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Kapitel 5

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Eine Stunde zuvor

Der Kaffee schmeckte abgestanden und extrem bitter. Albin Nielsen verzog die Lippen und schüttete den Rest der schwarzen Suppe in den Ausguss. Er widmete sich wieder seiner Lieblingsbeschäftigung der letzten Stunden: Dr. Hanna Agren bei ihrer Arbeit zu beobachten. Er lächelte amüsiert, während er ihren Rücken und den Hintern musterte. Sie hatte zunächst versucht, die Obduktion mit Dr. Eggström in der Tyr-Rüstung durchzuführen, war aber schnell davon abgekommen. Die Körperpanzer waren für den persönlichen Schutz ausgelegt, nicht für feinfühlige Arbeiten wie eine Operation.

Während Eggström sich einen OP-Kittel und Haube mit Sichtschutz übergezogen hatte, begnügte sich Hanna mit einer Schürze, die hinten offen war und Nielsen einen hübschen Anblick auf ihren knackigen Po in einer engen Jeans bot. Hannas brünettes Haar war dicht und fiel ihr wie ein Samtvorhang weit über die Schultern auf den Rücken.

»Möchte noch jemand Kaffee?«, fragte Nielsen.

»Nein, danke.« Hanna schüttelte den Kopf und beugte sich über die dem Körper eines Jugendlichen entnommenen Organe.

Die beiden Ärzte beschäftigten sich mit zwei Leichen, die in einer Art gläsernem Sarg lagen. Mithilfe von computergesteuerten Roboterarmen schnitten sie die toten Körper auf und entnahmen ihnen die Organe, legten sie in Schalen, die über ein Fließband und durch eine Schleuse zu einem weiteren Plexiglaskasten transportiert wurden. Falls diese Menschen draußen am See durch irgendwelche Erreger gestorben waren, wollte man das Ansteckungsrisiko so gering wie möglich halten. Deshalb benutzten die Ärzte und Wissenschaftlicher nicht den Labortruck, sondern hatten drei Zelte mit Schleusen rund um den Lkw errichtet und obduzierten zu sechst sechs Leichname gleichzeitig. Falls eines der Zelte kontaminiert wurde, wurden die anderen beiden sofort informiert, die Operation abzubrechen. In dem Fall hätte man die Stellung aufgegeben und die Zelte und alle Leichen mit Magnesiumfeuer abgefackelt.

»Für mich, bitte.« Eggström. Ganz fantastisch. Für Hanna Agren hätte Nielsen gerne einen Kaffee aufgesetzt, aber nicht für die eingebildete Laborratte aus Stockholm. Aber er hatte gefragt, also blieb ihm nichts anderes übrig, als zu gehen.

Nielsen drehte sich um, nicht ohne einen letzten Blick auf Hannas Hintern zu werfen. Er seufzte und passierte die Schleuse. Da die Leichen in steriler Umgebung in den Glaskästen untersucht wurden, verzichtete man auf Bioschutzanzüge, wohl wissend, dass diese ohnehin nicht schützen würden. Das Seuchenteam draußen am See hatte es trotz dieser Vorkehrungen erwischt.

In der Dekontaminationsschleuse ließ Nielsen eine Dampfwolke über sich ergehen. Trockene Entgiftung, die Erreger, gleich ob bakteriellen oder virologischen Ursprungs, abtöten sollte. Auch wenn Eggström mehrfach darauf hingewiesen hatte, dass man nicht töten konnte, was nicht lebte. Damit meinte er seine heiß geliebten Viren.

Nielsen war die wissenschaftliche Definition von Leben herzlich egal. Er atmete, also lebte er. Ob Viren das taten oder nicht, sie waren der Feind und mussten eliminiert werden.

Vor der Schleusentür sog er tief die Luft ein. Nach der künstlichen, wiederaufbereiteten Atmosphäre im Zelt war die frische Luft unter freiem Himmel mehr als willkommen.

»Und? Schon irgendwelche kleinen Biester entdeckt?« Larsen kam aus einem der anderen beiden Zelte und grinste seinen Vorgesetzten an.

»Bisher nicht. Vielleicht sollte ich mein Vorurteil, dass wir es hier mit einem Erreger zu tun haben, beiseiteschieben.«

»Was sollte es sonst sein?«, fragte Larsen. »Wir haben keine Strahlung gemessen, es gibt keine sichtbaren Verletzungen. Es bleibt doch nur was Kleines, Unsichtbares.«

Nielsen machte eine wegwerfende Handbewegung. »Oh, wenn ich militärisch denke, fallen mir da noch ein Dutzend anderer Möglichkeiten ein. Es gibt zahlreiche Waffen, die das Nervensystem eines Menschen kollabieren lassen können, ohne Spuren zu hinterlassen.«

»Elektromagnetische Felder oder elektrische Impulse? Aber auch das würde die Obduktion aufdecken, oder nicht?«

»Möglich.« Nielsen schürzte die Lippen. Er ging zum Kaffeeautomaten, den sie unter einem Vorzelt des Trucks errichtet hatten, zog zwei Becher und stellte sie unter die Düsen. Für sich wählte er einen normalen Kaffee, für Eggström einen extrastarken, mit extra viel Zucker. Nicht, dass der Virologe danach verlangt hätte.

»Jedenfalls hab ich ein Scheißgefühl bei der Sache«, sagte Larsen.

»Deswegen tragen Sie auch noch die Rüstung?« Nielsens Blick hing skeptisch an dem monströsen Schutzpanzer. Nur den Helm hatte Larsen abgelegt.

»Kommen Sie, Major, Sie wissen, wie schwer man aus dem Ding heraus und wieder hinein kommt. Die Erfinder hätten irgendeine Mechanik integrieren sollen, die ein vollautomatisches Ankleiden ermöglicht.«

Nielsen lachte. »Sie meinen wie bei Iron Man? Träumen Sie weiter. Sie werden schon Ihre Zofen brauchen, um sich aus dem Panzer zu schälen.«

Eine Vollautomatik hätte tatsächlich etwas für sich gehabt. Zwei Militärangehörige hatten fünfzehn Minuten gebraucht, um Nielsen von der Tyr-Rüstung zu befreien. Das Ankleiden dauerte sogar noch fünf Minuten länger, bis alles saß, verzurrt und angeschnallt und abgedichtet war. Er nahm sich vor, diesen Punkt in seiner Bewertung für den Bericht, den er schreiben musste, aufzunehmen. Ob er darin erwähnte, dass der Vorschlag eigentlich auf Larsens Mist gewachsen war, überlegte er sich noch.

»Haben Sie das im zweiten Film gesehen? Diesen roten Koffer, den er bei sich tragen konnte. Ein Knopfdruck und schwups, entblätterte sich die ganze Rüstung und legte sich um seinen Körper.« Larsen blickte in die Luft, als glaubte er, dort jemanden wie seinen Superhelden zu sehen. »Iron Man ist cool.«

»Wir sind cooler, Isak«, sagte Nielsen. »Wir haben außer der Tyr-Rüstung noch das Lokipuls. Das geht durch Starks Rüstung wie durch Butter.«

»Das müsste noch bewie…« Larsen sprach nicht zu Ende, da ein Funkspruch ihn unterbrach.

»Wir sind da auf etwas gestoßen!« Das war Dr. Agrens Stimme.

Nielsen nickte Larsen zu. Dieser beeilte sich, in Zelt Nummer zwei zurückzukehren, während er selbst mit den beiden Kaffee in der Hand zu der Schleuse ging, aus der er vor wenigen Minuten gekommen war.

Noch immer konnte er die Rückansicht von Dr. Agren bewundern, doch etwas hatte sich verändert. Die Ärztin hantierte hektisch an der Tastatur eines Computers, justierte über einen Touchscreen Bilder nach, während Schweißperlen auf Dr. Eggströms Stirn glänzten.

»Hat hier jemand Kaffee bestellt?«

Hanna fuhr herum, sah zu ihm auf und winkte ihm. »Kommen Sie, Sie müssen sich das ansehen.«

Nielsen trat an sie heran und reichte hinter ihrem Rücken den Becher an Eggström weiter. Der zog sich die Kappe vom Kopf, wischte sich damit den Schweiß von der Stirn und nahm dann einen großen Schluck. Angewidert verzog er das Gesicht und beherrschte sich mühsam, nicht den Inhalt seiner Mundhöhle mitten im Labor auszuspucken.

»Herrgott, der ist ja … widerlich!«

»Hat Automatenkaffee so an sich«, sagte Nielsen. Er war stolz auf sich, dass er dabei nicht mal mit den Mundwinkeln zuckte. Interessiert beugte er sich über den Schreibtisch und sah Hanna Agren über die Schulter. »Was haben wir?«

Eggström fluchte noch immer. »Major, was ist das?«

»Hm?« Nielsen blickte kurz auf und sah, wie der Virologe mit zusammengekniffenen Augen auf den Becher deutete und ihn dann in einen Ausguss schüttete.

»Zu stark?« Demonstrativ nippte Nielsen an seinem Kaffee und runzelte dann die Stirn. »Oh, scheint, als hätte ich Ihnen meinen gegeben. Na ja, nichts für ungut, Doc.«

Er ignorierte die empörte Bemerkung des anderen und wandte sich wieder Hanna zu.

»Sie können ganz schön gemein sein«, raunte sie ihm zu, während sie gleichzeitig auf das Display vor sich deutete.

»Er hat es verdient. – Was haben wir da?«

»Womit? Er hat Ihnen doch gar nichts getan.« Hanna sprach lauter: »Wir haben die Todesursache der Leute am See festgestellt. Chemische Spurenanalyse und die Untersuchung mit dem Elektronenrastermikroskop weisen darauf hin, dass sämtliche Zellen frei von ATP sind.«

»Er ist arrogant«, murmelte Nielsen. »ATP?«

Hanna nickte und streckte ihre Finger nach einem Schalter neben dem Bildschirm aus. »Ich lege uns auf die Kommunikation zu den beiden anderen Zelten, damit die Kollegen mithören können. ATP ist das Kürzel für Adenosintriphosphat, ein Nukleotid, das in einfacher Form ausgedrückt reine Zellenergie darstellt.«

»Und ich dachte immer, Dextrose wäre Sofortenergie.« Das war Larsens Stimme aus den Lautsprechern.

»Klappe halten, Löjtnant!«

Hanna lächelte. »Lassen Sie ihn ruhig. Er hat nicht ganz unrecht. Die Werbung verspricht uns Sofortenergie durch Traubenzucker. Was sie verschweigt, ist, dass auch dieser Zucker in den Zellen gespalten und verarbeitet werden muss, ehe reine und universell einsetzbare Zellenergie entsteht – ATP.«

»Wir haben eine biochemische Analyse des Zellgewebes vorgenommen, Dr. Agren«, meldete sich einer der anderen Militärwissenschaftler zu Wort. »Mit dem gleichen Ergebnis. Die verstorbenen Organismen weisen keine Spuren von ATP auf.«

»Die Aufnahmen des Elektronenmikroskops, die ich Ihnen gerade geschickt habe, zeigen, warum. Die Zellen besitzen keine Mitochondrien mehr.« Hanna sah zu Nielsen. »Das sind für Laien ausgedrückt mikroskopisch kleine Organe, sogenannte Organellen, die innerhalb von Zellen arbeiten und als eine Art Kraftwerk für Zellenergie fungieren.«

Nielsen fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Lassen Sie mich raten, diese Mitochondrien produzieren ATP.«

»Exakt.«

»Also hat irgendwer dafür gesorgt, dass alle Mitochondrien gleichzeitig ausfallen, keine Energie mehr produziert wird und die Menschen einfach in sich zusammengesackt sind. Aber es müssen doch noch Restspuren von ATP im Körper gewesen sein. Ich meine, wenn ich bei einem Radio den Stecker ziehe, geht es sofort aus, aber ein Mensch klappt doch nicht augenblicklich zusammen, weil …«

»Der menschliche Organismus ist wie der eines jeden anderen Säugetiers auch ein pausenlos arbeitendes System an Informationsweiterleitung, biochemischen Prozessen, Energiegewinnung und deren Verbrauch«, mischte sich Eggström ein, der das Kaffeeattentat offenbar überwunden hatte. »Wenn schlagartig alle Mitochondrien in jeder Zelle ihre Arbeit einstellen, erleidet der Betreffende multiples Organversagen. Die Restenergie, die ihn noch ein paar Sekunden aufrecht stehen lässt, verbraucht sich rasend schnell, bis dann nur noch ein Zusammenklappen bleibt. Der Tod tritt unmittelbar danach ein. Herzversagen, Atemstillstand, Sauerstoffunterversorgung des Gehirns, Exitus.«

Nielsen stieß die Luft aus und rieb mit einer Hand über sein Kinn.

»Also, wer könnte diese Mitochondrien zum Schweigen gebracht haben?«

»Nicht zum Schweigen«, sagte Eggström. »Ausgelöscht. Es sind de facto keine mehr da!«

Aus den Lautsprechern drang ein Schnappen, jemand hatte wohl erschrocken Luft geholt. Nielsen sah die beiden Wissenschaftler fragend an. Niemand antwortete. Auch in den anderen Zelten herrschte Ratlosigkeit.

Ein Knacken in der Funkverbindung brach das Schweigen.

»Major Nielsen? Wir haben einen Vorfall! Der Polizei- und Rettungsfunk berichtet von massiven Sterbefällen in Boden. Die Menschen brechen auf der Straße einfach zusammen!«

Alarmiert blickte Nielsen auf. »Was? Wiederholen Sie!«

»Die Berichte überschlagen sich und viele Meldungen sind abgehackt, weil sie abbrechen, bevor sie zu Ende gesendet wurden.« Der Sprecher holte tief Luft. »Boden wird angegriffen, Major!«

* * *

Angriff war etwas, womit Albin Nielsen umgehen konnte. Er war darauf trainiert und ausgebildet, einer Bedrohung von außen zu begegnen – solange sie sichtbar war. Viren und Bakterien waren die Feinde der Wissenschaftler, ihr Metier. Nielsen brauchte etwas, das er anvisieren und erschießen konnte. Er drehte sich um und griff nach dem Lokipuls, als er sich daran erinnerte, dass er außer seiner Uniform nichts trug. Ohne die Tyr-Rüstung kam er sich plötzlich nackt vor. Er fluchte und drückte eine Taste an seinem Funkgerät.

»Larsen? Sie stecken doch noch in ihrer Tyr. Helm auf und raus! Nehmen Sie alle verfügbaren Männer mit, die ebenfalls noch die Rüstung anhaben.«

»Verstanden, Major.«

»Und halten Sie mich auf dem Laufenden.«

Hanna und Eggström blickten Nielsen entgeistert an.

Er hob die Hände. »Würden Sie beide mir bitte dabei behilflich sein, meine Rüstung anzulegen?«

»Was hat das da draußen zu bedeuten?«, fragte Eggström.

»Das will ich herausfinden, aber dafür würde ich gerne …«

»Ein Angriff! Das ist doch Schwachsinn!«

»Ich stimme meinem Kollegen zu«, sagte Hanna. »Wer sollte Boden angreifen? Wir haben doch gerade herausgefunden, d…«

»Dass Zellnukleotide im menschlichen Körper vernichtet wurden«, fiel Nielsen ihr ins Wort. »Ganz recht. Was, glauben Sie, könnte das verursacht haben? Viren? Für mich klingt das eher nach einer Waffe.«

»Was für eine Waffe sollte das sein?« Eggström schüttelte den Kopf.

»Genau das …« Nielsen brach ab. Zeitverschwendung. Die beiden würden ewig weiterdiskutieren. Er drehte sich um, packte die Ausrüstungsteile und nahm sich vor, draußen jemanden zu suchen, der ihm half, in die Rüstung zu schlüpfen. Doch noch bevor er die Schleusentür erreicht hatte, knackte sein Funkgerät. Abrupt blieb er stehen.

»Major? Lundin hier. Befinde mich mit Eklund und Wallin am äußeren Perimeter.«

Das war schnell. Das Basislager seines Teams mit Truck, Geländewagen und den Quarantänezelten befand sich knapp zwei Kilometer südlich von Boden.

»Waren auf Patrouille, als wir die ersten Nachrichten über den Polizeifunk reinbekamen.«

»Seid ihr zu Fuß unterwegs?«

»Negativ. Im C03.«

Das war der Einsatz-Volvo. Ein kleines Truppenfahrzeug, das gerade noch genug Platz im Innenraum bot, um auch einen Soldaten in Tyr-Rüstung hinter dem Steuer aufzunehmen.

»Bleiben Sie im äußeren Perimeter. Nur beobachten. Keine Alleingänge. Löjtnant Larsen ist unterwegs zu Ihnen und wird das weitere Vorgehen koordinieren, bis ich dort bin.«

»Verstanden, Major.«

Nielsen nahm wieder Kontakt zu seinem Leutnant auf. »Larsen, haben Sie mitgehört?«

»Ja, in Ordnung. Wir nehmen den zweiten C03 und treffen uns am Rendezvouspunkt mit Lundins Kommando.«

Hanna trat an Nielsen heran und begann, ihm den Harnisch des Tyr-Panzers anzulegen. Sie blickte ihn besorgt an. »Was kann da los sein? Glauben Sie wirklich, dass irgendein militärischer Gegner eine Waffe zum Einsatz bringt?«

Nielsen zuckte die Achseln und ließ sich helfen, die Magnetverschlüsse zu justieren und zu schließen. »Möglich ist alles.«

»Aber wenn dem so wäre, warum ausgerechnet hier? Was hätte Schweden denn schon Besonderes zu bieten? Und dann auch noch in einer Kleinstadt wie Boden!«

Nielsen wollte erneut die Schultern heben, doch der Harnisch verhinderte dies. Bevor Hanna damit fortfahren konnte, ihm weitere Rüstungsteile anzulegen, knackte wieder das Funkgerät.

»Haben den C03 verlassen und warten auf Löjtnant Larsen. Befinden uns noch außerhalb des Gefahrenperimeters, allerdings kann ich nicht sagen, wie lange dem noch so ist.«

Nielsen schob Hanna sanft aber mit Nachdruck beiseite, um den Sender bedienen zu können. »Warum? Was ist da los?«

»Wir sehen Menschen. Sie laufen kreuz und quer durch die Straßen. Autos sind zusammengestoßen. Ein Hydrant sprengt eine Wasserfontäne in die Luft. Ich glaube, in der Innenstadt sind Feuer ausgebrochen. Rauchwolken steigen durch die Straßenzüge. Jetzt … warten Sie, Major. Die Menschen … sie … sie fallen einfach um. Mitten im Laufen. Einer nach dem anderen. Herrgott, das …«

Hanna warf Nielsen einen sorgenvollen Blick zu. Ihre Lippen teilten sich, doch kein Ton löste sich von ihnen.

»Was ist, Lundin? Können Sie mir ein Kamerabild liefern?«

»Warten Sie, Major. Wallin. Es hat Wallin erwischt. Er ist einfach umgefallen in seiner Rüstung!«

Ein Knacken in der Leitung.

»Was war das?« Das war eine andere Stimme. Offenbar Eklund, der sich bei Lundin befand.

»Was denn?« Lundin.

»Ach …« Eklunds Stimme brach abrupt ab. Dann dröhnte Lundins Aufschrei durch den Äther.

»Eklund ist ebenfalls zusammengebrochen. Verdammt, die Tyr-Rüstung schützt uns nicht! Haben Sie gehört, Major?«

Nielsen merkte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach und eine Hitzewelle über seinen Rücken schoss.

»Kamerabild, Lundin!«

»Moment, ich … was … was war das?«

Die Verbindung brach ab.

»Lundin? Lundin, können Sie mich hören?« Nielsen wollte gerade nach seinem Helm greifen und sich im Innendisplay die Lebenszeichen Lundins anzeigen lassen, doch Larsen kam ihm zuvor. Der Leutnant meldete sich über Funk.

»Haben Lundins Kommando erreicht, Major. Lebenszeichen aller drei sind tot. Wiederhole, unsere Leute sind tot. Kein sichtbarer Gegner. Wir scannen alle Frequenzen des Spektrums. Es gibt einen Ausschlag im Pikometerbereich.«

Ein Stirnrunzeln bei Eggström. »Gammastrahlung?«

»Nein, Doktor«, sagte Larsen. »Unsere Scanner erfassen die Wellen nicht richtig. Es scheint jenseits davon zu liegen. Keine radioaktiven Messwerte. Als würde sich etwas im elektromagnetischen Spektrum bewegen, das nicht hierhergehört.«

»Bitte?«, hakte Hanna nach. Gammastrahlung besaß bereits hyperkurze Wellenlängen, die im atomaren Bereich lagen.

»Er fantasiert«, sagte Eggström. »Im Spektrum bewegen, das ist nicht …«

»Still!«, fuhr Nielsen dazwischen. Er griff zum Telefon und sah, wie Hanna gleichzeitig ihr Handy aus einer Tasche ihrer Schürze zog. »Nielsen hier. In Boden. Ich brauche sofort das Verteidigungsministerium.«

»Ella, ich bin es«, sagte Hanna ins Telefon. »Ja. Nein, wir sind noch bei den Untersuchungen. Hör mir zu, wo bist du? In Luleå am Flughafen? Willst du weg? Eine Freundin? Pass auf, ihr müsst sofort verschwinden. Fa…«

Nielsen winkte heftig, hielt die Sprechmuschel des Hörers zu und sagte: »Sagen Sie ihr nichts von einer Evakuierung.«

Hanna runzelte die Stirn. »Wir evakuieren nicht?«

Der Major hob eine Hand, als er jemanden in der Leitung hatte. »Ja, Herr Minister. Major Nielsen hier. Wir haben heftige Probleme in Boden. Die Stadt wird angegriffen. So wie es aussieht, ist ein Großteil der Bevölkerung davon betroffen. Lösen Sie umgehend Evakuierungsalarm für Boden aus. Ich schlage eine Quarantänezone von zwanzig Kilometern vor. Die Bewohner außerhalb dieser Zone sollen in ihren Häusern bleiben. Und wir brauchen Militär hier.«

»Grundgütiger!« Ein Japsen war am anderen Ende zu hören.

»Warte mal«, sagte Hanna in ihr Telefon.

Gleichzeitig meldete sich eine Stimme über Funk. Aber das war nicht Larsen, sondern einer der Männer, die mit ihm nach Boden hinausgefahren waren.

»Was war das, Löjtnant? Haben Sie das auch …?«

Die Stimme verstummte.

»Verdammt!« Larsen. »Major, es hat … was zum Henker …?«

Auch Larsen verstummte.

Major Albin Nielsen ließ die Schultern hängen. Gleichzeitig verkrampfte sich seine Hand dermaßen um den Hörer, dass das Plastik knarzte. »Herr Minister, wir haben soeben Boden verloren. Ich schlage vor, dass Sie davon noch nichts an die Öffentlichkeit dringen lassen, sondern es bei einem Evakuierungsalarm belassen.«

»Aber, um Gottes willen, was soll ich denn der Presse sagen?«

»Darüber sollten wir uns hinterher Gedanken machen. Wichtig ist jetzt zu handeln. Stimmt der General mit mir überein?«

Während Nielsen hörte, wie sich der Verteidigungsminister mit jemand anderem im Raum besprach, redete Hanna weiter mit ihrer Freundin.

»Fahrt nach Norden, Ella. Es wird Evakuierungsalarm für Boden gegeben und der Notstand für den Großraum Luleå ausgerufen. Hörst du, fahrt so weit wie möglich weg von Luleå.«

Hanna beendete das Gespräch.

Der Minister war wieder in Nielsens Leitung. »General Andersson und Admiral Holm teilen Ihre Meinung. Wir werden umgehend Evakuierungsalarm ausrufen. Notstandgesetze für Nordschweden treten ab sofort in Kraft. Truppenteile werden zu Ihnen in Bewegung gesetzt. Major?«

»Ja, Herr Minister?« Nielsen lockerte den Griff um den Hörer etwas. Er spürte Wut und Verzweiflung in sich aufkeimen. Er hatte seine ganze Truppe verloren. Und er wusste nicht einmal, an wen. Das versetzte ihm nicht nur einen Stich im Herzen, sondern drängte seinen Verstand an den Rand einer Ohnmacht. Er atmete tief durch und rief sich selbst zur Räson. Er musste handlungsfähig bleiben, außer ihm gab es vorerst niemand anderen hier vor Ort.

»Halten Sie uns auf dem Laufenden über den Gegner.«

Als das Gespräch beendet war, nickte Nielsen mit dem Kinn in Eggströms Richtung. »Haben wir Bilder von Larsen?«

Der Wissenschaftler schüttelte den Kopf. Er beugte sich über ein Pult und drückte die Sendetaste der Funkstation, um die anderen beiden Zelte zu rufen. Vielleicht hatten sie mehr Glück gehabt und Videomaterial von den Militärposten empfangen.

Zelt drei meldete sich nicht.

Doch aus dem zweiten kam eine Bestätigung. Einer der Ärzte im Team. »Wir haben eine Aufzeichnung, aber nur bruchstückhaft. Sie ist nicht von Larsen, sondern von einer Webcam. Mein Gott, mein Gott! Die ganzen Menschen. Sie … sie fallen einfach … Viklund, was ist mit Ihnen?«

Das war der andere Arzt, der sich ebenfalls im zweiten Zelt befand.

»Großer … Viklund! Mein Gott, es ist hier drinnen, es ist bei uns! Was … was war das?«

Nur noch Rauschen.

Dann Stille.

Eggström war kalkweiß geworden. Hanna zitterte.

»Ich … ich werde uns ein Bild von dieser Webcam …«

»Nein!«, schrie Nielsen und sprang vor. Er riss den Sicherungskasten auf und hieb auf den Notschalter. Von einem Lidschlag auf den nächsten wurde es stockdunkel im Zelt. Der Strom war weg. Alle Geräte und Lichter ausgegangen.

Nielsen wartete zusammen mit Hanna Agren und Dr. Eggström in der bedrückenden Finsternis des Zeltes auf den Tod.

Überrannt

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