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2. Soziale Freiheit
ОглавлениеDass man in einer antiken vorderorientalischen Gesellschaft mit erheblichen sozialen Differenzierungen und damit auch mit dem Phänomen der Sklaverei zu tun hat, bedarf keiner weiteren Begründung. Die beiden Königtümer Israel und Juda partizipierten nicht nur religiös, sondern auch in ihrer gesellschaftlichen Verfasstheit an der altorientalischen Mitwelt. So ist es kein Wunder, dass die alttestamentliche Sklavengesetzgebung, soweit sie in der ältesten Gesetzessammlung, dem sogenannten Bundesbuch (Ex 20,22–23,33), enthalten ist, im Großen und Ganzen dem altorientalischen Gewohnheitsrecht entspricht, wie es etwa im berühmten Kodex Hammurapi (um 1700 v.Chr.) niedergelegt ist. Sklaven waren Unfreie, die ihre Herren nicht verlassen durften und rechtlich den Sachen gleichgestellt waren. Man durfte sie schlagen, verkaufen und sogar töten (vgl. mit Einschränkungen Ex 21,20f.). Die Freilassung von Sklaven ist demnach ein Rechtsakt, der der besonderen Regelung bedarf.
So legt Ex 21,2–6 fest, dass ein »hebräischer Sklave«, der möglicherweise durch Schuldsklaverei in seine Lage gekommen ist (um Kriegsgefangene geht es hier offensichtlich nicht), im siebten Jahr seines Dienstes freigelassen werden soll, aber auf eigenen Wunsch auch bei seinem Herrn verbleiben kann, dann freilich dauerhaft. In Ex 21,7–11 sind Regelungen über die Sklavin angefügt, die grundsätzlich nicht unter die Pflicht zur Freilassung im siebten Jahr fällt, jedoch unter bestimmten Bedingungen ausgelöst werden kann. Diese Regelungen zur Sklavenfreilassung fallen übrigens in gewisser Hinsicht hinter die viel älteren Bestimmungen des Kodex |24|Hammurapi zurück, der für den Fall, dass eine Frau, ein Sohn oder eine Tochter als Schuldsklave verkauft wird, eine Freilassung bereits im vierten Jahr vorsieht (§ 117, vgl. TUAT I, 56f.).
Es mag für heutige Leser überraschend sein, dass die alttestamentlichen Rechtstexte die Institution der Sklaverei nicht nur nicht kritisieren, sondern sie überhaupt nicht in Frage stellen. Sie gehörte offenbar zur gesellschaftlichen Realität, die indes in der Literatur- und Theologiebildung des Alten Testaments zunehmend vom Gedanken eines einheitlichen Gottesvolkes her umfassend relativiert oder gar missbilligt wird. Man muss demnach unterscheiden zwischen der empirischen sozio-ökonomischen Lage der Sklaven im antiken Israel und Juda, wie sie sich aus den besprochenen Rechtstexten, aber auch aus archäologischen Quellen rekonstruieren lässt, und der sich in den alttestamentlichen Texten niederschlagenden religiösen Theoriebildung. Letztere konnte und sollte zwar normsetzend auf die Realität einwirken und sie verändern, blieb aber dennoch in vielen Fällen nur Programm und Idee.
So ist die Vermutung nicht abwegig, dass die Freilassung eines Sklaven im siebten Jahr etwas mit dem Sabbat zu tun hat, es also auf eine schöpfungstheologische Verankerung der Sozialgesetze ankommt. Ob und inwieweit diese Gesetze jemals angewendet wurden, entzieht sich unserer Kenntnis. Deutlich ist jedenfalls, dass die Regelungen des Bundesbuches Ex 20–23 – unbeschadet älterer in ihm enthaltener Rechtsüberlieferungen – in ihrer vorliegenden Gestalt von einem gemeinsamen Bewusstsein des Gottesvolkes bestimmt sind. Bekräftigt wird dies maßgeblich durch ihre jetzige literarische Position im Exodusgeschehen. Denn der im Sklavengesetz angeredete Israelit (vgl. das »du« in Ex 21,2) wird im Horizont der vorliegenden Exoduserzählung als der eben erst aus der ägyptischen Knechtschaft Herausgeführte und Befreite angesprochen, und er wird aufgrund dieser kollektiven Erfahrung sogleich in die soziale Pflicht genommen. Die Sklavengesetze enthalten also in ihren konkreten Formulierungen und in ihrer jetzigen literarischen Einbettung weniger tatsächlich praktiziertes Recht als vielmehr theologisches Programm: Sie dienen der Grundlegung der spezifisch israelitischen Bruderethik. Insoweit spiegeln sie auch die theologische Verarbeitung und Bewertung einer offenbar nicht erst aus |25|heutiger Sicht problematischen sozialgeschichtlichen Realität wider, wie man sie auch anderwärts im Alten Orient antreffen konnte.
Illustrieren lässt sich diese zunehmende Theologisierung ursprünglich profanen Sozialrechts durch einen Blick auf die innerbiblische Rezeptionsgeschichte der Sklavengesetze im deuteronomischen Gesetz (Dtn 12–26) einerseits und im Heiligkeitsgesetz (Lev 17–26) andererseits (vgl. dazu insgesamt Otto 1994). So wird das Sklavengesetz aus Ex 21 in seiner rechtstheologischen Revision in Dtn 15,12–18 im Horizont der deuteronomischen Bruderethik verschärft: Der Sklave soll bei seiner Entlassung reichlich belohnt werden. Und nach Lev 25,39–55 darf es einen »hebräischen Sklaven« gar nicht mehr geben: »Wenn dein Bruder (!) neben dir verarmt und sich dir verkaufen muss, sollst du ihn nicht als Sklaven arbeiten lassen« (V. 39). Nur ein Status als »Tagelöhner« ist »bis zum Jobeljahr«, also bis zur Freilassung im siebten Jahr, erlaubt. Auch hier steht die spezielle israelitische Bruderethik im Hintergrund, bei der man wiederum fragen kann, ob und inwieweit sie überhaupt über ein theologisches Programm hinausgekommen ist. Immerhin zeigen Texte wie Jer 34,8–22, dass es sich bei der in Ex 21 vorgesehenen allgemeinen Sklavenfreilassung im siebten Jahr kaum um eine allgemein anerkannte Praxis gehandelt haben kann.
Es ist schon notiert worden, dass die alttestamentlichen Gesetze über die Freilassung von Sklaven nicht zufällig im literarischen und sachlichen Zusammenhang der Herausführung des Gottesvolkes Israel aus Ägypten stehen: Weil Israel Sklave war im Land Ägypten und von Jahwe befreit worden ist, soll es sich – so explizit in der Geschichtstheologie des Deuteronomiums – um eine gute Behandlung der Sklaven (Dtn 15,15), ja der sozial Schwachen überhaupt bemühen. Hierin spiegelt sich eine besondere Hermeneutik der Erinnerung (zu diesem Phänomen vgl. Assmann 1992): Der Exodus als das Israel allererst konstituierende Befreiungshandeln Jahwes wird erinnernd vergegenwärtigt und aktualisiert, als sei jeder Israelit, auch Hunderte von Jahren später, selbst dabei gewesen. Erst durch diesen hermeneutischen Kunstgriff wird die Erfahrung des Exodus in ethisches Handeln transformiert. Damit ist bereits angedeutet, wie vielschichtig das Alte Testament die Überlieferung vom Exodus versteht.