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Reine Routine 1930
ОглавлениеEtwa zwei Wochen nachdem sie bei Aurelio gewesen waren, bestellte Sansone Nuncio, Luigi und Stevenson zu sich. Es war gegen halb sieben Uhr am Abend.
„Heute Nacht werdet ihr Schutzgelder eintreiben. Reine Routine.“
Es war nicht das erste Mal, dass Stevenson Fahrer für die Schutzgeldeintreiber war. Er war noch nie selbst dabei gewesen, sondern sollte stets im Auto warten. Hin und wieder überkam ihn das schlechte Gewissen, doch das hatte alles seine Rechtfertigung.
„Wir erpressen die Leute nicht.“ hatte Silvio einmal getönt: „Die Leute, die uns bezahlen, erhalten Dienste, die ihnen keine Polizei der Welt geben kann. Vergangenen Monat lösten Nuncio und Luigi in Oak-Plain ein schlimmes Gewaltproblem. Der Besitzer dieses Ladens ist froh, dass dort etwas Derartiges nicht wieder vorkommen wird.“
Sansone erklärte kurz, wie dieser Routineeinsatz aussah.
Stevenson sollte, so wie sonst auch, den Wagen fahren.
Luigi sollte die schwer bewaffnete Begleitung bilden und Nuncio sollte die „Kollekte“ eintreiben. Sonst lief es nicht so. Nuncio und Luigi hatten jeweils eigene, ihnen unterstellte Teams. Die Gelder wurden vom Team an sie, die Capos, weitergereicht. Diese wiederum gaben das Geld im Beisein des Dons 1:1 an Silvio weiter. Dieser legte je nach dem, was ein Laden einnahm, die Höhe des Schutzgeldes fest. Ab und an kontrollierte er, ob die Teams den Läden nicht zu viel Geld abnahmen. Das kam immer wieder vor, dass einige ihre Capos über den Tisch ziehen wollten und mehr erpressten, als sie eigentlich durften. Je nach Höhe der veruntreuten Summe wurde das meist mit einer ordentlichen Tracht Prügel geahndet. Versuchte aber ein Capo den Consigliere zu bescheißen, fand sich dieser in einer Holzkiste wieder. Heute allerdings wurden die Capos Luigi und Nuncio in die Spur geschickt und es wurde Stevenson vom Don persönlich angeordnet, Nuncio nach drinnen zu begleiten. Er sollte heute in das System des Schutzgelderpressens eingeführt werden, um nachher Nuncios Team zu verstärken. Sansone holte aus dem Buffet einen feuerfesten Stahlkoffer und zählte acht Läden auf, die bis um zehn am Abend besucht werden mussten. Die meisten Leute waren nach Geschäftsschluss noch eine Weile in ihren Läden und zählten die Tageseinnahmen. Dann machten sie sauber, oder waren anderweitig nach Geschäftsschluss noch beschäftigt. So ergab sich eine Zeit, in der zwar jemand im Laden anzutreffen war, es aber keine weiteren Zeugen gab. Sonst wurde in der Regel tagsüber „dem Geschäft nachgegangen“.
„Zuletzt werdet ihr an einem Motel draußen vor der Stadt halten. Bill Custom, der Besitzer, wohnt in den oberen Etagen.
Ihr werdet ihn also definitiv antreffen. Bei den anderen kann ich das leider nicht sagen. Wie auch immer. Er macht in letzter Zeit ein paar Probleme, also zahlt er heute ein wenig mehr.“
Sansone lachte und fragte seinen Consigliere, ob er nicht einen Drink wolle. Damit war die Runde beendet. Die drei besuchten Perpone und versorgten sich mit Waffen. Luigi sollte sich für den Notfall bereithalten und bewaffnete sich mit einer hochmodernen 1928iger Thompson. Sie zählte zu den effektivsten Waffen in Perpones Arsenal. John Taliaferro Thompson hatte sie für den ersten Weltkrieg entwickelt. Sie kam aber nicht mehr auf dessen Schlachtfeldern zum Einsatz. Um die produzierten Waffen loszuwerden, verkaufte er sie im Inland und fand in den Mafiosi dankbare Abnehmer. Man schob die runden Magazine seitlich ein, sicherte sie mit einer Spannvorrichtung und lud die Waffe durch. Das war ein ausgesprochen zügiger Nachladevorgang, bei dem man, wenn es hart auf hart kam, einen entscheidenden Vorteil gewann. In einem Magazin befanden sich 50 Schuss. Dieses Gewehr war bekannt und gefürchtet, weil es im Stande war, eines dieser teuren Magazine in weniger als sieben Sekunden leer zu schießen. Nuncio bekam einen 1911er Colt ausgehändigt. Gegenüber anderen Waffen befanden sich sieben Kugeln statt der üblichen sechs im Lauf. Man schob das Magazin in den Griff ein. Das ging schnell und war kinderleicht, da man nicht jede Kugel einzeln in eine Trommel einlegen musste. Einen solchen Trommelrevolver, mit sechs Kugeln bestückt, erhielt Stevenson – fürs Erste jedenfalls. Perpone pflegte immer zu sagen, dass man ja nie wisse, wem man begegnete und es daher besser war, wenn jeder bewaffnet sei. Benutzen sollte Stevenson den Colt Double X Spezial voraussichtlich nicht. Dann ließ man sich von Gildo den neuen F8 geben und sie begannen für Sansone Schutzgeld einzutreiben.
Oben auf der Liste stand Forellis Fischladen. Bei solch kleinen Läden begnügte sich Sansone mit einem monatlichen Besuch, der ihm 100 Dollar einbrachte. Bei größeren Läden, wie zum Beispiel Nixons Kaufhaus, dem nächsten Punkt auf der Liste, wurde ein wöchentlicher Betrag von 200 Dollar fällig. Da ein Teil der Beute stets an die Polizei weitergeleitet wurde, konnte man sich als Ladenbesitzer gegen die Erpressungen nicht wehren. Ging man zur Polizei, informierte sie Sansone. Dann hatte man nichts mehr zu lachen und bestenfalls mehr zu zahlen. Es kam aber auch vor, dass man verprügelt wurde. Körperliche Gewalt brachte viele zur Ordnung. Wer sich dann noch immer wehrte, dem zerstörte man das Geschäft. Besonders lukrativ waren Läden, die sich am Rande der Legalität bewegten. Wettbüros, Bordelle, illegale Kneipen und dergleichen. Diese Einrichtungen konnte man 2-3 Mal die Woche aufsuchen und mitnehmen, was gerade in der Kasse lag. Da machte niemand Ärger. Der dritte Laden, John Fox Barbershop in Downtown hatte nur mit Mühe die Rezession überstanden und wäre wohl unter Massimos Schutzgeldforderungen Pleite gegangen. Sansone half ihm finanziell aus. Doch auch er forderte Schutzgeld, verkaufte aber in Verbindung damit eine konkrete Dienstleistung: Schutz vor Massimo. Damals war das noch möglich. Im letzten Jahr war die Zahl der „Fahnenflüchtigen“ aber so groß geworden, dass Massimo dieser Entwicklung einen Riegel vorschob. Abtrünnige Läden wurden Opfer massiver Gewalt. Es gab schlimme Sachschäden und Verletzte. Die Angst vor Massimo war so groß, dass sich Sansone sogar Kulanz leistete, wenn die Läden mal nicht bezahlen konnten. Seine Männer traten nicht als schießwütige Gangster auf, sondern eher als Geschäftsleute, mit denen sich scheinbar reden ließ. Und man kam den Besitzern tatsächlich entgegen. So erkaufte sich Sansone deren Dankbarkeit. Es war paradox. Er schaffte es immer wieder, sie auszurauben, ohne sie auszurauben. Massimo war der Feind, gegen den man sich wappnen musste. Und das hatte seinen Preis, den man nahezu freiwillig bereit war zu zahlen.
Das hatte die Vergangenheit oft genug gezeigt. Von dessen Gewalt partizipierte nur einer: Antonio Sansone. Nichts desto trotz fürchtete man sich auch vor ihm. Seine Gunst durfte man nicht verlieren und so zahlten sie, ohne dass man ihnen vorher drohen oder gar Gewalt anwenden musste. Die Situation war sehr zu Sansones Vorteil. John Fox konnte den von Consigliere Silvio errechneten Betrag nicht ganz entrichten. Die Tageseinnahmen waren zu gering.
Man reduzierte den Betrag und nahm sich die Hälfte.
Nuncio verkaufte das so, dass Fox ihm sogar noch dankbar war. Der vierte Laden auf der Liste war ein Souvenirgeschäft in Downtown, gleich eine Ecke weiter.
Hier war der Besitzer nicht mehr anzutreffen. Als nächstes waren das Kino und zwei Bars in Oak-Plain fällig.
Bisher verlief der Abend normal. Bill Custom war allerdings ein Sonderfall. Ihm widmeten sie sich zuletzt. Mal konnte er nicht bezahlen, mal war die Polizei bei ihm und bewachte das Haus. Zuletzt hatte er seinen Hund auf Nuncio losgelassen, den der daraufhin erschossen hatte. Den monatlichen Schutzgeldbetrag, den Sansone jetzt von ihm forderte, konnte Bill nicht bezahlen. Dazu kamen die ausstehenden Summen. Er hatte im Leben keine 1800 Dollar im Haus. Seit vier Monaten war er die Beträge schuldig. So blieb Sansone nichts weiter übrig, als ein Exempel zu statuieren. Darum waren sie diesmal zu dritt bewaffnet. Kurz vor zehn Uhr rollte der Wagen an der hausinternen Tankstation vor. Stevenson sollte mit Nuncio reingehen und nachsehen, was Phase war. Entweder er hatte das Geld, oder Luigi würde mit Waffengewalt alles mitnehmen, was ihm wertvoll erschien. Stevenson und Nuncio stiegen aus und gingen auf die Haustür zu. Es war mittlerweile fast dunkel.
Bills Motel war ein zweistöckiger Hof. Er war vor etwa 50 Jahren errichtet worden. Man hatte ihn zur Zeit des Weltkrieges zu einem Motel mit Tankstelle umgebaut. Auch wenn die Gäste ausblieben, warf das Benzin eine ausreichende Summe Geld ab, führte der Highway doch unmittelbar am Hof vorbei. Hinter dem Haupthaus standen ein paar Schuppen, in denen sich Traktoren befanden. Über allem ragte ein Windrad, mit dem sich Strom erzeugen ließ.
Bevor Nuncio klopfen konnte, öffnete sich die Tür und eine Faust traf ihn im Gesicht. Stevenson fing den zurücktaumelnden Nuncio auf. Er versuchte ihn noch zurückzuhalten, aber es gab für den launischen Nuncio kein Halten mehr. Mit lautem Wutgeschrei ging er auf den Mann an der Tür los. Dieser stellte ihm ein Bein, sodass Nuncio in voller Länge im Haus landete. Bevor Stevenson etwas unternehmen konnte, wurde die Tür wieder zugeschlagen.
Auf einmal hörte man Schüsse und Schreie. Da öffnete sich die Tür wieder und ein Fremder kam heraus: „Sagt Sansone, dass der Laden ab jetzt Massimo gehört.
Kommt bloß nicht wieder oder es ergeht euch schlimmer als diesem Harlekin.“
Dann schlug er die Tür wieder zu. Luigi war zu Stevenson geeilt.
„Sieht so aus, als hätte uns Massimo einen Strich durch die Rechnung gemacht.“
Luigi holte die Thompson aus dem Mantel. Er dachte gar nicht daran, den Rückzug anzutreten, sondern war fest entschlossen, seinen Kumpel zu befreien. Mit Nuncio hatten sie einen Capo der Sansone-Familie in ihrer Gewalt.
Aus ihm konnte man pikante Einzelheiten wie Wohnort, Aufgabe und Familienstand anderer wichtiger Mitglieder herauspressen. Diese konnten dazu dienen, den Gegner entscheidend zu schwächen. Er konnte auch Treffpunkte, Einzelheiten zu Alkohollieferungen, Kontaktmännern, oder Waffenhändlern preisgeben. Wertvolles Wissen, welches unter keinen Umständen Massimos Schergen zu Ohren kommen durfte. Ein Mann wie Nuncio konnte den Schlägen eines ungeübten Folterers durchaus eine Weile standhalten. Trotz unerträglicher Schmerzen beharrlich zu schweigen, wurde den Mafiosi von Anfang an eingetrichtert.
Schweigen war eine Sache der Ehre. War ein Mafioso entschlossen, schweigend von dieser Welt zu gehen, war es fast unmöglich, diesen Willen ausschließlich mit körperlicher Gewalt zu brechen. Darum kam es entscheidend auf den Folterer selbst an. Um effizient an verwertbare Informationen zu gelangen, konnte man nicht einfach planlos auf das Opfer einprügeln. Folter war Strategie. Und so gab es in den Reihen beider Familien grausame Sadisten, die nicht davor zurückschreckten, Angehörige des Opfers in die Folter einzubeziehen. Das waren Männer, die zumindest für den Zeitraum der Folterung jegliches Gewissen abstellen konnten. Die Schmerzen, die sie ihren gefesselten Opfern beibrachten, waren nur eine Aufwärmphase, um ihre eigene Überlegenheit zu demonstrieren und ihr Gegenüber gleich zu Beginn zu demoralisieren. Mit den Mitteln der Angst, vor allem aber mit Mitgefühl ging es dann richtig zur Sache. Ein erfahrener Folterer der Mafia beherrschte diese Disziplin und wusste Gewalt und Psychoterror über Stunden hinweg effizient einzusetzen. Wenn man zudem sein Gegenüber gut kannte, konnte man eine noch viel brutalere Gangart einschlagen. In diesem Stadium konnten selbst Worte schon so manchen zu Fall bringen. Schwieg der zu Folternde dennoch, so schlug man seine Kinder, oder vergewaltigte seine Frau, während man ihn zum Zusehen zwang.
Spätestens hier brachen auch die Stärksten zusammen und beantworteten alle Fragen.
Vorne standen mindestens sechs Leute an der Tür, die nur darauf warteten, die beiden Männer zu durchlöchern. Sie mussten also irgendwie hinten herum. Sie schlichen sich über den Hinterhof, während Stevenson seinen Colt lud.
Luigi war verwundert über diese Torheit. Die Waffen wurden von Perpone stets geladen übergeben. Stevenson hatte sie im Laufe des Abends entladen, weil er befürchtete, dass sich die Waffe beim Tragen selbst auslösen könnte.
„Das ist völliger Quatsch. Ist mir noch nie passiert.“
Sie schlichen sich hintereinander an der Hauswand entlang und erreichten den Hinterhof. Es wehte kein Lüftchen. Sie blieben stehen und horchten in die Nacht. Stevenson nahm nur das Zirpen von Grillen war. Doch Luigi wirkte beunruhigt. Ihm war, als habe jemand seine Waffe entsichert – doch nicht Stevenson. Er hatte den Colt jetzt schussbereit in der Hand, aber woher kam dieses Gefühl?
Er spürte die Gefahr, den Lauf der Waffe, die auf ihn gerichtet war, drückte sich an die Bretterwand des Hauses und sah sich um. Plötzlich riss er in einem Sekundenbruchteil die Thompson hoch und gab drei gezielte, schnelle Schüsse ab. Ein Schrei zerriss die Stille der Nacht. Vom Windrad stürzte ein Mann aus beträchtlicher Höhe zu Boden und schlug dumpf auf einem der vier Betonsockel auf. Stevenson war entsetzt.
„Du musst die Ohren immer offenhalten und auf so was gefasst sein. Schließlich weißt du nicht, wo du bist und wie die örtlichen Gegebenheiten hier sind. Du musst deinen Instinkt schulen. Wenn du das zur Perfektion bringst, bist du genauso unschlagbar wie ich.“
Was war das nur für ein eiskalter Mensch? Stevenson hatte schreckliche Angst, auch vor Luigi. Auf dessen Geheiß nahm er die Waffe des toten Windradschützen an sich. Er war mit dem Gesicht zuerst auf dem Beton aufgeschlagen und furchtbar entstellt. Bei der Waffe handelte sich um einen baugleichen Colt, wie Stevenson ihn schon mitführte.
Er war nicht darauf vorbereitet gewesen, heute Abend Leichen zu sehen. Doch er befürchtete, dass es nicht bei dieser einen bleiben würde. Beim Anblick des vielen Blutes, welches aus dem Schädel des Toten spritzte, hoffe er inständig, nicht selbst töten zu müssen oder gar getötet zu werden. War das die Alternative zu seinem Taxifahrerleben?
Er konnte nicht fliehen. Luigi hätte mit Sicherheit kurzen Prozess mit ihm gemacht. Außerdem kam ihm Nuncio wieder in den Sinn, der im Inneren des Hauses gefangen gehalten wurde und eine mafiöse Folter über sich ergehen lassen musste. Es lag auch an ihm, die Folter zu beenden und ihn möglichst schnell zu befreien. Hinter der Tür in Richtung Hof lauerten auch bewaffnete Männer.
Mittlerweile konnte man Nuncio aus dem Haus schreien hören. Luigi fluchte, ihnen lief die Zeit davon. Waren die beiden erst einmal im Haus, standen die Karten schon anders. Sie fingen an, so leise wie möglich leere Benzinfässer zu stapeln. Vielleicht gelang es ihnen, über den Balkon im ersten Stock ins Haus zu kommen. Endlich zog sich Luigi am Geländer hoch und stand nahezu im Haus. Hier oben brannte kein Licht, der Gang schien leer zu sein. Als auch Stevenson auf den Balkon geklettert war, brachen sie leise die Tür auf. Erst nach einer Minute hatten sich ihre Augen richtig an die Dunkelheit gewöhnt. Hier oben lagen die seit Jahren leeren Quartiere für Motelgäste. Ein langer Flur, von dem in unterschiedlichen Abständen an der rechten Wand Türen abgingen. Es roch staubig und abgestanden. Am Ende befand sich noch eine Tür, eine Abstellkammer oder ein WC. Luigis Aufmerksamkeit richtete sich in die andere Richtung des Korridors. Dort befand sich eine Holztreppe, die ins Erdgeschoss führte. Es war still und dunkel in den Zimmern nebenan. Von hier konnte keine Gefahr ausgehen.
„Halte hier oben die Stellung und knall jeden ab, der versuchen will, mir in den Rücken zu schießen.“
Wie versteinert sah Stevenson ihm nach. Das Blut rauschte in seinem Kopf. Hier und jetzt galt also: töte, oder du wirst getötet. So musste sich ein Soldat fühlen, der seinen ersten Kampfeinsatz erlebte. Nun, eigentlich war er Luigi dankbar, dass er ihn aus der Schussbahn nahm. Immer wieder wurde die Stille von Schlägen und Schreien im Erdgeschoss zerrissen. Luigi war jetzt unten, Stevenson konnte ihn nicht mehr sehen. Schweiß rollte ihm über die Stirn. Er hatte zum einen Angst um sein Leben, zum anderen Angst vor den Folgen seiner Straftaten, die er heute Abend ausgeführt hatte. Auf Schutzgelderpressung standen mehrere Jahre Gefängnis.
Plötzlich schien das Haus zu erbeben und eine wilde Schießerei begann. Laute Schüsse von MP Magnum sowie allerlei Arten Colt. Auch Luigis Thompson war immer wieder zu hören. Schreie, Röcheln, und immer wieder das pfeifende Geräusch von einschlagenden Kugeln in der Wand. Auf einmal öffnete sich die Tür, am Ende des Ganges. Es war tatsächlich ein WC. Schon sah sich Stevenson einem dunkel gekleideten Mann gegenüber, der seine Waffe auf ihn richtete und feuerte. Er rettete sich zunächst mit einem Sprung auf den Balkon. Ber Mann kam hinter ihm her. Was sollte er tun? Die Benzinfässer runter klettern? Er wäre tot gewesen, bevor er überhaupt die Brüstung überklettert hätte. Er zog seine beiden geladenen Colt Double X Spezial hervor und richtete sie auf den Mann, der wieder zum Schuss angelegt hatte. Stevenson kniff die Augen zusammen und drückte ab. Mit einem Rückstoß rechnete Stevenson nicht. So verzog es die Waffen beträchtlich weit nach oben. Doch als er die Augen öffnete, sah er den Mann zu Boden stürzen. Ein Blutstrom ergoss sich über den Balkon. Er hatte den Hals des Mannes durchschossen. Fassungslos starrte er auf die offene Wunde und die weit aufgerissenen Augen des Mannes.
„Mörder! Mörder!“
rief eine Stimme in seinem Kopf. Er schüttelte sich, doch das ließ sie nicht verstummen. Er blinzelte, wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, hoffte zu träumen und im nächsten Moment zu erwachen. Aber es half nicht. Die Leiche vor ihm war real. Er hatte diesen Mann soeben ins Jenseits befördert. Immer gespenstischer und lauter rief seine innere Stimme ihn einen Mörder. Selbst der Tote zu seinen Füßen schien es mit zu sprechen. Seine Knie wurden weich, die Umrisse der Leiche verschwammen und er taumelte. Wie um alles in der Welt war es so weit mit ihm gekommen? Er hatte einen Menschen getötet. Wie lange würde es wohl dauern, bis er das begriffen hatte? Was für Folgen würde das haben? Ihn durchfuhren gleichzeitig völlig entgegengesetzte Gefühle: Macht und Größe, aber auch Furcht und Schuldgefühl. Stärke und im selben Augenblick wiederum Schwachheit. Dieser Gefühlscocktail war so heftig und riss ihn dermaßen hin und her, dass ihm speiübel wurde. Und immer wieder die Rufe:
„Mörder! Mörder!“
Er drohte die Besinnung zu verlieren, so stark war das Adrenalin, welches mit Gefühlen der Macht und der Angst durch seinen Körper strömte. Er verlor die Kontrolle über sich und nässte sich ein. Er bemerkte es gar nicht sofort.
Was würde seine Mutter sagen, wenn sie ihn so sehen würde? Als Gangster, Mafioso und als Mörder? Aber er hatte keine Zeit weiter darüber nachzudenken. Denn Luigi rief ihn und holte ihn aus seinem Schockzustand: „Steve! Hilf mir hier, der Kerl hinter der Theke hat eine Thompson!“
Er wankte so schnell es eben möglich war die Treppe hinunter und befand sich inmitten eines Massakers. Überall waren Einschusslöcher, Blut und Zerstörung. Es lag der Geruch von Schießpulver in der Luft. Ein bläulicher Dunst hatte das Erdgeschoss erfüllt. Es waren mindestens vier Tote auszumachen, Luigi selbst kauerte hinter einer Wand.
Sein Anzug war ruiniert, ihm selbst schien es aber gut zu gehen. Er flüsterte:
„Steve, du musst durch die Küche gehen und ihn von da aus mit einem sauberen Schuss durch die Durchreiche in den Kopf töten. Ich kann es von hier aus nicht. Ich gebe dir Deckung und lenke den Typ ab. Die Küche befindet sich dort.“
Luigi deutete mit seiner Waffe auf eine Tür. Stevenson schlich leise zu ihr hin und öffnete sie. Er stand kurz davor, völlig den Verstand zu verlieren. Er schloss seine Augen und atmete durch. Doch ihm wurde nicht wohler. Denn sogleich sah er die Leiche oben auf dem Balkon liegend vor sich. Eiskalter Schweiß tropfte von seinem Kinn. Am Rücken klebte das durchnässte Unterhemd. Sein Urin roch streng und fühlte sich widerlich kalt an. Am ganzen Körper zitternd glitt er durch die Küche, auf die Arbeitsfläche und schaute durch die Durchreiche. Für einen kurzen Moment hatte er sich etwas beruhigen können, doch nun stieg die Panik in ihm wieder hoch. Am liebsten hätte er geschrien.
Im Speisesaal brannte Licht und es lagen noch drei weitere Leichen da, die Luigi offenbar wie Grashalme niedergemäht hatte. Hinter der Bar lag ein Mann auf dem Boden, dessen Aufmerksamkeit voll auf die Tür gerichtet war, hinter der Luigi stand. Er hielt eine Thompson in der Hand und hatte offenbar schon ein Magazin leer geschossen. Ganz leise und langsam wurde der Arm über den Schützen gestreckt. Luigi beobachtete ihn. Den Colt in der Hand war der Arm von Stevenson jetzt fast ausgestreckt und senkte nun die Waffe.
Luigi ging das nicht schnell genug. Wie in Zeitlupe schien Stevenson die Waffe nach unten zu richten, jeden Moment konnte der Schütze die Waffe über sich bemerken.
„Warum drückst du nicht ab? Warum zögerst du so lange?“
Stevenson bereitete sich dieses Mal besser auf den Rückstoß der Waffe vor, spannte den Abzug und feuerte. Die Kugel drang in den Hinterkopf ein und zerschmetterte beim Austritt die Stirngegend des Kopfes. Luigi kam aus der Deckung hervor, untersuchte die Leichen und nahm ihnen die Waffen ab.
„Gut gemacht, man. Nur schneller hätte es gehen können. Sag mal, hast du dir eingepisst?“
Beschämt sah Stevenson zu Boden und sagte nichts. Luigi grinste nur breit.
„Ach, mach dir nichts draus. Ging mir nach meiner ersten Tötung genauso. Glaub mir: Ich weiß, wie du dich fühlst. Aber man gewöhnt sich dran. Das geht vorbei. Wo ist bloß Nuncio?“
„Hier!“
erwiderte eine Stimme hinter einer Tür am anderen Ende des Speisesaals. Luigi rannte hin und fand ihn übel zugerichtet und gefesselt auf einem Stuhl. Scheinbar hatte man ihn nur verprügelt und nicht fachmännisch in die Mangel genommen. Es steckte ein Knebel in seinem Mund und er fing sofort an, mit seiner schrillen Stimme zu speckern, als Luigi diesen entfernt hatte und ihn losband.
„Das wurde aber auch Zeit! Wo bleibt ihr so lange?“
Auch er zeigte sich über Stevensons Malheur leicht belustigt, hatte aber ebenso wie Luigi Verständnis. Als Mörder wurde man nicht geboren. Man machte sich erst dazu. Das war eine Grenze, die der Mensch eigentlich nicht zu überschreiten hatte. Es war nicht vorgesehen, dass Menschen sich gegenseitig töteten. Also hatte der Schöpfer eine sehr große Hemmschwelle in den Menschen gelegt. Es war besser, diese Grenze nicht zu überschreiten. War es aber einmal getan, zerbrach im Inneren des Täters etwas.
Luigi nannte es das Gewissen, Nuncio die Achtung vor dem Leben. Man stumpfte in schrecklicher Weise ab und verlor den Blick für den Wert des Lebens – auch des eigenen. An ihre ersten Morde konnten sich die beiden noch ganz genau erinnern. Das Gesicht des Opfers hatten sie vor sich. Den zweiten Mord hingegen hatten sie schon vergessen.
Sie traten wieder in den Speisesaal. Auf einmal standen sie einem bewaffneten Mann gegenüber. Seine Augen standen eng beieinander und seine große Nase verliehen ihm die Gesichtszüge einer Krähe.
„Ihr bleibt schön hier und versucht mir ja nicht zu folgen!“
Daraufhin gab er zwei Schüsse ab und verschwand durch den Haupteingang nach draußen. Perplex schauten sie ihm nach. Eine Kugel hatte Nuncio in der Bauchgegend getroffen. Er sackte zusammen, Stevenson versuchte ihn zu stützen. Nuncio keuchte:
„Schnappt euch diesen Bastard! Er hat unsere Kohle!“
Unverzüglich nahmen Luigi und Stevenson die Verfolgung auf, nachdem sie Nuncio auf einen Stuhl gesetzt hatten.
„Was für ein Abend.“
schäumte Luigi. Der Verfolgte gab alles. Durch die kurvigen Landstraßen wagte er riskante Überholmanöver.
Mittlerweile war es stockdunkel, aber im Licht des F8 war der Schubert gut zu sehen. Dieser vier Jahre alte Wagen war zwar recht solide, lag aber bei weitem nicht so gut auf der Straße, wie der F8. Dennoch hatte Stevenson alle Mühe mitzuhalten. Er wollte beim Überholen nicht Kopf und Kragen riskieren. Die beiden verfügten über das bessere Auto, also konnte die Krähe ihnen gar nicht entwischen.
Immer weiter fuhr der Schubert durch die Nacht. Manchmal vergrößerte er den Abstand. Aber Stevenson blieb dran.
Luigi forderte ihn auf, näher ran zu fahren, damit er schießen könne. Nach etlichen Kilometern kamen die beiden Autos an einen Tunnel, welcher mehrere hundert Meter geradeaus verlief. Jetzt trat Stevenson drauf und Luigi machte sich bereit. Er feuerte ein Dutzend Kugeln auf den Schubert ab. Er traf einen der beiden Hinterreifen. Bei der hohen Geschwindigkeit zog es den Schubert nach links. Der Fahrer lenkte zwar noch gegen aber er verlor die Kontrolle und krachte gegen einen hervorstehenden Tunnelpfeiler.
Stevenson ging zuerst vorsichtig auf die Bremse, damit es Luigi nicht aus dem Wagen katapultierte. Dieser drückte sich ins Innere, so konnte er stärker bremsen. Der Abstand wurde dennoch gefährlich gering. Fast sah es so aus, als ob sie in den Schubert krachten. Stevenson trat das Pedal voll durch, die Reifen quietschten und erzeugten eine schwarze Bremsspur auf dem Beton. Schließlich brachte er den Wagen ohne einen Kratzer zum Stehen. Völlig demoliert blieb der Schubert auf dem Dach liegen. Luigi stieg aus und untersuchte den Unfallort. Es bot sich ein trauriger Anblick.
Der Fahrer war beim Aufprall durch die Frontscheibe geflogen. Sansones Geldkoffer hatte es ebenfalls aus dem Wagen geschleudert. Luigi fand ihn rasch, nahm ihn an sich und stieg wieder zu Stevenson ins Auto.
„Machen wir, dass wir hier wegkommen!“
Mit einem düsteren Gesicht fuhr Stevenson zurück.
Unverständnis und Wut brodelten in ihm. Sollte er sie in Worte fassen oder war es besser den Mund zu halten? In welcher Weise war es gestattet, das Geschehen zu kritisieren? Er wusste es nicht. Schließlich überkam es ihn doch:
„Ich habe heute zwei Menschen getötet. Und ich musste ein Massaker mitmachen. Außerdem hätte ich beinahe meinen ersten Unfall gebaut. Ich habe mir in die Hosen gepinkelt, vor Angst! Wenn das die Routine ist, von der Sansone gesprochen hat, dann frag ich mich ernsthaft, wie der nächste Job aussieht.“
Luigi rümpfte erst die Nase, ließ sich aber auf eine Diskussion ein und beruhigte ihn:
„Das ist eben so in diesem Geschäft. Wir lassen den Leuten die Wahl. Entweder sie spielen mit, oder sie tragen die Konsequenzen. Wer nach unseren Regeln spielt, der hat doch nichts zu befürchten. Was heute Abend passiert ist, ist nicht unsere Schuld. Das ist allein auf dem Mist von Bill Custom gewachsen. Wenn er nicht versucht hätte, mit Massimo zu kollaborieren, würden die ganzen Männer jetzt noch leben.“
Zurück am Motel sammelten sie Nuncio ein und fuhren ihn zu einem Arzt.
„Jungs, so ein Massaker habe ich noch nie erlebt. Es gibt sieben Tote, auch Bill ist darunter. Nur dessen Frau hat überlebt und voller Panik die Bullen gerufen.“
Sie fuhren an die Bar, stellten den Wagen ab, brachten die Waffen zu Perpone und übergaben einem zufriedenen Don Sansone die Einnahmen des heutigen Abends, fast 1000
Dollar.