Читать книгу Morality and fear - Martin Wannhoff - Страница 8
Irgendwie hineingeraten 1930
ОглавлениеAm 2. August ging am späten Abend ein Gewitter über der Stadt nieder. Die See war aufgewühlt und peitschte wütend gegen die Küste. Die Straßen waren nahezu menschenleer.
Die Gullydeckel fassen kaum die Wassermassen. Die goldenen Zwanziger Jahre hatten sich mit einem gigantischen Knall verabschiedet. Der Börsenkrach hatte weltweit Folgen gehabt und unzählige Menschen in die Insolvenz getrieben. Langsam erholte sich das Land von dieser Schockstarre und es wurde sichtbar, wie schwer es mache Regionen getroffen hatte. Das Works – Quarter, welches vor kaum einem Jahr noch mehr als 2 Millionen Menschen beschäftigt hatte, gab nur noch etwa 500.000
Menschen eine Arbeit. Das hatte zur Folge, dass viele der Fabrikhallen leer standen und nach einiger Zeit Vandalismus zum Opfer fielen. Der neue vierspurig ausgebaute Highway schien für die jetzigen Beschäftigtenzahlen hoffnungslos überdimensioniert. Er wurde nicht sauber gehalten und verlotterte. Die Kriminalität war überall sprunghaft angestiegen. Das hatte des Weiteren zur Folge, dass das organisierte Verbrechen ungeahnte Stärke und Macht gewann. Die Polizei war längst nicht mehr Herr der Lage.
So auch an jenem Abend nicht, als sich im Stadtteil Oak-Plain eine dramatische Verfolgungsjagd ereignete. Zwei Männer in einem Ford A wurden von drei anderen in einem schwarzen Schubert verfolgt und unter Beschuss genommen. Die Verfolger verfügten über das schnellere Auto und so konnten die beiden nicht entwischen. Mit schlitternden Reifen wechselten die Verfolgten von einer Straßenseite auf die andere, um kein Loch in den Reifen geschossen zu bekommen. Immer verzweifelter versuchte der in die Jahre gekommene Ford zu entkommen.
Davonzufahren war mit diesem Wagen nicht möglich, man musste den Gegner in eine Falle locken. Immer wieder bog der Fahrer des Ford in Seitenstraßen ab und kam dabei kurz aus dem Sichtkontakt der Verfolger heraus. Das nützte aber nichts. Auf einem Stück ohne Seitenstraße und der damit verbundenen Fluchtmöglichkeit, traten die Verfolger voll aufs Gas. Der sichere Abstand schmolz dahin. Schon schossen beide Autos Stoßstange an Stoßstange durch die Nacht. Wenn den Verfolgten jetzt nichts einfiel, würden sie gegen irgendein Hindernis geschoben werden. Es gab nichts, wohin sie jetzt noch hätten entkommen können. Der Fahrer zog alle Register und riss das Auto mittels Handbremse herum. Die überraschten Verfolger überholten den schleudernden Ford. Sie traten auf die Bremse, konnten aber den schweren Wagen nicht rechtzeitig zum Stehen bringen. Er knallte an eine Laterne und legte sie um. Der Ford indes war in einem matschigen Vorgarten zum Stehen gekommen und steckte fest. Doch auch in dieser hoffnungslosen Situation dachten die beiden Männer nicht daran aufzugeben. Mit dem Mut der Verzweiflung setzten sie ihre Flucht zu Fuß fort. Sie ließen ihren Wagen im Vorgarten stehen und rannten durch eine Einfahrt in einen Hinterhof. Diesen überquerten sie. Durch eine zweite Einfahrt kamen sie auf der anderen Seite des Karrees wieder auf die Straße. Alles war menschenleer bis auf ein Taxi, welches sich auf der anderen Straßenseite befand. Beide Männer rannten darauf zu. Der Fahrer machte offenbar gerade eine Pause, er hatte sich eine Zigarette angesteckt.
Der eine riss die Hintertür auf und beide warfen sich in den Wagen. Schon hatte der Fahrer eine Waffe im Genick sitzen. Eine völlig außer Atem geratene Stimme keuchte ihn an:
„Gib Gas, Mann! Du musst die Typen hinter uns loswerden.
Sonst ist es aus mit uns, und damit meine ich auch dich.“
Der Taxifahrer warf den Motor an und tat, wie ihm befohlen. In dem Moment schoss der schwarze Großraumwagen aus der Einfahrt, aus der die beiden Gangster zuvor gekommen waren. Dem Taxifahrer wurde klar, dass es ernst war. Die Angst des Gejagten ergriff ihn und so begann er um sein Leben zu fahren. Die Verfolger zählten natürlich eins und eins zusammen und hefteten sich an die Fersen des Taxis. Der einzige Pluspunkt, über den die Verfolgten jetzt noch verfügten, war die Ortskundigkeit des Fahrers. Denn soeben hatte der eine die letzte Patrone nach hinten abgeschossen. Beide legten sich daraufhin auf die Rückbank und der eine meinte:
„ Ich an deiner Stelle würde im Zickzackkurs fahren und auch den Kopf einziehen. Ansonsten schießen sie dir deine Reifen kaputt und wenn du Pech hast, deinen Kopf gleich mit.“
Der Rat wurde stillschweigend befolgt, verkürzte aber den sicheren Abstand zusehends. Der Fahrer hatte noch nie in seinem Leben das Taxi derart an seine Grenzen gepeitscht.
Aber er beherrschte den Wagen souverän und steuerte das Auto sicher durch die Straßen. Es grenzte an Wahnsinn, mit vierzig Meilen in der Stunde über rote Ampeln zu jagen. Die Stimmung war zum Zerreißen angespannt. Die Kupplung kreischte wieder und wieder. Der Motor heulte, der Fahrtwind pfiff, der Regen rauschte um das Taxi herum.
Ein Angstschrei drang aus der Kehle des Fahrers, als er im Rückspiegel sah, dass sich ein Gewehr auf das Taxi richtete.
Instinktiv ging er in Deckung. Die beiden Gangster lagen noch immer auf den Rücksitzen und hielten sich die Hände vors Gesicht. Die Verfolger schossen mit ihrem Maschinengewehr über zehn Kugeln auf das Taxi ab. Die Heckscheibe und der Außenspiegel, zusammen mit der Frontscheibe gingen zu Bruch. Auch hörte man im Radkasten zwei, drei, vier Einschläge. Schon flog der Wagen um die nächste Kurve, behielt aber Bahn und seine Geschwindigkeit bei. Die Reifen waren offenbar noch heil, ebenso die Insassen. Der Fahrer schimpfte, denn der ergiebige Regen ergoss sich durch die Frontscheibe direkt ins Auto und auf sein Gesicht. Er zog seine Mütze tiefer und handelte entschlossen. Er bog zum Entsetzen beider Gangster auf die Independence – Bridge ab.
„Auf der Brücke bist du Freiwild, du Ochse, du kannst dich nicht verstecken!“
„Scheiße, jetzt sind wir dran.“
sagte der andere und spielte mit dem leeren Colt herum.
„Tja Luigi, war nett dich gekannt zu haben.“
sagte wieder der Eine und der Andere schluckte schwer. Sie hatten keine Ahnung was der Fahrer mit dieser in ihren Augen schwachsinnigen Aktion bezweckte. Das Taxi nahm auf der Brücke immer mehr an Fahrt auf. Aber es war eben nicht schnell genug. Die Verfolger kamen Stück für Stück näher. Mit fast sechzig Meilen bretterten beide Autos die Brücke hinunter nach Central – Island. Schon war das Gewehr im Innenspiegel zu sehen, welches sich auf das geradeaus fahrende Taxi richtete. Ein Wasserschwall ergoss sich durch die Frontscheibe ins Innere. Jetzt schien alles aus.
Der Fahrer bremste sein Taxi abrupt ab, schlitterte mittels Handbremse nach rechts herum, touchierte dabei eine Hauswand, verlor seinen linken Außenspiegel und bog in eine winzige Gasse ein. Verblüfft sahen die beiden Gangster auf und stellten fest, dass der Fahrer die Brücke heruntergefahren war und geradeso durch diese Gasse passte. Ungläubig sahen die beiden Männer durch die zerbrochene Heckscheibe hinter sich. Doch der Schubert tauchte nicht wieder auf. Nicht einmal dessen Lichtkegel war zu sehen. Als offensichtlich war, dass sie die Verfolger abgeschüttelt hatten, brach Jubel im Taxi aus. Beide Männer waren dankbar und klopften dem jungen Fahrer immer wieder auf die Schulter.
Sie ließen sich zu Sansones Bar fahren. Dort angekommen atmeten alle tief durch und der Fahrer wrang seine klatschnasse Mütze aus.
„Warte hier, Junge. Wir bringen dir noch ein Present von Mister Sansone.“ sagte der Kleinere im Weggehen.
Als die Beiden in der Bar verschwunden waren, zündete sich der Fahrer eine Zigarette an. Er hätte jetzt wegfahren können, wenn er gewollt hätte. Aber erstens hatten die beiden nicht bezahlt und zweitens war er neugierig geworden. Bange Minuten des Wartens. Mit schmerzverzerrtem Gesicht besah er die Schäden an seinem Auto. Es war zwar nicht ruiniert, aber für Fahrgäste unzumutbar zerstört. Die Einschusslöcher überall, der Außenspiegel, die Frontscheibe, die Dellen und Kratzer auf der Fahrerseite… Autos waren eine teure Anschaffung und zurzeit fast unbezahlbar. Er setzte sich wieder hinter das Lenkrad und beobachtete die Regentropfen, die auf die Motorhaube fielen und dabei zerplatzten. Durch die zerstörte Frontscheibe tropfte es immerfort auf sein Armaturenbrett. Er konnte nur hoffen, dass Sansone ein großzügiger Mann war, der nicht nur die Fahrt bezahlen, sondern auch ein wenig Geld für die Reparatur lockermachen würde. Wie er so darüber nachdachte, was der Schaden wohl kosten könnte, öffnete sich die Tür des Lokals und der größere der beiden Männer kam heraus. Der Puls von Stevenson ging schneller. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Sein Instinkt schrie zu ihm: Weg, verschwinde, mach dass du Land gewinnst, der wird dich jetzt abknallen! Sein Angstzustand steigerte sich rasch in Panik. Der Mann, der auf das Taxi zuhielt, fasste in eine Seitentasche seines Jacketts, als wolle er eine Waffe ziehen und ihn auf der Stelle umlegen. Wo war denn der verflixte Schlüssel? Verzweifelt nestelte er nach dem Schlüsselbund und fand ihn schließlich. Der Kerl hatte seine Hand in der Seitentasche und war nur noch wenige Schritte entfernt.
Stevensons nasse Hand zitterte so sehr, dass er den glitschigen Schlüssel nicht einführen konnte und jetzt fiel er auch noch runter…
„Verdammt, jetzt ist es vorbei.“
Der Unbekannte stellte sich an die Fahrertür und klopfte an die Scheibe. Stevenson kurbelte sie zögernd nach unten. Der Mann hatte einen dicken Briefumschlag hervorgezogen und reichte ihm diesen.
„Mister Sansone ist dir dankbar. Genauso wie Nuncio und ich.
Hier ist eine kleine Entschädigung für deine Dienste und für dein kaputtes Taxi. Ich hoffe, es reicht. Mister Sansone richtet dir aus, dass er niemals Freunde vergisst, die ihm einmal geholfen haben. Wenn du einmal etwas brauchst, kannst du wiederkommen und ihn um Rat fragen. Er wird dir immer helfen. Vielleicht findest du ja auch bei uns einen Job. Mister Sansone lässt dir sagen, dass er ein guter Arbeitgeber ist und auch angemessen bezahlt. Das kann ich nur bestätigen.“
Nicht eine Sekunde dachte Stevenson über dieses absurde Angebot nach. Er war Taxifahrer und mochte den Job.
Auch wenn er nicht viel verdiente und von früh bis spät arbeitete. Trotzdem bedankte er sich höflich und sagte, dass er es sich durch den Kopf gehen lassen wolle. Mit den Worten:
„Ich hoffe, dir ist klar, dass diese Angelegenheit unter uns bleibt. Überlege es dir gut, und pass auf dich auf.“, machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand im Lokal. Stevenson Rice, immer noch zu Tode erschrocken und kreidebleich, startete den Motor und fuhr nach Hause. Er wohnte im Erdgeschoss eines verbrauchten Mietshauses im Stadtteil Wellington.
Als er nach dieser höllischen Fahrt endlich in seiner Wohnung im Trockenen saß, gönnte er sich einen Whisky und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Die Wohnung war karg eingerichtet, aber er brauchte auch nicht viel. In einer Ecke befand sich eine Kochnische, in der sich das Geschirr von zwei Wochen stapelte. Ansonsten besaß er noch ein Bett und eine Essecke mit zwei Stühlen. Auf dem einen saß er gerade. Sein Blick fiel auf die Jacke, die triefend nass am Haken neben der Eingangstür hing. Dort schaute aus einer Tasche der Umschlag hervor, den er von diesem Luigi erhalten hatte. Als er ihn öffnete, bekam er fast einen Herzanfall. Das waren dutzende hoher Geldscheine, und als er nachzählte, kam er auf genau 1.000 Dollar. Er hielt sich am Stuhl fest. Das war weit mehr, als die Reparaturen kosten würden. Aber er verschwendete keinen Gedanken daran, mit diesen Gangstern zusammen zu arbeiten. Und wenn sie noch so viel Geld hatten. Lieber arm und am Leben, als reich und tot, sagte er sich.
Die ganze nächste Woche stand das Taxi in der Werkstatt und wie zu erwarten war, kostete die Reparatur nur einen Bruchteil dessen, was er an Geld in den Händen hielt. Wie konnte er es wirklich sinnvoll investieren? Behalten wollte er es nicht, denn es war nicht abzusehen, was der Dollar in einem Monat noch wert war. Ihm kam die Idee, sich einen Anzug für das Taxifahren zu kaufen. Schließlich investierte er etwas in neue Bezüge und eine Generalüberholung der Karosserie. Waren die alten Bezüge noch braun und abgegriffen gewesen, glänzten sie jetzt in einem herrlichen roten Kunstleder. Er machte es seinen Fahrgästen so bequem wie möglich, getreulich dem Motto: der Kunde ist König. Unter anderem ließ Stevenson die Innenraumbeleuchtung wechseln. Statt der serienmäßigen gelben Funzeln brachte er ovale Leuchter an. Sie versprühten ein angenehmes Licht, in welchem die roten Sitzbezüge schön zur Geltung kamen. Im Moment war es offenbar das Vernünftigste, das Geld in sein Arbeitsgerät zu investieren. So würde er langfristig etwas davon haben und wer weiß: vielleicht stiegen dadurch sogar die Trinkgeldeinnahmen. Bestens gerüstet für das einsame Leben eines Taxifahrers und mit „neuem“ Auto, stürzte Stevenson sich nach drei Wochen Pause in den Berufsverkehr der Stadt. Den Urlaub hatte er sich redlich verdient und außerdem stand sein Auto sowieso die meiste Zeit in der Werkstatt. Nach diesem „Update“ ging er wieder ganz normal seiner Arbeit nach. Auf seine Fahrgäste war er nach wie vor angewiesen, denn er hatte fast alles ausgegeben. Von seinem letzten Geld kaufte er sich ein Feuerzeug, eine Stange Zigaretten sowie ein Brötchen und ging damit wieder auf Tour.
Seit einer Woche ging er seiner Arbeit nach. Als wäre nichts geschehen schlängelte sich das Taxi durch die Straßen der Stadt. Nichts erinnerte mehr an den spektakulären Vorfall, der jetzt fast einen Monat zurücklag. Der Kontrast Fahrgastzelle und Fahrerraum verfehlte seine Wirkung nicht. Es war häufiger der Fall, dass man aufgrund des überdurchschnittlichen Komforts auf das Wechselgeld verzichtete. Viel war es nicht, aber es war definitiv mehr als üblich. Vorn sah das Taxi eher schäbig aus und Stevenson achtete darauf, nicht ordentlicher auszusehen, als der gemeine Fahrgast. Sonst wären die Leute vielleicht der Meinung gewesen, dass er schon genug Geld hatte. An jenem ersten September 1930 flimmerte die Stadt in der Spätsommerhitze und der üblichen Enge. Wer die Möglichkeit hatte, verließ das Flussdelta und machte sich auf den umliegenden Höhen einen schönen Tag. Nicht aber Stevenson Rice. Er hatte gerade einen Fahrgast am Krankenhaus abgesetzt und den nächsten an Bord genommen, der zum Einkaufszentrum in Little Italy wollte.
Die Oakwood – Bridge war die längste Brücke weit und breit und verband westlich von Central Island die durch den Fluss geteilten Stadtteile Oakwood und Chinatown. Sie war über drei Kilometer lang und man hatte von da aus einen herrlichen Blick auf die Skyline von Central – Island.
Allerdings war sie baufällig. Wegen der Rezession waren die Bauarbeiten auf unbestimmte Zeit vertagt. Mit jedem Monat wurden die Straßenverhältnisse schlechter und jetzt stand ein weiterer Winter vor der Tür. Der damals verwendete Asphalt war zwar leichter als Beton und ermöglichte erst den Bau einer derart langen Brücke. Aber er war nicht besonders haltbar und löste sich unter der täglichen Belastung auf. Winterlicher Frost tat sein Übriges. Es musste etwas geschehen, damit das ganze Objekt nicht für den Verkehr gesperrt wurde.
Von der Brücke aus ging es noch einen Berg hinunter über zwei Kreuzungen und schon war man in Little Italy. Das Kaufhaus befand sich auf halber Höhe eines großen Boulevards. Nachdem Stevenson seinen Fahrgast dort abgeliefert hatte, machte er eine kleine Pause. Er zündete sich eine Zigarette an und aß ein Brötchen. Seine Gedanken schweiften ab. In den zwanziger Jahren hatten viele Leute Arbeit gehabt. Doch das Geld für ein Auto musste man sich entweder leihen, oder über einen gewissen Zeitraum zusammensparen. Viele hatten es auch auf Pump gekauft und waren es nun wieder losgeworden. Tryonee Harbour hatte Investitionen in sein Straßennetz über viele Jahre aufgeschoben. Die Stadt verfügte weder über eine S-Bahn, noch über eine Straßenbahn. Neben dem Taxi waren Busse die einzige Alternative. Oder man besaß ein Fahrrad.
Fahrgäste hatte Stevenson trotz der großen Konkurrenz immer reichlich gehabt. Nun, da das angesparte Vermögen vieler Menschen zu Staub zerfallen war, musste man die Anschaffung eines Autos verschieben. Gut für Taxifahrer wie ihn. Und dennoch war ein nachhaltiger Wandel im Gange. Die Krise bremste diesen Wandel zwar, aber sie hielt ihn nicht auf. In ein paar Jahren würden die meisten Menschen ein eigenes Auto besitzen. Dann würden viele der Taxifahrer aufgeben müssen. Die Zukunft für die Branche sah für den aufmerksamen Beobachter nicht rosig aus. Um diesen Wandel finanziell zu überstehen, hätte er vielleicht doch etwas von dem Geld auf die Seite legen sollen.
Während er so nachgrübelte, wurde die Scheibe seiner Fahrertür durchbrochen und etwas Dumpfes landete auf seinem Kopf. Scherben flogen ihm um die Ohren. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Sogleich wurde die Fahrertür aufgerissen. Eine Hand, hart wie Stahl, packte ihn am Genick und zerrte ihn aus seinem Auto heraus.
„Haben wir dich endlich gefunden, du Ratte. Wir werden dir jetzt eine kleine Lektion erteilen, damit du es nicht wieder vergisst.“
Stevenson saß mit einer kalten Hand im Genick auf der Straße, und musste mit ansehen, wie zwei Typen mit Baseballschlägern auf sein Taxi einschlugen. Die Karosserie wurde verbeult, Scheiben zerschlagen. Ein Dritter hielt ihn am Boden und so musste er mit ansehen, wie mit Messern auf die schönen Lederbezüge eingestochen wurde. Nach mehreren Minuten war das Taxi völlig demoliert. Doch jetzt trieben sie die Zerstörung erst auf die Spitze. Sie gossen Benzin ins Innere des Autos und zündeten es an. Das Taxi, in welches Stevenson so viel Geld gesteckt hatte, war ihm unwiederbringlich genommen worden. Tiefschwarzer Rauch stieg empor, die Reifen platzten und die Flammen vernichteten das Innere in Sekunden. Wehleidig blickte er ins Feuer und tiefe Traurigkeit erfüllte ihn. Doch es blieb keine Zeit für Abschiedstränen. Denn er spürte den Lauf einer Waffe an der Schläfe. Erniedrigende Sprüche musste er sich anhören, es wurde ihm vor die Füße gespuckt, und immer wieder lachten sie gehässig. Es machte ihnen offenbar Spaß, die Existenzgrundlage von wehrlosen Menschen zu zerstören.
„Was für ein Glück, das wir uns dein Kennzeichen notiert haben. Sonst wäre es nicht leicht gewesen, dich zu finden. Wie hättest du es denn gern? Sollen wir dich schnell und schmerzlos erschießen, oder sollen dir meine Kollegen mit den Schlägern die Fresse polieren? Da hättest du allerdings eine geringe Überlebenschance…“
Der Typ mit der Waffe hatte den Satz nicht zu Ende sprechen können, denn Stevenson war blitzschnell herumgefahren und trat ihm in der Drehung mit aller Kraft in die Beine. Der wurde zu Boden geworfen, und noch ehe seine beiden Kumpane reagieren konnten, war Stevenson auf der Flucht. Er rannte so schnell er konnte auf die andere Straßenseite und ging hinter einer Telefonzelle in Deckung.
Als er den Ruf vernahm:
„Macht den Bastard kalt!“
rannte er weiter. Er bog in einen Hinterhof, um die Deckung zu sichern und sah sich um. Gab es hier irgendwas, mit dem er sich bewaffnen konnte? Eine Schaufel, eine Eisenstange oder etwas in der Art? Und selbst wenn: drei Typen konnte er nie in Schach halten. Also stieg er eine Feuertreppe hinauf. Schon waren die Kerle wieder hinter ihm und auch auf der Leiter. Dann knallten drei Schüsse. Keiner davon traf ihn. Oben auf dem Dach gab es keinen Ausweg mehr. Aber Stevenson wurde vom Mut der Verzweiflung getrieben. Er rannte auf die andere Seite des Flachdaches und hangelte sich an der Dachrinne hinunter.
Dass er sich dabei fast zwanzig Meter über dem Boden befand, interessierte ihn herzlich wenig. Hauptsache Abstand zu diesen Kerlen gewinnen, die hinter ihm her waren. Nachdem wieder drei Schüsse abgegeben wurden, die ihn nur knapp verfehlten, teilten sich die Verfolger auf.
Zwei rannten die Feuerleiter wieder hinunter und ein anderer tat es ihm gleich und kletterte die Fassade des Hauses an der Dachrinne nach unten. Stevenson hatte schon wieder sicheren Boden unter den Füßen und warf mit einem Stein nach seinem Verfolger. Es machte den nur noch wütender. Er rutschte jetzt schon die Rinne herunter, also rannte er weiter. Seine Hände waren schmutzig, aufgerissen und blutig von dieser waghalsigen Kletterei.
Aber das machte ihm, um sein Leben rennend, kaum etwas aus. Er wollte nur weg. In eine Seitenstraße, wieder in einen Hinterhof, dann durch einen Hauseingang in einen weiteren Hof. Dann kletterte er über ein Tor, rannte durch eine Werkstatt, eine Treppe rauf, eine andere wieder runter.
Dann wieder durch einen Hauseingang über einen Zaun, und durch eine weitere Einfahrt wieder auf die Straße. Die Verfolger zeigten sich hartnäckig und waren offenbar fest entschlossen, ihn zu töten. Er war völlig außer Atem, aber er rannte weiter. Sansones Bar versprach eine Zuflucht vor diesen Gangstern. Diese lag zwei Häuser weiter, auf der anderen Straßenseite. Der Anblick von Sansone und seinen Leuten war verlockender, als ein Baseballschläger auf dem Kopf. Stevenson nahm alle Kraftreserven noch einmal zusammen und rannte wie angestochen über die belebte Straße. Wieder schallten Schüsse, aber auch diese verfehlten ihn. Mit einem letzten großen Sprung war Stevenson an der Tür und rettete sich in die Bar.
„Helft mir, ich werde verfolgt!“
Ziemlich ratlos standen die drei Männer vor Sansones Bar und wussten nicht, was sie machen sollten. Sie schauten durchs Fenster, entdeckten ihr Opfer aber nicht. Sollten sie reingehen, in das Maul des Feindes, in die Sperrzone, oder sollten sie diese territoriale Verletzung besser sein lassen?
Nun wurde hin und her diskutiert. Man entschied sich für einen Kompromiss. Einer ging rein, um nach dem Rechten sehen und die beiden anderen warteten auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Der mit der Waffe betrat die Bar und schloss die Tür. Hinter ihr stand ein Mann, der ihm mit einem Schlagring so derb eine über den Kopf gab, dass er bewusstlos zu Boden sackte. Ihn ließ man später brutal foltern und anschließend verschwinden. Die beiden anderen wurden unruhig. Sie hatten keine Schüsse gehört, getrauten sich aber auch nicht in die Bar. Was war mit dem Kumpan passiert? Wenn sie das gewusst hätten, hätten sie sofort die Flucht ergriffen. Das Restaurant schloss etwas zeitiger als sonst…
Sansones Bar war ein angenehmes Lokal. Es lag an einer voll befahrenen Hauptstraße in Little Italy ganz in der Nähe des großen Einkaufstempels. Herzstück war natürlich der Speiseraum, mit Bar, Tischen und Stühlen möbliert.
Eingeweihte konnten hier trotz der Prohibition unter der Hand alkoholische Getränke kaufen. Damit machte Sansone ein Vermögen, denn Alkohol war nach wie vor bei vielen Amerikanern ein ständiger Begleiter. Man konnte sich aber auch italienisches Essen bestellen und im großen Speisesaal gemütlich seine Zigarette rauchen, während man Zeitung las. An der Bar befand sich ein Telefon. Der Raum besaß eine kühle Eleganz und fasste etwa 50 bis 60 Personen.
Durch eine Tür hinter der Bar gelangte man in die Küche, durch die man direkt im Hinterhof landete. Ging man in den Speisesaal hinein, und an der Bar vorbei, gelangte man in ein kleines Nichtraucherabteil mit rund zehn Plätzen.
Dieser war ebenso elegant gehalten, wie der große Saal. Auf der gegenüberliegenden Seite dieses eher engen Raums befand sich noch eine Tür, hinter der sich ein Billardraum befand. Der prunkvolle Billardtisch war ein handwerkliches Meisterstück. Der Billardraum wurde mit drei grünen Lampen direkt über dem Tisch erleuchtet. Drei Wände waren mit Holz vertäfelt. An der vierten befand sich eine Glasscheibe, durch die man aber nicht sehen konnte. In der hintersten Ecke befand sich noch eine weitere Tür, die man wegen der nahtlosen Einpassung in die Täfelung gar nicht gleich als solche erkannte. Durch diese gelangte man ins „Hinterzimmer“ hinter jener Scheibe, oder auch ins „Allerheiligste“, wie man manche sagen hörte. Nur die engsten Mitglieder der Familie hatten Zutritt in dieses Hinterzimmer. Zu ihnen gehörten Don Sansone, Luigi und Nuncio.
Sansone war eine kleine Erscheinung. Aber es strahlte Autorität aus seinem italienischen Gesicht mit den ganz hellgrauen Augen. Seine dunklen Haare wiesen ebenfalls bereits Grautöne auf. Er mochte um die 60 Jahre alt sein.
Auch der Anzug war grau. Er trug ein weißes Hemd unter dem Sakko, hatte eine goldene Taschenuhr bei sich, eine rote Krawatte um den Hals und eine dicke Zigarre im Mund. Aus deren Ende drang dicker bläulicher Qualm und umwaberte das Gesicht des Dons geradezu mystisch.
Luigi war ein gehorsamer und sehr geduldiger Zeitgenosse.
Anstand war das oberste Gebot des 28-jährigen. Ihn kannte Stevenson bereits. Er war es, der ihm das Geld gegeben und ihn angeworben hatte. Er saß aufrecht mit beiden Händen auf dem Tisch Stevenson direkt gegenüber und verzog keine Miene. Er trug einen Anzug einer teuren Marke. Das Gesicht war das eines kräftigen Italieners. Die Haare hatte er sich zu einem perfekten Scheitel gekämmt.
Das Gegenteil von Luigi schien der ihm ebenfalls bekannte Nuncio zu sein. Er war 27 und ein gebrechlicher, launischer Typ mit einer schrillen Stimme und einem noch schrilleren Lachen. Er war eine lustige Erscheinung mit kurzen, lockigen Haaren. Eine dieser Personen, die man nicht gleich ernst nimmt. Er trank viel und war auch schon mal sturzbetrunken aus der Bar nach Hause getorkelt. Er wusste nicht einmal, wie man Anstand schrieb und war auch an diesem Tag eher schlampig angezogen.
Ein weiterer Mann saß am Tisch. Er schien, abgesehen von Stevenson, der einzige Nicht-Italiener in der Runde zu sein.
Peter Mcartney war von ähnlicher Statur wie er. Verfrühter Haarausfall hatten riesige Geheimratsecken entstehen lassen.
Sein Name verriet, dass er aus dieser Gegend kam. Er trug eine Nickelbrille und ein dunkelblaues Sakko.
Am Grammophon stand ein riesiger Gorilla mit verschränkten Armen. Er trug für seinen breiten Schädel einen viel zu kleinen Hut. Überhaupt machte er ein dummes Gesicht. Über ihn verlor Sansone vorerst kein Wort. Aber schnell stellte sich heraus, dass auch dieser Mann italienischer Herkunft war. Sein Name war Patricio Destra, Mitte 40, an die zwei Meter groß. Er wich dem Don nie von der Seite und begleitete ihn in Funktion des Leibwächters überall hin.
Dann hielt sich noch ein Mann im Hinterzimmer auf.
Sansone stellte ihn als „Silvio, die rechte Hand fürs Rechtliche“ vor. Er war von Beruf Anwalt und hielt Sansone seitens des Gesetzes den Rücken frei. Der Don war sein einziger Mandant. Als Consigliere hatte er eine beratende Funktion und war ihm direkt unterstellt, was ihn nach Sansone zum mächtigsten Mann machte. Er war etwa 55, lang und schlank.
Für heute war ein ganz besonderes Gespräch angesetzt.
Sansone zog gelassen an seiner dicken Zigarre und blies den Rauch durch die Nasenlöcher aus. Rasch stieg er nach oben, wodurch das Gesicht des Dons hinter dieser Wolke zu verschwinden schien. Als er sich dann nach vorn beugte, um quasi aus dem Nebel wiederaufzutauchen, begann mit seiner ruhigen, langsamen und angenehmen Stimme die Gesprächsrunde:
„Also… Massimo versucht mich mal wieder richtig wütend zu machen. Aber da ist er bei mir an der falschen Adresse. Ich bin ein sehr geduldiger Mensch. Wie heißt du, mein Sohn?“
Stevenson Rice nannte seinen vollen Namen. Sansone nahm diesen zur Kenntnis, nickte und vollzog sein Räucherschauspiel von neuem. Derartige Pausen machte der Don in den Gesprächen ständig. Er hatte es nicht nötig, schnell und hastig zu sprechen. Er wusste, wie wichtig es war, dass ihn die eigenen Leute für mächtig hielten. Und diese Macht demonstrierte er auch durch seine Art der Gesprächsführung:
„Nun, Steve… ich mag neue Leute. Wir sind hier wie eine große Familie. Nuncio Costello und Luigi Lonore kennst du ja bereits.
Das hier ist Silvio Coletti, meine rechte Hand. Er kümmert sich um die rechtlichen Dinge in unserem Geschäft.“
Wieder machte er seine Kunstpause, erfüllte die Luft mit Zigarrenrauch und seiner Autorität und fuhr dann fort: „Nun hör mal zu, Junge. Ich bin hier der Boss. Mein Wort ist Gesetz und diesem Wort unterstehst du fortan, capito? Wenn du mich hintergehst, mache ich dich fertig. Falls du von den Bullen eingebuchtet wirst, hältst du den Mund und ich…“
er deutete auf Silvio und sich:
„und er helfen dir. Ich bin gut zu denen, die mir helfen. Und die, die das nicht tun, leben nicht sehr lange.“
Mit diesen Worten aschte Sansone seine Zigarre ab und zog wieder an ihr. Eine unverkennbare Morddrohung, die unterschwellig an ihn gerichtet worden war. Die Leute, die hier saßen, das Ambiente und sogar dieses Spielen mit dem Zigarrenqualm dienten der Inszenierung des Dons, seines Einflusses und seiner Kaltblütigkeit. Man wusste sofort, dass dieser Mann keinen Spaß verstand und vor Mord nicht zurückschreckte. All das war darauf angelegt, dem Gegenüber die eigene Unterlegenheit vor Augen zu führen.
Ein eiskalter Schauer lief Stevenson über den Rücken, aber was sollte er tun? Welche Alternativen hatte er? Es war, für sich selbst betrachtet, ein geradezu schon peinliches Schauspiel eines selbstverliebten Italieners, wenn es andererseits nicht so todernst gewesen wäre. Sansone war geübt darin, sein Gegenüber einzuschüchtern. Selbst der dicke Patricio würde vor diesem kleinen Mann kuschen.
Weiter Taxi fahren zu wollen, war keine gute Idee, da Massimo hinter ihm her war. Außerdem hatte man ihm seine Existenzgrundlage genommen. Er hatte noch nicht einmal die Möglichkeit, in einer anderen Stadt neu zu beginnen. Er war diesem Italiener und seiner Organisation auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Dies war die letzte Chance, wenn er nicht unter der Brücke mit einer Kugel im Kopf enden wollte. Also beugte er sich und stimmte zu.
Schriftlich festgehalten wurde nichts, getreu dem Motto: Ein Mann, ein Wort.
„Gut. Da ich ein Mensch bin, der immer einen Platz für zuverlässige Leute hat, will ich dir die Chance geben, dich zu beweisen.“
Er betonte das „zuverlässig“. Unzuverlässigkeit duldete dieser Mann nicht. Sansone verlangte von Stevenson bedingungslosen Gehorsam. Die nun folgende Aufgabe war ein Test:
„Räche dich bei den Leuten, die dein Taxi ruiniert haben. Du wirst sie in Massimos Bar in Oakwood finden. Ähnlicher wie dieser hier. Alle seine Gangster gehen dahin. Du kennst ja den schwarzen „Schubert Five“, von diesen Kerlen. Wenn du gut bist, steht er morgen früh nicht mehr da.“
Sansone machte eine Handbewegung, die zeigte, dass er das Auto zerstören solle.
„Nuncio soll mit dir kommen. Nur für alle Fälle. Er wird dich noch mit Perpone und Gildo bekannt machen. Und jetzt los.“
Stevenson und Nuncio erhoben sich und verließen den Raum. Als die Tür geschlossen wurde, sagte Silvio mit besorgter Stimme:
„Ich würde ihm nicht trauen, Don. Er hat meiner Meinung nach zu lange gezögert. Er hat doch nur angenommen, weil er keine Wahl hatte.“
„Abwarten, Silvio, abwarten. Über diesen Stevenson Rice mache ich mir keine Gedanken. Dieser arme, kleine Schlucker wird schon noch lernen, dass er ohne mich ein Niemand ist. Ich bin sicher, dass er uns noch nützen wird. Ich frage mich vielmehr, was Massimos Problem ist.“
Er legte seine Zigarre in den Aschenbecher, erhob sich kopfschüttelnd und ging, die Hände auf dem Rücken verschränkt ein paar Mal in dem Zimmer auf und ab.
Schließlich drehte er sich zu Silvio um und brummte: „Was zur Hölle soll das nur? Hat er denn alles vergessen, was wir uns einst versprachen?!“
Nuncio und Stevenson gingen zuerst zu Perpone. Er war der Waffenexperte des Don. Von der einfachen Handfeuerwaffe bis zum MG hatte er alles auf Lager. Er konnte sogar ganz ausgefallene Waffen beschaffen. Stets wurde das Arsenal von ihm gewartet und mit Munition bestückt. Dafür hatte Perpone gewisse Kontakte zur Polizei und sogar zum Militär. Für manche Waffen stellte er sogar selbst die Geschosse her. Außerdem war er stets darum bemüht, das Arsenal aktuell zu halten. Die neusten Gewehre die Perpone besaß, waren die legendären 1928er Thompsons, die er liebevoll „Thommy-Gun“ nannte.
Sie gingen durch die Küche in den Hinterhof und stiegen eine unscheinbare Treppe in den ersten Stock von Sansones Bar. Die beiden grüßten sich auf Italienisch und Stevenson wurde vorgestellt. Erst im Nachhinein bemerkte Stevenson den bedeutungsvollen Wortlaut, den Nuncio benutzte: „Das ist Stevenson Rice, ein Freund von mir.“
Perpone wechselte daraufhin kein einziges Wort mit Stevenson. Hätte er ihn als „Freund von uns“ vorgestellt, wäre für Perpone klar gewesen, dass er einen Mafiasoldaten vor sich hatte. So aber wusste er, dass dem nicht so war.
Entsprechend kühl und abweisend trat er Stevenson gegenüber auf. Perpone war Mitte 40 und trug bis auf einen kleinen Haarkranz Glatze. Er trug einen Blaumann und seine Hände waren ölverschmiert. Er bastelte gerade an einer amerikanischen Pumpgun. Eine Waffe, wie sie nur die Agenten vom B.O.I.* benutzten. Nuncio führte kurz aus, wie alles gekommen war, dass das Taxi zerstört war und dass sich Stevenson rächen solle. Perpone deutete auf einen Baseballschläger in einer Ecke:
„Dieses klassisch schlichte Sportgerät sollte für deinen Freund ausreichen. Ich gebe dir noch einen 1911 Colt mit, Nuncio.
Man kann ja nie wissen, was passiert.“
*amerikanischer Geheimdienst, ab 1935 F.B.I.
Er pflichtete ihm bei und nahm die Waffe an sich. Man ließ Stevenson das Misstrauen gegen ihn deutlich spüren. Falls er Probleme machte, waren die Kugeln in diesem Colt in erster Linie für ihn gedacht. So ausgestattet wünschte der Waffenexperte dem kleinen Italiener Glück und sie gingen.
Sie liefen über den Hinterhof, welcher etwa 10 mal 15 Meter maß, auf eine Halle zu.
„Gildo, den ich dir jetzt vorstelle, ist ein wenig verrückt und schwerhörig. Außerdem stottert er wie ein kaputter Motor.“
Sie betraten die Halle und er ging auf einen sehr kleinen und dürren Mann zu. Er war um die 70, seine Haut narbig und voller Falten. Es war das liebevolle Gesicht eines Uropas, der sein Leben lang als Fischer gearbeitet hatte: das Gesicht von der rauen See gezeichnet und dennoch humorvoll. Die Augen blitzten den unbekannten Mann an und versprühten einen Mix aus Unverständnis und Dummheit. Dazu schielte er leicht. Und dennoch hatte dieser Blick etwas, was man nicht vergisst. Hinter dieser offensichtlichen Dummheit verbarg sich beim zweiten Mal hinsehen ein schlauer Kerl.
Nuncio brüllte Gildo ins Ohr, dass er einen Job zu erledigen habe und den fahrbaren Untersatz bräuchte. Er deutete auf einen Ford A aus dem Jahr 1919. Es handelte sich noch um jene Generation Auto, die mittels einer Kurbel angelassen werden mussten. Es war kein Auto zum Angeben. Aber um einen Wagen zu verschrotten reichte er allemal. Die Sitze waren noch abgegriffener, als sie es bei Stevensons Taxi gewesen waren und der Fahrersitz wies ein Loch in der Sitzfläche auf. Sie stiegen ein und Gildo ließ den Wagen mittels Kurbel an. Er brauchte mehrere Versuche, aber er zündete schließlich doch. Dann steuerte Nuncio den Ford über eine Einfahrt aus dem Hinterhof heraus auf die Straße.
Massimos Bar befand sich in einem Eckhaus an einer Hauptstraße. Nebenan grenzte ein ummauerter Parkplatz, der durch ein Holztor befahrbar war. Nuncio riet ihm, erst einmal an der Bar zu beobachten, um festzustellen, ob der Wagen dastand und ob er bewacht wurde. Am Tor befand sich ein Mann, der mit Sicherheit auch bewaffnet war. Der Schubert Five stand liederlich geparkt in der Mitte des Hofes. Mehr konnte man im Vorbeifahren nicht sehen. Sie fuhren noch ein paar Meter weiter und hielten den Wagen auf dem Bordstein. Nuncio wartete im Ford, während Stevenson nach einem Weg suchte, die Wache abzulenken.
Zuerst einmal kletterte er über die mannshohe Mauer ins Innere des Hofes. Er wirkte unaufgeräumt und ungepflegt.
Überall waren Ölflecken zu sehen und ein paar Steine zeugten davon, dass der Hof vor langer Zeit einmal gepflastert gewesen war. Des Weiteren befand sich ein Schuppen in einer Ecke des Hofes, welcher ein Balken quer liegend verriegelte. Er ließ sich von der Mauer in den Innenhof fallen und landete so leise wie es eben ging.
„Schalte die Wache leise aus!“ hatte Nuncio ihm geraten. Er hatte keine Ahnung wie er das anstellen sollte. Bisher war er nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. In einer Situation zu sein, in der bewaffnete Männer eine Straftat von ihm erwarteten, war ausgesprochen unschön. Was tat er hier? Diese Frage schob er zunächst weg. Erst später begriff er, dass er mit dieser Tat den ersten Schritt in völlige Abhängigkeit gegangen war. Er schlich sich von hinten an die Wache heran und zog ihm recht unbeholfen mit dem Schläger eine über den Schädel. Der Wachmann stöhnte auf und sackte zu Boden. Damit er von der Straße aus nicht gesehen werden konnte, schleifte ihn Stevenson hinter die Mauer und fesselte ihn mit ein paar Öllumpen. Er blutete zwar am Kopf, lebte aber noch. Er stöhnte vor sich hin, fand das Bewusstsein aber noch nicht wieder. Stevenson war zunächst sehr darauf bedacht, keinen Krach zu machen.
Zunächst ließ er die Luft aus den Reifen und zerstörte mittels herumliegenden Werkzeugs Teile des Unterbodens.
Er brach den Auspuff ab, schnitt die Bremsschläuche durch und zerschlug noch eine ganze Menge anderer offenliegender Feinmechanik. Erst als der Wachmann wieder zu sich zu kommen drohte, kam Stevenson unter dem Wagen hervor und gab ihm mit dem Baseballschläger noch eine über den Kopf. Dann überlegte er, wo er ihn am besten belassen könnte. Sein Blick fiel dabei auf den Schuppen. Er nahm den Balken aus der Halterung und öffnete die Tür. Zu seiner Überraschung fand Stevenson einen nigelnagelneuen bordeauxroten Falconer F8. Es war ein Nachfolgemodell seines Taxis (Dieses war ein F4) und mit vier Gängen durchaus etwas Gehobeneres. Lange konnte er aber noch nicht hier stehen. Der F8 war erst seit Juni auf dem Markt. Zunächst sah er sich das Schloss nur an. Es war das selbe, welches auch an seinem Taxi verbaut gewesen war. Das ließ sich doch mühelos öffnen. Welche Strafe hatte er zu erwarten, wenn er diesen Kriminellen das Auto wegnahm? Die würden ja wohl kaum zur Polizei gehen und bei Sansone würde das gewiss Eindruck machen.
Die Hemmschwelle war niedrig und die Versuchung groß.
So machte er sich an dem Schloss zu schaffen und bekam es tatsächlich rasch auf. Auch innen war der Falconer traumhaft. Alles wirkte unbenutzt und sauber. Er atmete den Geruch dieses Neuwagens ein und ließ seine Hände mehrfach über das Lenkrad gleiten. Schließlich tauchte er in den Fußraum ab und versuchte den Motor kurz zu schließen. Auch das gelang ihm. Er legte den Gang ein, ließ vorsichtig die Kupplung kommen und steuerte den Wagen auf den Hof. Ein beglückendes und herrliches Gefühl der Freude und Macht überkam ihn. Das wäre doch mal eine Entschädigung für sein Taxi. Spätestens in diesem Moment wurde das Opfer zum Täter. Er brachte es fertig, sein Gewissen komplett abzuschalten. Sansone wollte das, er durfte das, ihm nützte das, Punkt. Beflügelt von diesem Hochgefühl warf er die Wache unsanft in den Schuppen und verriegelte ihn. Gestärkt durch diese schier unglaubliche Macht hob er den Schläger nun an und wuchtete ihn mit aller Kraft gegen die Karosserie des Schubert. Mit jedem Schlag empfand er mehr Genugtuung für das ihm angetane Unrecht. Er brach die Spiegel ab und zertrümmerte alle Scheiben. Es knallte bei jedem Aufschlag entsetzlich laut.
Immer mehr ließ er seiner Wut freien Lauf und wuchtete das Holz des Schlägers gegen die A, B und C Säulen, bis das Dach nur noch ein wabbeliges Stück Blech war. Dann bearbeitete er eine Weile den Kühler und die Motorhauben.
Kühlwasser trat schon bald aus dem Inneren aus. Das Emblem brach er ab und steckte es ein. Zufrieden besah er sein Zerstörungswerk und stellte fest, dass die Gangster in der Bar ihn gar nicht hören konnten, bei der lauten Musik, die aus dem Inneren des Hauses drang. Er erinnerte sich, wie bedrohlich der Wagen in jener Nacht ausgesehen hatte.
Diesen Haufen Schrott konnte man nur noch bemitleiden.
Stevenson setzte sich ans Steuer des F8, dessen Motor er hatte laufen lassen und ließ die Kupplung kommen. Wie auf Wolken schwebte der Wagen aus der Einfahrt heraus und
bog die Straße ab. Er hielt hinter dem Ford, in dem Nuncio saß.
„Meine Güte, erschrecke mich doch nicht so. Als der Wagen aus der Einfahrt kam, dachte ich schon, sie hätten dich erwischt.“
„Haben sie nicht. Es wird laute Musik in der Bar gespielt. Die haben keinen Mucks gemerkt. Aber sieh mal, was ich in dem Schuppen gefunden habe.“
Er deutete auf das Auto. Dass es sich um ein sehr hübsches Wägelchen handelte, musste selbst der launische Nuncio zugeben.
„Nimm ihn mit, und frag den Don, ob du ihn behalten kannst. Jetzt lass uns von hier verduften.“
Sie setzten sich über die holprige Oakwood – Bridge nach Chinatown ab. Nuncio folgte Stevenson und beide bogen mit ihren Wagen auf den Hinterhof von Sansones Bar ein.
Nachdem sie den Ford in der Halle abgestellt, den Falconer auf dem Hof gut positioniert, Waffe und Schläger bei Perpone abgegeben hatten, suchte Nuncio den Don in seinem Hinterzimmer auf. Stevenson musste draußen warten und glaubte nicht daran, dass er den Wagen behalten konnte. Nuncio indes lobte Stevenson in den höchsten Tönen. Erst hatte er erwartet, dass er sich vor lauter Angst in die Hosen machen würde. Massimo und seine Familie waren gefährliche Leute. Doch Stevenson hatte sich auf Sansones Geheiß kaltschnäuzig mit ihnen angelegt. Er hatte nicht nur eines ihrer Autos schwer beschädigt, sondern ganz nebenbei auch noch ein weiteres geklaut: Eine vorbildliche Bilanz. Den Wagen wollte der Don natürlich sehen.
Consigliere Silvio, Nuncio und Luigi begleiteten den Don auf den Hinterhof. Er nickte hochachtungsvoll, gratulierte zur Beute und ließ sich den Wagen von Stevenson, der diese Modellreihe bestens kannte, zeigen. Sansone verfügte bereits über mehrere Autos. So legte er fest, dass der Wagen sein Geschenk an Stevenson sei. Vorausgesetzt, dieser willigte in das noch ausstehende Aufnahmeritual ein. Das erste Mal merkte er, dass es sich nicht nur um eine kleine Gruppe von Gaunern handeln konnte, mit denen er hier zu tun hatte.
Dieser „Verein“ hatte Tradition. Was würde das für ein Aufnahmeritual sein? Aus purer Neugier willigte er mit einem flapsigen „natürlich“ ein. Er hatte sich mit dem Auto kaufen lassen, ohne dass es Sansone etwas kostete. Sie gingen alle zusammen wieder ins Hinterzimmer. Auch der Barkeeper, der Waffenexperte, der Mechaniker Gildo und dessen Sohn. Zusammen mit den anderen standen sie um den Tisch herum. Nur Sansone und Stevenson saßen sich an der langen Seite des Tisches gegenüber. Silvio zündete zwei Kerzen an und stellte sie auf den Tisch. Zwischen die Kerzen legte er ein Bild der heiligen Mutter Maria. Dann löschte er das Licht. Der Raum wirkte plötzlich so groß wie ein Sakralbau. Die Schatten der um sie herumstehenden Männer tanzten schemenhaft an den kaum auszumachenden Vertäfelungen. Im Kerzenlicht wirkten die Nebelschwaden aus der Zigarre des Dons noch unheimlicher. Er beugte sich nach vorn und begann leise und erhaben zu erläutern, dass er die hinter ihm liegende Aufgabe mit Bravour gemeistert habe. Er wiederholte nochmals, dass jeder in seiner Nähe Platz fände, wenn er sich ihm bedingungslos unterordnete.
Einen ersten Beweis habe Stevenson heute angetreten und sich damit als würdig erwiesen, der Cosa Nostra beizutreten.
Die Cosa Nostra, zu Deutsch „unsere Sache“ hatte ihre Anfänge in einem Geheimbund aus Sizilien. Die Wurzeln dieses Bundes lagen in einer Partisanenbewegung, welche Mitte des 19. Jahrhunderts unter anderem für ein eigenständiges Königreich Italien kämpfte, frei von den Einflüssen der anderen europäischen Herrschaftshäuser.
Dieses Ziel war mit der Krönung Viktor Emanuels II zum ersten König von Italien im März 1861 erreicht. Doch die einzelnen Familien der Cosa Nostra, welche hauptsächlich um Palermo auf Sizilien ansässig waren, hatten bemerkt, dass sich mit räuberischer Schutzgelderpressung sehr viel Geld verdienen ließ. So formte sich die Cosa Nostra zu einem sehr verschwiegenen, kriminellen Geheimbund, welcher mit der massiven Auswanderungswelle um 1900 auch nach Amerika übersetzte.
In so einer Familie der American Cosa Nostra fand sich Stevenson nun wieder und wurde vom Oberhaupt der Familie in das streng gehütete Regelwerk der Mafia eingeführt:
1. Ich schwöre der Cosa Nostra ewige Treue.
2. Ich respektiere mein Familienoberhaupt und dessen Wort.
3. Bringe ich einen Außenstehenden in die Familie, so bürge ich mit meinem Leben für ihn.
4. Ich stehe meiner Familie von nun an bis zu meinem Tod rund um die Uhr zur Verfügung.
5. Ich lasse die Finger von den Frauen meiner Familienmitglieder und behandle meine eigene Frau stets mit aller Treue und allem Respekt.
6. Wenn ich in der Familie nach Informationen gefragt werde, so muss meine Antwort stets die Wahrheit sein.
7. Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit sollen mir mein Leben lang folgen und Vereinbarungen, die ich getroffen habe, halte ich stets ein.
8. Dem Drogenhandel entsage ich und ich werde alles tun, um ihn aus der Familie fern zu halten.
9. Ich verrate weder meine Familie, noch spreche ich mit Außenstehenden über das Wesen der Cosa Nostra.
10. Mit Polizisten, Staatsanwälten oder Geheimdiensten mache ich keine Geschäfte. Sollte ich jemals gegen diese Omerta (Schweigepflicht) verstoßen, soll mein Fleisch brennen wie dieses Heiligenbild.
Don Sansone sprach die einzelnen Sätze. Stevenson wiederholte sie. Er wusste, dass er gerade dabei war, seine Seele dieser sizilianischen Sekte zu verschenken, (etwas Anderes sah er zu diesem Zeitpunkt darin nicht). Die Alternative war arbeits-und obdachlos ein ungewisses Dasein zu fristen. Er wusste nicht, wie er im nächsten Monat die Miete bezahlen sollte, wie er an ein neues Taxi zu kommen gedachte, wie er der Massimo-Familie entkommen wollte. Beugte er sich aber diesem Regelwerk, so sah er Hoffnung am Horizont. Er vertraute darauf, dass ihm Don Sansone einen Platz in seiner Familie geben würde.
Die feinen Anzüge der anderen zeigten, dass es nicht übel war, für Sansone zu arbeiten und Stevenson hatte nichts zu verlieren. Als er den letzten Satz wiederholt hatte, bat Sansone ihn um seine rechte Hand. Zögerlich streckte er sie dem Don entgegen. Ein Dolch blitzte auf und Stevenson erschauderte. Beinahe hätte er die Hand weggezogen, als Sansone ihm eine recht tiefe Wunde in den Ballen seines Daumens schnitt. Er zuckte zusammen und biss sich auf die Lippe. Irgendwie hielt er den Schmerz aus. Aus dem Schnitt rann das Blut und tropfte auf das Heiligenbild der Maria.
Dieses Bild nahm Sansone nun, steckte es an einer der beiden Kerzen in Brand und legte es in Stevensons verwundete Hand:
„Von nun an beginnst du ein neues Leben in der Cosa Nostra.
Wenn du jemals eine Regel verletzt, oder einen von uns verrätst, wirst du sterben und in der Hölle brennen, wie dieses Marienbild, welches in deiner Hand verbrannt ist. Verstanden?“
Wie in einer Basilika schienen die Worte nachzuklingen. Die Spannung war kaum auszuhalten und Stevenson fürchtete sich. Der aufsteigende Rauch biss in den Augen. Sein Daumen brannte und auch zunehmend die Handfläche, welche dem herunterbrennenden Bild ausgesetzt war. Nur mit Mühe hielt er seine Hand ruhig. Allmählich füllte sich seine leicht gewölbte Handfläche mit Blut und löschte die letzten beiden Spitzen des Bildes. Er erkannte, dass man eine Antwort von ihm forderte und so flüsterte er, leise aber deutlich:
„Ja, Don Sansone!“
Plötzlich wurde das Licht eingeschaltet und alle Umherstehenden applaudierten ihm. Der Druck fiel ab und die erdrückende Schwere dieses Moments löste sich im Bruchteil einer Sekunde auf.
„Was für ein Teufelskerl! Er hat wirklich gewartet, bis das Bild ganz runtergebrannt war!“
hörte man jemanden erstaunt sagen. Luigi stellte Verbandszeug auf den Tisch und Barkeeper Giovanni Bastianotti machte sich gleich daran, die Wunde zu verbinden. Man hieß ihn herzlich willkommen und mit einem Schlag war nichts mehr zu spüren von dieser Distanz, die man ihn bis eben noch hatte spüren lassen. Selbst der Waffenexperte Perpone klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. Nun wurde auch offiziell bekannt gegeben, dass Stevenson den F8 übernehmen dürfe, ihn aber der Familie stets zur Verfügung stellen müsse. Wollte einer der ranghöheren Capos in dem Wagen gefahren werden, musste Stevenson ihn chauffieren, ob er wollte oder nicht. Er war nun ein Nuncio unterstellter Soldat. Gildo und dessen Sohn Naffizzi wurden beauftragt, die Fahrgestellnummer zu ändern, neue Papiere zu erstellen und die Kennzeichen zu wechseln. Der Wagen solle nicht weiterverkauft, sondern auf Stevenson zugelassen werden. Die Art und Weise, wie diese Anweisungen gegeben wurden zeigten, dass das scheinbar reine Routine war.
Bestimmt kochte Massimo gerade vor Wut. Diese Tatsache versetzte Sansone in eine Hochstimmung. Vor aller Augen küsste er dem Neuen erst auf die rechte, dann auf die linke Wange.
Erst in den Abendstunden bemerkten sie den Schaden. In der Tat schäumte Carlo Massimo vor Wut. Der Schubert war irreparabel beschädigt, der Falconer gestohlen, die Wache musste mit zwei Platzwunden am Kopf ins Krankenhaus gefahren werden.
Massimos Bar war ähnlich eingerichtet. Nur war sie zeitgenössischer als die von Sansone. Stuck an Wänden und Decken zeugten von Reichtum und dem verschwenderischen europäischen Lebensstil. Es gab ein kleines Rednerpult. Durch die Form des Eckhauses mit hervorstehendem Erker ging eine ganze Menge Platz verloren. Der große Raum fasste etwa 30 Personen, war aber durch Bar, Rednerpult und einen Billardtisch stark eingeschränkt, so dass sich nur 20 Personen drin bewegen konnten. Hinter der Bar befand sich eine kleine Küche. An deren Ende gab es zwei Türen. Eine mündete im Hinterhof, die andere in einem Hinterzimmer, welches die gleiche Aufgabe wie bei Sansone hatte.
Massimo war hager und etwa so alt wie sein Gegenspieler, in der Stadt bekannt und extrem gefürchtet. Kaum einer wagte es noch, weiße Anzüge zu tragen. Massimo war für seine maßgeschneiderten Anzüge in weißer Farbe bekannt. Er hatte diesen Trend regelrecht aus der Stadt gefegt, denn niemand wollte aussehen wie er. Sein Erscheinungsbild machte ihn weithin erkennbar. Man machte allgemein einen Bogen um diesen sehr jähzornigen Mann. Abgesehen von seinem Bruder Benito Massimo hatte er niemanden, dem er wirklich vertraute. Carlo hielt sich für einen charismatischen Redner, der er nicht war. Er grölte martialisch, redete sich in Rage und erwartete von seinen Zuhörern, dass sie ihn zustimmend feierten. Es war eine abstrakte Choreografie der Selbsttäuschung, die nichts Echtes hatte und jeder wusste das. Nach schier endlos langen zehn Minuten oblag es Benito, seinen Bruder wieder auf den Boden der Tatsachen zurück zu bringen. Das gelang ihm nicht immer.
Dass er überhaupt Männer hatte, die für ihn arbeiteten, lag daran, dass er den Titel des Familienoberhauptes einst geerbt hatte. Seine Organisation war erstaunlich breit aufgestellt und hatte sogar politischen Einfluss. Durch seinen Freund Ferdinand Oregan, den er seit dem Börsenkrach im Amt des Stadtrates hatte, konnte er Schritte der Polizei voraussehen; ein enormer Vorteil gegenüber Sansone. Des Weiteren hatte er hochrangige Kontakte in der Hafenverwaltung. Durch den Hafen und die Hafenarbeitergewerkschaft verdiente Massimo noch Mal kräftig dazu. Dazu kam der florierende Alkoholschmuggel, Schutzgeld, sowie der Diebstahl von Industriegütern und Kraftfahrzeugen. Die Situation war komfortabel für ihn.
Wenn es ihm gelang, Sansone finanziell auszustechen, musste er sich Tryonee Harbour nicht länger mit ihm teilen.
An diesem Abend entwickelte Massimo mit seinen Capos einen Plan, wie er erstmals offensiv gegen Sansones Schutzgeldsystem, seine größte Einnahmequelle, vorgehen konnte.