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Kapitel 1

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Der Traum war intensiver als die Realität. Er kehrte in unregelmäßigen Abständen zurück und quälte die junge Frau im Bett aufs Neue. Ariane Hellenberg befand sich mit ihrer Freundin Sybille in New York und genoss den Hubschrauberrundflug über die Wolkenkratzer der Stadt. Das Wetter war ihnen wohlgesinnt. Sonnig, nicht zu warm, nicht zu kühl. Man konnte von hier oben bis zum Horizont sehen. Das One World Trade Center ragte imposant aus den Türmen der anderen Hochhäuser hervor. Doch an ein sprichwörtliches Kratzen an den Wolken war nicht zu denken, denn keine Cumulus-Gebilde trübten den Himmel. Hinter dem riesigen Gebäude war die Freiheitsstatue auf Liberty Island zu sehen.

»Wahnsinn!«, sagte Sybille Stobbe und lachte. »Wenn Rainer das wüsste, hätte er mich nie allein mit dir den Urlaub verbringen lassen.«

Ariane grinste. »Dein bescheuerter Freund hätte es uns nur vermasselt.«

Dafür fing sie sich einen Stoß in die Rippen ein und hätte aus einem Reflex heraus beinahe zurückgeboxt. Ariane machte keinen Hehl daraus, dass sie Sybilles Lebensabschnittsgefährten nicht mochte. Das hatte nichts mit Eifersucht zu tun, auch wenn sie und ihre Freundin mehr als einmal gemeinsam im Bett gelandet waren. Das war rein sexuell gewesen, hatte nichts mit Liebe zu tun und ihrer tiefen Freundschaft keinen Stein in Weg gelegt.

»Ich such mir ja einen neuen«, sagte Sybille nach einer Weile. »Aber erst … wenn mir Rainer zu langweilig wird. Er ist gut im Bett, weißt du?«

»Das sind andere auch. Und du kannst dich in Hannover aufs Messegelände stellen, mit den Armen wedeln und rufen: ›Ich bin Single.‹ Was glaubst du, wie viele Kerle sich plötzlich um dich scharen und um dich werben werden?«

»Als ob gutes Aussehen alles wäre. Übrigens trifft das auf dich noch mehr zu. Du bist doch viel hübscher als ich.«

»Quatsch! Erzähl nicht so einen Unfug.«

Sybille blickte aus dem Fenster. Sie überquerten gerade den Central Park.

»Rainer ist loyal. Und hilfsbereit.«

»Aber er ist dumm«, sagte Ariane. »Zumindest kann er dir nicht das Wasser reichen. Meine Mutter hat immer gesagt, du musst dir einen Mann angeln, der mindestens so intelligent ist wie du selbst.«

»Das sind doch alte Weisheiten, die heute nicht mehr gelten.« Sybille machte eine wegwerfende Handbewegung. »Alte Wertvorstellungen haben sich doch grundlegend geändert. Zu alt, zu jung, ob Mann mit Frau, Mann mit Mann, Frau mit Frau, eine Beziehung zu dritt oder ein offenes Verhältnis … das alles gab es zu Zeiten der weisen Worte deiner Mutter doch gar nicht.«

Natürlich hatte Sybille recht und Ariane wusste das. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass sie Rainer nicht mochte. Dabei konnte sie noch nicht einmal sagen, warum. Sie blickte auf ihrer Seite aus dem Fenster des Hubschraubers.

»Wo sind wir eigentlich?«

»Das sollte jetzt New Jersey sein«, sagte Sybille. »Wir fragen mal den Pil… Was ist das denn?«

Der Tonfall in Sybilles Stimme alarmierte Ariane und sie folgte dem Blick der Freundin aus dem anderen Fenster. Von einem Moment auf den anderen hatte sich der Himmel verdunkelt, als würde gleich ein Gewittersturm losbrechen. Doch was da aus den pechschwarzen Wolken kam, waren keine Blitze, sondern lodernde Feuerbälle, die auf die Erde niederregneten.

»Ein Meteoritenhagel?«

Sie hatte noch nie einen miterlebt und wusste nicht, was da aus der Wolkenformation herabfiel. Die Objekte sahen aus wie ein halbes Dutzend brennender Medizinbälle, die, einen Feuerschweif hinter sich herziehend, auf die Erde fielen. Ariane hörte den Piloten fluchen. Er verriss das Steuer des Hubschraubers. Das Fluggefährt kippte zur Seite, die Turbinen heulten empört auf und der Rotor kämpfte gegen die plötzliche Überlastung an. Ariane wollte den Piloten anschreien, ob er noch ganz bei Trost wäre, doch dann erkannte sie, dass seine hektische Aktion ihnen das Leben gerettet hatte. Nur wenige Meter von ihrem Fenster entfernt fiel einer der Feuerbälle vorbei. Die Flammenbrunst, die ihm folgte, schlug durch den Fallwind peitschend um sich und erwischte den Rumpf des Helikopters. Ein Ruck ging durch die Maschine. Glas barst. Ariane und Sybille schrien gleichzeitig auf und wichen entsetzt von dem zersprungenen Fenster zurück auf die andere Seite. Der Hubschrauber geriet ins Trudeln und drehte sich in einer Schleife unaufhaltsam dem Boden entgegen. Der Pilot funkte Mayday, zerrte und riss an den Steuerelementen, während seine Füße die Pedale traten, doch der Flug wollte sich nicht mehr stabilisieren.

Der Hubschrauber sackte durch und stürzte ins Bodenlose.

Kurz vor dem Aufprall schreckte Ariane aus dem Albtraum auf. Schweißgebadet. Stoßweise atmend. Der Puls hämmerte hinter ihren Schläfen. Sie war die ersten Sekunden orientierungslos und fühlte sich erst wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt, als ihr Berner Sennenhund Rocky aufs Bett sprang und sich an sie kuschelte.

»Ein Traum …« Ihre Stimme war heiser. Der Mund fühlte sich so trocken an, dass sie nicht einmal genug Spucke sammeln konnte, um ihn zu befeuchten. Ariane schwang die Beine über die Bettkante und stand auf, nur um sich rasch an einer Kommode festzuhalten, ehe sie zu Boden stürzen konnte. Nicht nur, dass ihre Beine nachgaben und der Gleichgewichtssinn versagte, auch ein hämmernder Kopfschmerz schoss ihr durchs Gehirn und zwang sie in die Knie.

Rocky bellte, tanzte um sie herum, schleckte sie ab, winselte, als sie nicht reagierte.

Ariane brauchte ein paar Minuten, ehe sie auf die Beine kam und ins Bad gelangte. Sie drehte den Hahn am Waschbecken auf und spritzte sich eiskaltes Wasser ins Gesicht. Dann tauchte sie den ganzen Kopf unter den Hahn und nahm anschließend zwei, drei Schlucke vom Leitungswasser.

So schlimm war es nie gewesen. Ja, ihr Urlaub in New York vor drei Jahren war beinahe in eine Katastrophe ausgeartet, doch so wild, wie es der Traum ihr weismachen wollte, war es niemals zugegangen. Das Ereignis hatte so nicht stattgefunden, sondern ganz anders.

Sie waren auf einem Rundflug gewesen und ein einzelner Meteorit war aus dem Himmel auf die Erde gestürzt. Doch er hatte den Hubschrauber niemals in Gefahr gebracht. Der Pilot hatte den Rundflug abgebrochen und war notgelandet. Allerdings gab es einen Nachzügler des Meteoriten, der sie fast doch das Leben gekostet hätte. Er schlug unmittelbar neben der Landestelle des Helikopters ein und setzte Ariane und Sybille beim Aussteigen einer Strahlung aus. Den Rest ihres Urlaubs verbrachten sie in einem Strahlenzentrum in der Nähe von New York City. Die Ärzte waren besorgt über mögliche Mutationen und Bildung von Krebszellen, weshalb man ihnen eine Gentherapie anbot, die sie beide annahmen. Sie kehrten völlig genesen aus dem Urlaub zurück. Während Sybille keine Probleme mit dem Vorfall zu haben schien, wurde Ariane die nächsten drei Jahre von Albträumen verfolgt. Anfangs einmal wöchentlich, später reduzierten sie sich und traten nur noch alle paar Monate auf. Doch sie liefen immer ähnlich ab und machten aus dem Meteoritenfall ein Weltuntergangsszenario mit Feuerbällen und einem Absturz ihrer Maschine. Kopfschmerzen und Desorientierung waren nach dem Aufwachen die Folge, aber das verging nach ein paar Minuten wieder. Dieses Mal brauchte Ariane wesentlich länger und rief in der Redaktion an, dass sie sich heute um eine Stunde verspäten würde.

* * *

Die Kopfschmerzen waren wie weggeblasen, als Ariane Hellenberg die Wohnungstür hinter sich schloss und Rocky ihr förmlich in die Arme sprang. Der hüfthohe Berner Sennenhund stellte sich auf die Hinterläufe, streckte seine Pfoten aus und begann mit einer Schlabberorgie, die Ariane halb angewidert, halb erfreut über sich ergehen ließ.

»Ist ja schon gut, mein Dicker, ist ja schon gut.« Sie drückte den Hund von sich, kraulte ihm das Halsfell und gab ihm dann zu verstehen, dass sie in die Küche wollte.

Ariane wischte sich mit dem Handrücken über das feuchte Gesicht. Sie hatte sich heute schon früher aus der Redaktion verabschiedet, weil die Kopfschmerzen vom Morgen nicht nachlassen wollten. Doch kaum dass sie in Reichweite ihrer Wohnung war, ging es ihr wesentlich besser. Sie stellte ihre Laptoptasche auf dem Küchentisch ab, streifte die Stöckelschuhe von den Füßen und schlenderte barfuß zum Schrank. Rockys Napf war leer. Sie füllte ihn zur Hälfte mit Trockenfutter, erneuerte das Wasser in der zweiten Schale und schaltete anschließend ihre Nespresso-Maschine ein. Sie blätterte in dem Rondell mit Kaffeekapseln und entschied sich für einen Espresso Arpeggio.

Rocky machte sich über sein Futter her.

»Na, du hast noch was vom Leben. Jemanden, der für dich sorgt und dich den ganzen Tag über in Ruhe lässt.«

Sie ließ den Espresso durchlaufen, gab einen Schuss frische Milch hinzu und setzte sich auf einen Barhocker an den Esstresen, der sich neben dem Küchentisch befand. Zuerst überlegte sie, ob sie noch an dem Artikel weiterschreiben sollte, den sie in der Redaktion abgebrochen hatte, doch sie verspürte nicht die geringste Lust. Vielleicht später.

Stattdessen fischte sie das iPad aus ihrer Laptoptasche und schaltete es ein, um nach neuen E-Mails zu sehen, während sie ihren Espresso genoss.

Sie scrollte durch die Nachrichten. Zehn Mal Spam. Davon sieben gewollter. Newsletter diverser Onlineshops, Parfümerien und Nachrichtenmagazinen. Sie löschte sie alle und stolperte über eine Mail von Sybille.

Hi du,

wie ist es? Bleibt es bei morgen Abend im Moonshine Still? Ich hab zwei Karten. Crazy Comets spielen und ab halb acht ist Happy Hour. Ich zähl auf dich.

LG

Bille

PS: Was macht die Liebe?

Ariane nippte an dem Espresso und lächelte. Das Moonshine Still war ihre und Sybilles Stammkneipe in Hannover. Gute Musik, gute Drinks, gute Unterhaltung. Und an den Wochenenden gab es Live-Gigs von lokalen Bands. Klar, sie war dabei. Jedoch beschloss sie, die Frage im Nachtrag zu ignorieren. Sybille wusste, dass sich Ariane vor dem New-York-Urlaub von ihrem Ex nach sechs Jahren getrennt und von da an beschlossen hatte, das Single-Dasein zu genießen. Daran hielt sie fest. Und wenn sie einen schlechten Tag hatte und eine Schulter zum Anlehnen brauchte, war da immer noch Rocky. Sie hätte es vorher nie für möglich gehalten, aber ein Hund war tatsächlich der beste Freund des Menschen.

Zumindest mein bester Freund, dachte sie und nahm einen weiteren Schluck von dem Espresso. Sie strich sich eine braune Haarsträhne hinters Ohr und wischte über das Display zur nächsten Nachricht.

»Oh.« Das war seltsam. Ella Degerlund. Von ihr hatte sie schon seit Ewigkeiten nichts gehört. Eine Urlaubsbekanntschaft aus Schweden und Facebook-Freundin. Sie hatten sich im Jahr nach Arianes Trennung kennengelernt, als sie auf einem Skandinavientrip über ihren Liebeskummer hinwegkommen wollte. Nach dem Urlaub hatten sie öfter telefoniert, gemailt und gechattet, doch der Kontakt war irgendwann eingeschlafen und man grüßte nur noch sporadisch im Facebook-Profil zum Geburtstag oder zu Weihnachten.

Wie gewohnt war Ellas Nachricht in Englisch verfasst.

Hallo Ariane,

du wunderst dich sicher, dass ich mich nach langer Zeit mal wieder bei dir melde. Es tut mir leid, dass ich so selten etwas von mir hören lasse. Hoffe, es geht dir gut. Bei mir ist momentan leider alles beschissen. Mein Bruder Vincent, du kennst ihn noch von deinem Aufenthalt in Luleå, seine Frau Mia, die beiden Kinder Casper und Linus – sie sind tot, Ariane, tot. Alle!

Es geschah vor einer Woche am Osterwochenende. Vincent war mit seiner Familie in der Nähe von Boden auf einem Ausflug. Er ist von dort nicht mehr lebend zurückgekehrt. Die Verwaltung von Boden sprach von einem Unfall. Angeblich sind sie in ein Sturmtief geraten, das das Ufer des Buddbyträsket überschwemmt hat. Merkwürdig ist nur, dass es für das Osterwochenende keine Unwetterwarnungen gab. Außer Vincent und seiner Familie befanden sich noch andere Leute am Ufer, die ebenfalls gestorben sind. Die Leichen werden unter Verschluss gehalten, sie wurden für Angehörige nicht freigegeben und das Gebiet rund um den Buddbyträsket ist von Polizei und Militär hermetisch abgeriegelt worden. Die Presse wurde mundtot gemacht. Niemand berichtet mehr über den Vorfall, als hätte er sich nie zugetragen.

Ich weiß nicht mehr weiter, Ariane. Ich bin verzweifelt.

Du arbeitest doch als Journalistin. Kannst du vielleicht irgendetwas herausbekommen? Ich will doch nur meine Familie sehen und wissen, was geschehen ist.

Wenn du Zeit hast, können wir heute Abend vielleicht skypen?

Deine Ella

Ariane merkte, wie ihre Augen beim Lesen feucht wurden. Sie griff nach einem Kleenex am Rande des Tresens und schnäuzte hinein. Das iPad wurde ihr plötzlich zu schwer. Sie legte es aus der Hand und schluckte. Rocky spürte ihre Traurigkeit und kam zu ihr herüber. Er legte sich vor ihre Füße auf den Boden und winselte leise vor sich hin.

Ariane las die E-Mail noch einmal. Sie berührte den Antworten-Button und tippte über die Bildschirmtastatur eine kurze Nachricht zurück, dass sie heute Abend Skype einschaltete und auf Ellas Anruf wartete. Sie wollte ihr Beileid ausdrücken, fand jedoch nicht die richtigen Worte und drückte grußlos auf Senden. Dann wechselte sie von der Mail-App zum Browser und rief die Google-Seite auf. Sie tippte Boden und Katastrophe Buddbyträsket in das Eingabefeld und wählte anschließend die Nachrichtensektion von Google. Dann grenzte sie die Suche nach Meldungen innerhalb der letzten Woche ein.

Nichts.

Sie tippte nur Boden ein.

Zurück am Boden. Lärm am Boden. Auf dem Boden der Tatsachen. Zu Boden geschlagen. In Grund und Boden. Doppelter Boden.

Keine Nachrichten zum schwedischen Ort Boden. Ariane trank den Rest des Espressos und merkte, dass er mittlerweile kalt war. Sie verzog das Gesicht, drückte zweimal die Home-Taste des iPads und wechselte zurück in das Mailprogramm, um sich Ellas Nachricht durchzulesen. Sie hatte sich nicht verlesen. Der Ort stimmte. Als sie anschließend Google Maps startete und den Ort suchte, fand sie ihn auf Anhieb, ebenso wie den besagten See.

Ella hatte erwähnt, dass die Presse mundtot gemacht worden war und niemand darüber berichtete. Das konnte doch nicht sein.

Ariane legte das Pad auf den Tisch und sah zu Rocky. Als der Berner Sennenhund ihren Blick bemerkte, sprang er hoch und legte seine Vorderläufe auf ihren Schoß, damit sie ihn im Nacken kraulen konnte.

»Das Ganze ist reichlich merkwürdig, mein Dicker. Was denkst du, sagt Ella die Wahrheit oder fantasiert sie sich was zusammen?« Sie kannte die Schwedin nicht gut genug, um jederzeit die Hand für sie ins Feuer zu legen. Momentan stand ihr Wort gegen eine fehlende Berichterstattung. Aber selbst wenn die Presse nichts berichtete, musste doch wenigstens feststellbar sein, dass ihr Bruder und seine Familie verstorben waren.

Ariane zog einen Zettel von einem Notizblock und schrieb einige Stichworte auf. Sie würde eine E-Mail nach New York schicken. Einer ihrer Bekannten war Arzt bei der Gesundheitsbehörde. Wenn Ella recht hatte und man das Gebiet um den See abgeriegelt hatte, musste mehr geschehen sein als nur ein Unwetter. Vielleicht eine Virusepidemie, die man eingrenzen wollte?

Morgan-Thorne schrieb sie auf den Zettel. Sie hatte ihn bei einem Symposium kennengelernt und stand in lockerem Kontakt zu ihm.

O’Connell war der nächste Name auf dem Zettel. Liam O’Connell, ein Brite, Inspektor bei Scotland Yard – vielleicht konnte er über seine Interpol-Verbindungen etwas herausfinden. Immerhin war er ihr noch einen Gefallen schuldig.

In Schweden würde sie selbst anrufen. Sie hatte noch Redaktionskontakte. Auch wenn die keine Auskunft über einen Vorfall am Buddbyträsket geben konnten, ließ sich vielleicht über sie herausfinden, ob Vincent Degerlund und seine Familie verstorben war.

So viel zum freien Nachmittag, dachte Ariane und beschloss, sich noch einen zweiten Kaffee zu machen.

Überrannt

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