanden waren, achtlos beiseite, drückte sie in die Sessel zurück oder schubste sie vor sich her.

O’Connell folgte ihm. Er spürte etwas Eisiges, Lauerndes in seinem Nacken. Etwas, das ihn wollte. Das um jeden Preis zu verhindern beabsichtigte, dass er ihm entkam. Neben ihm sackte eine Frau in sich zusammen, als wäre sie plötzlich eingeschlafen, doch ihre Muskeln erschlafften völlig, die Lider blieben offen, die Augen starrten zur Decke.

Tot.

O’Connell sprang über einen Mann hinweg, den Zabot niedergeschlagen hatte.

»Sie Mistkerl!«, rief der Passagier ihm hinterher. »Moment, was war das denn?«

Mein Gott, die Welle! Sie holt uns ein.

»Beeil dich, Liam, sie sind bereits hier!«, schrie Zabot.

»Wer?« O’Connell schämte sich dafür, als er einen Mann mit einem Fausthieb niederstreckte und ihn wieder in seinen Sessel zurückschickte. »Wer ist hier?«

»Renn!«

Gesprächsfetzen hallten durch seinen Verstand. Worte von Ariane. Ein ganzes Dorf. Ausgelöscht. Die Menschen fielen einfach um. Wie die Fliegen. Wie Marionetten, deren Fäden mit einem Mal gekappt wurden.

Sie befanden sich in einem Flugzeug. Was glaubte Zabot, wie er sie retten konnte?

Der andere MI6-Agent verschwand hinter dem Vorhang des nächsten Kabinenteilers. O’Connell setzte ihm nach. In der Passagierkabine schwoll Gebrüll und Gekreische an, als die Menschen endlich begriffen, dass etwas Unheimliches diese Maschine heimsuchte und es keinen Ort gab, an den sie fliehen konnten.

Atemlos erreichte O’Connell die hintere Toilette.

»Rein da!«, sagte Zabot.

»Was?«

»Rein da, wenn du leben willst.« Er drückte ihn in die Kabine und zwängte sich hinterher. Mit einem Klicken drückte er die Falttür ins Schloss.

Es war eng. Zu eng für zwei Personen.

»Noah, ich schwör dir, ich …«

»Halt die Klappe! Nenn mir einen Ort. Wohin?«

»Was?« O’Connell wollte sich umdrehen, doch der andere drückte ihn gegen die Wand.

Plötzlich spürte er Zabots Atem an seinen Ohr. Dann war seine Stimme ganz nah bei ihm.

»Einen Ort, Liam. Wohin?«

O’Connell presste die Lippen fest aufeinander. Er unterdrückte den Wunsch, dem Kollegen den Ellbogen ins Gesicht zu stoßen, griff stattdessen mit der Hand in seine Jackentasche und förderte das Smartphone zutage, das noch immer eine drahtlose LAN-Verbindung zum Satellitentelefon aufrechterhielt. Mit einem Brummen berührte er den Bildschirm und hielt Zabot das Telefon unter die Nase.

»Dorthin.«

Der andere sog scharf die Luft ein. »Selbst wenn es da unten im Moment sicher ist, wird es das nicht für l…«

»Ich denke, du hast gesagt, wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Zabot nickte. »Du hast recht. Halt dich an mir fest. Es wird jetzt etwas … ah, du wirst schon sehen.«

O’Connell sah, wie Zabot an seine Gürtelschnalle griff. »Noah, ich schwöre dir, ich …« Noch ehe er den Satz vollenden konnte, begann der Höllenritt.

Ein Ruck ging durch seinen Körper. O’Connell hatte das Gefühl, als würde sein Leib in alle möglichen Richtungen gleichzeitig gerissen. Sein Kopf flog nach oben, die Arme und Beine seitwärts fort. Der Torso drehte sich in einer irren Spiralbewegung in die Tiefe. Sein Gehirn.

Ja, wo war eigentlich sein Gehirn?

Wenn er hätte kotzen können, hätte er es getan. Aber er wusste nicht, wie er das ohne Magen tun sollte. Gefühlsmäßig war ihm dieser in die Kehle geschossen, doch er fühlte ihn irgendwo bei den Zehen.

Grelles Licht blendete ihn.

Er schrie und kniff die Augen zusammen.

Eine Feuerwoge fegte über ihn hinweg. O’Connell glaubte, seine Haut würde auf den Knochen zerschmelzen und anschließend wieder erkalten und mit ihnen verwachsen.

Er brauchte eine Weile, bis er begriff, dass das Tosen in seinen Ohren, sein eigener Schrei war.

Eine Weile, bis er erkannte, dass aus der sengenden Hitze eine bittere Kälte geworden war, die seinen Körper zittern ließ.

Eine Weile, ehe er begriff, dass er sich nicht mehr an Bord des Flugzeugs befand und der unheimlichen Welle entkommen war.

Liam O’Connell schlug die Augen auf. Ehe sich das Bild scharf stellte, würgte er und übergab sich. Er fühlte, wie es zwischen seinen Beinen feucht wurde, doch in diesem Moment war es ihm völlig egal, ob er sich wie ein kleines Kind benahm und in die Hosen pinkelte.

Er lebte. Das zählte.

»Wo zur Hölle bin ich?« Seine Stimme hörte sich fürchterlich an. Rau. Kratzend. Beinahe ohne Klang. Er sah sich um. Ein Straßenrand. Hinter ihm die Küste der Ostsee. Auf der anderen Seite der Fahrbahn eine Grasebene. O’Connell hörte das Brummen eines Motors und wandte den Kopf nach links. Ein Volvo fuhr die einsame Straße entlang. Instinktiv wusste er, dass Ariane darin saß. Sein Blick wanderte zu Zabot. Der Kerl stand selbstgefällig da, die Arme vor der Brust verschränkt. Doch statt zu grinsen, wie O’Connell es erwartet hätte, blickte er besorgt drein.

»Wenn du auch nur ansatzweise wüsstest, wie sehr du recht behältst.«

O’Connell hustete und spuckte Speisereste aus. »Was faselst du da? Wie kamst du so plötzlich in das Flugzeug? Und wie zum Teufel hast du uns hergebracht?«

Noah Zabot ging neben ihm in die Hocke. Er deutete mit einem Arm über die Ebene. »Sie haben uns gefunden. Ich weiß nicht, wie. Eigentlich hielt ich die Erde für ziemlich sicher. Aber ziemlich ist auch nur so ein Wort eurer Sprache, auf das kein Verlass ist. Sie kommen, Liam. Das ist ihre Vorhut. Bald werden sie in Scharen hier einfallen. Und das, mein Lieber, ist dann wirklich die Hölle und der letzte Ort im Universum, an dem man sein will.«

O’Connell richtete sich auf. »Du bist ja völlig irre.«

»Ich wünschte, es wäre so.« Zabot senkte den Blick und holte tief Luft. Seine Hand näherte sich erneut der Gürtelschnalle.

O’Connell sah zu dem sich nähernden Wagen, dann zu Zabot. Doch der war plötzlich fort, als wäre er nie hier gewesen.

Überrannt

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