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2.1.1 Großbritannien

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Grundstruktur

Großbritannien ist das „Mutterland“ des öffentlichen Gesundheitsdienstes. Mit dem 1946 eingeführten National Health Service (NHS) existiert dort seit über 70 Jahren ein nationaler Gesundheitsdienst, der für alle Einwohner Großbritanniens die gesundheitliche Versorgung sicherstellt. Obwohl er aus Steuermitteln des Zentralstaats finanziert wird, wird der NHS in England, Nordirland, Schottland und Wales separat verwaltet. In England wird die Gesundheitsversorgung seit 2012 – über aktuell 135 lokale Gesundheitsdienste (Clinical Commissioning Groups – CCGs) organisiert, die im Durchschnitt für jeweils 250.000 Einwohner zuständig sind. Letztere sind die eigentlichen Durchführungsorgane des NHS. Sie organisieren und finanzieren mit den ihnen zugewiesenen Budgets die ambulante und stationäre Versorgung durch Verträge mit den unterschiedlichen Leistungserbringern.

Die private Krankenversicherung (PKV) gewährt in Großbritannien vor allem einen schnelleren Zugang zur medizinischen Behandlung, mehr Komfort und mehr Wahlmöglichkeiten zwischen Leistungserbringern. Ungeachtet der Kapazitätsprobleme und Rationierungsmaßnahmen (s.u.) stagniert die Ausdehnung der PKV auf der Insel allerdings: Der Prozentsatz der privat Krankenversicherten liegt seit rund 20 Jahren nahezu konstant zwischen 11 und 12 Prozent (vgl. Boyle 2011). Häufig werden die Kosten der privaten Zusatzversicherungen von den Arbeitgebern getragen.

Finanzierung

In Großbritannien werden derzeit (Stand 2017) knapp zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für Gesundheitsausgaben aufgewendet. Dieser Wert liegt leicht über dem Durchschnitt aller EU-Staaten (9,8 Prozent) und dem Durchschnitt der OECD-Länder (8,8 Prozent). Betrachtet man die Entwicklung des Anteils der Gesundheitsausgaben während der letzten 20 Jahre, so ist ein erheblicher Anstieg zu konstatieren: Während der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP Mitte der 90er-Jahre noch bei 6,6 Prozent lag, lag er zehn Jahre später bereits zwei Prozentpunkte höher und liegt derzeit bei 9,8 Prozent. Dieser Steigerungsrate um rund 50 Prozent entspricht auch die Zunahme der absoluten Gesundheitsausgaben. Im Jahr 2017 wurden in Großbritannien pro Kopf kaufkraftbereinigt etwas weniger als 4.000 US-Dollar für Gesundheit ausgegeben; der Wert liegt etwas über dem Durchschnitt der EU bzw. OECD.

79 Prozent aller Gesundheitsausgaben in Großbritannien werden aktuell aus öffentlichen Quellen finanziert. 16 Prozent der Ausgaben tragen die privaten Haushalte in Form von Direktzahlungen, während die privaten Krankenversicherer rd. 3 Prozent beitragen. Insgesamt zählt das Vereinigte Königreich damit zu den Staaten mit einem vergleichsweise hohen öffentlichen Anteil an der Finanzierung des Gesundheitssystems.

Der NHS finanziert sich zum weitaus größten Teil, konkret zu ca. 80 Prozent, aus allgemeinen Steuereinnahmen des Zentralstaats, zu einem kleineren Teil aber auch aus Sozialversicherungsbeiträgen des National Insurance Fund, also der nationalen Sozialversicherung, in die Arbeitgeber und alle Erwerbstätigen, auch Selbstständige, einzahlen. Die dem NHS zur Verfügung stehenden Finanzmittel werden dann zum Großteil an die CCGs verteilt. Zur Finanzierung tragen zudem Zuzahlungen bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln und Zahnbehandlung bei: Für die Verschreibung von Arzneimitteln sind jeweils 9,15 britische Pfund zu entrichten. Für eine zahnmedizinische Behandlung fällt – abhängig von Art und Umfang – eine Selbstbeteiligung von bis zu 270 britischen Pfund an. Sozialhilfeempfänger, Kinder und Jugendliche unter 16 bzw. (bei Schülern) 19 Jahren, Schwangere und Mütter von Kleinkindern sind von diesen Zuzahlungen vollständig befreit. Rentner, Behinderte und chronisch Kranke sind von Arzneimittelzuzahlungen ausgenommen. Personen mit niedrigen Einkommen können vom NHS Nachlässe bzw. finanzielle Hilfen erhalten. Für Geldleistungen bei Krankheit und Mutterschaft, Invalidität, Alter, Hinterbliebene und Arbeitslosigkeit gibt es einen globalen Beitrag; Arbeitgeber müssen 13,8 Prozent, Arbeitnehmer 12 Prozent ihres Bruttoeinkommens entrichten.

Leistungen

Die Leistungen des NHS stehen der gesamten Bevölkerung zur Verfügung. Die medizinischen Leistungen werden nach dem Sachleistungsprinzip gewährt und sind grundsätzlich kostenlos. Sie erstrecken sich auf ärztliche und zahnärztliche Behandlung, Arzneimittel, Heil- und Hilfsmittel, stationäre Versorgung, Entbindungs- und Rehabilitationsmaßnahmen, Mutterschutz und Präventionsleistungen. Die Leistungen sind vergleichsweise umfassend; Sehhilfen gehören jedoch i.d.R. nicht dazu. Der umfassende Leistungskatalog ist die eine Seite des NHS – die andere ist die Tatsache, dass der NHS diese Leistungen häufig nicht in einem angemessenen Zeitraum zur Verfügung stellen kann. Der NHS rationiert vielmehr faktisch auf Basis des zur Verfügung stehenden Budgets über Leistungsrestriktionen oder Wartelisten, die regional unterschiedlich ausfallen können.

Die Wartelisten in der stationären Versorgung waren bislang und sind nach wie vor eines der größten Probleme des NHS. Sie sind eine Folge unzureichender finanzieller Mittel und fehlender Behandlungskapazitäten. Davon betroffen sind vor allem Patienten mit nicht lebensbedrohlichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen; die Akut- und Notfallmedizin kennt solche Probleme i.d.R. nicht. Die britische Regierung hat sich dieses Problems in den letzten Jahren verstärkt angenommen und die finanzielle Ausstattung des NHS deutlich verbessert. Eines der Ziele war die Erweiterung der Krankenhauskapazitäten. Verbesserungen sind mittlerweile deutlich spürbar: Während z.B. 1997 rd. 1,1 Mio. Engländer auf eine Krankenhausbehandlung warten mussten (davon 570.000 bereits länger als 13 Wochen und 283.000 länger als 26 Wochen), waren es 15 Jahre später nur noch rund die Hälfte. In den letzten Jahren hat sich die Anzahl der Patienten auf den Wartelisten allerdings wieder deutlich erhöht, gleichzeitig konnten die 2012 eingeführten Zielwerte z.B. für den zeitnahen Beginn onkologischer Behandlungen zuletzt häufig nicht mehr erreicht werden.

Neben den medizinischen Leistungen des NHS sieht Großbritanniens Gesundheitssystem auch Geldleistungen vor: Im Krankheitsfall zahlt der Arbeitgeber zunächst bis zu 7 Monate lang eine Pauschale als Lohnfortzahlung. Im Anschluss daran gewährt die Sozialversicherung arbeitsunfähigen Bürgern Krankengeld. Abhängig beschäftigte Frauen haben zudem gegenüber ihrem Arbeitgeber bei Mutterschaft gesetzlichen Anspruch auf Mutterschaftsgeld im Sinne einer Lohnfortzahlung; für nicht erwerbstätige Frauen gibt es Mutterschaftsbeihilfe.

Organisation der Versorgung

Die ambulante hausärztliche Versorgung erfolgt in Großbritannien in aller Regel über bei den CCGs angestellten oder an diese bzw. den NHS vertraglich gebundenen Hausärzte, die in eigener Praxis oder Gemeinschaftspraxis arbeiten. Seit einigen Jahren gibt es für Hausärzte bei Erreichen bestimmter Ziele (z.B. Impfquoten) Bonuszahlungen („Pay for Performance“). In Großbritannien besteht grundsätzlich freie (Haus-)Arztwahl; Voraussetzung ist allerdings, dass der ausgewählte Arzt auch zustimmt. Findet ein Patient keinen solchen, kann die zuständige NHS-Verwaltungseinheit ihn auf die Liste einer Praxis setzen. Die ambulant-fachärztliche Versorgung ist ausschließlich im Krankenhaus angesiedelt. Den Hausärzten kommt die Gatekeeper-Funktion zu: Die Konsultation eines Facharztes ist im NHS nur nach Überweisung durch den Hausarzt möglich. Viele in Krankenhäusern angestellte Fachärzte praktizieren allerdings auch privat. Patienten mit privaten Zusatzversicherungen haben direkten Zugang zu den privat behandelnden (Krankenhaus-) Fachärzten.

Die fachärztliche und die stationäre medizinische Versorgung erfolgt überwiegend durch öffentliche Krankenhäuser in Trägerschaft des NHS. Die Krankenhäuser erhielten in letzter Zeit zunehmend mehr Autonomie. Diese wurde begleitet durch eine Umwandlung der Rechtsform: Die große Mehrheit der öffentlichen Krankenhäuser arbeitet nunmehr in der Rechtsform von Stiftungen (sog. NHS Hospital Trusts und NHS Foundation Trusts). Eine freie Wahl des Krankenhauses gab es lange Zeit nicht. Die Überweisung erfolgte vielmehr durch den Hausarzt, der in der Regel das am besten geeignete Krankenhaus auswählte. Auch heute ist die Auswahl noch beschränkt. In den letzten Jahren wurden den Patienten jedoch vermehrt Wahlmöglichkeiten eröffnet, auch um auf diese Weise die Wartelisten abzubauen. So können Patienten, die eine elektive Behandlung benötigen, mittlerweile zwischen den Krankenhäusern wählen, darunter auch zwischen der noch kleinen, aber wachsenden Zahl von NHS-unabhängigen Behandlungszentren und privaten Kliniken. Im internationalen Vergleich auffällig ist die vergleichsweise geringe Anzahl an Krankenhausbetten: Während es im Durchschnitt der Europäischen Union (EU-28) im Jahr 2017 5,0 Krankenhausbetten je 1.000 Einwohner gab, waren es in Großbritannien gerade mal 2,1 Betten und somit weniger als die Hälfte.

Obwohl die Anzahl der Ärzte in den letzten Jahren zugenommen hat, lag die Arztdichte im Vereinigten Königreich 2017 mit 2,8 Ärzten pro 1.000 Einwohner immer noch deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 3,6. Bei der Versorgung mit Pflegekräften liegt Großbritannien mit einer Kennzahl 7,8 pro 1.000 Einwohner leicht unter dem Durchschnitt der EU-Länder (8,5).

Zuständige Behörden im Internet

Department of Health: www.dh.gov.uk

Nationaler Gesundheitsdienst: www.nhs.uk

Vertiefende Literatur

OECD 2016b: OECD Reviews of Health Care Quality. United Kingdom 2016: Raising Standards. OECD Publishing, Paris.

OECD/European Observatory on Health Systems and Policies 2019, United Kingdom: Country Health Profile 2019, State of Health in the EU, OECD Publishing, Paris/European Observatory on Health Systems and Policies, Brussels.

Cylus, J. et al. 2015: United Kingdom. Health system review. Health systems in Transition, Copenhagen.

Thorlby, R./Sandeepa, A. 2017: The English Health Care System, in: Mossialos, E. et al. (Eds.): International Profiles of Health Care Systems. Commonwealth Fund. Washington, 49–57.

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