Читать книгу Morality and fear - Martin Wannhoff - Страница 7

Der Zeuge 1939

Оглавление

Es war genau 4 Uhr und 56 Minuten, als am 18. Juli 1939 die ersten Sonnenstrahlen die Spitze des Leuchtturms der Stadt Tryonee Harbour berührten. Der Himmel bot alle nur denkbaren Farbfacetten auf. Während er in Richtung Osten zum Meer hin rot-orange war, zeigte er in Richtung Stadt bläuliche Töne, die weiter westwärts die weichende Nacht noch erahnen ließen. Die Wellen des Atlantiks brandeten gegen die Steilküste, auf der der blendend weiße Leuchtturm stand. Der alte Leuchtturmwärter stieß die Tür zur Aussichtsplattform auf und richtete einen aufmerksamen Blick über die See. Dutzende Fischerboote liefen nach der stürmischen Nacht den Hafen an. Nachdem er sich einen Überblick verschafft hatte, suchte er mit seinem Fernglas die Umgebung speziell um den Hafen nach Ungewöhnlichkeiten ab. Ein Hurrikan hatte die Stadt in den Abendstunden des vorigen Tages getroffen. Die See war zwar noch aufgewühlt, aber die erwartete Sturmflut blieb aus. Der Himmel war klar, die Sicht gut und die Stadt unversehrt. Die „Normandie“ konnte also an diesem Tag wie geplant nach Osten in Richtung Europa auslaufen. Seit Jahren stellte der französische Luxusliner immer neue Geschwindigkeitsrekorde auf der Atlantikroute auf. Diese wurden dann immer wieder von der englischen „Queen Mary“ unterboten. Es ging um das blaue Band, um nationales Prestige, das schnellste Schiff der Welt zu haben, und um viel Geld.

Soweit war alles in Ordnung. Kein Rauch, den der Wärter hätte melden müssen, kein in Seenot geratenes Schiff. Mit einem kurzen Nicken begab sich der bärtige Mann wieder in die unteren Etagen des Turmes, die er allein bewohnte.

Langsam stieg die Sonne höher und erreichte die Straßenzüge der noch leeren Stadt. Briefträger und Müllabfuhr arbeiteten bereits. Hier und da verließ so mancher Frühaufsteher sein Haus. Straßenkehrer gingen ihrer Arbeit nach und das eine oder andere Auto erfüllte die leeren Straßen mit lautem Motorengeräusch und einer blauen Abgaswolke. Als die Kirchenglocken des Stadtteils Wellington 6:00Uhr schlugen, erwachte das Leben in der Stadt. Binnen fünf Minuten schienen nahezu alle Bewohner auf den Beinen zu sein. Arbeiter verließen in Scharen ihre Wohnungen um in das Works – Quarter zu gelangen. Dort standen Fabriken, die alles nur Denkbare produzierten: Autos, Werkzeuge, Generatoren, elektrische Geräte, Kleidung und vieles mehr. Allein hier waren über 2,5

Millionen Menschen beschäftigt. Ein 4-spuriger Highway trennte das riesige Arbeiterviertel in die Schwerindustrie im Norden, die Textil-und Chemieindustrie im Süden. Dieser Highway führte an seinem östlichen Ende über eine gigantische Stahlbogenbrücke direkt auf die Hafeninsel. Die Hafenarbeitergewerkschaft war nach der Atlantic-Railroad-Company der zweitgrößte Arbeitgeber der Stadt. Ruhig lag der französische Super – Liner am östlichen Dockende des Hafeneilandes und wartete darauf, aufs offene Meer geschleppt zu werden. Für ein derart großes Schiff waren drei Schlepper nötig.

Der Börsenkrach hatte die Stadt schwer getroffen.

Unzählige Geschäfte und sogar riesige Firmen mussten schließen. Die Not war Anfang des Jahrzehnts groß gewesen. Doch im Laufe der Jahre gingen die Arbeitslosenzahlen zurück. Das jetzige Treiben glich einem Wirtschaftswunder. Die Stadt verfügte seit einigen Jahren sogar über eine elektrische Straßenbahn. Übersichtlicher machte es das Bild in den Straßen aber nicht. Sie hatte lediglich zur Folge, dass sich das Leben weiter beschleunigte. Immer mehr Menschen suchten ihr Glück in der boomenden Metropole.

Die Stadt Tryonee Harbour war durch den Hiefleigh-River in den Norden, den Süden, die Hafeninsel und in Central Island geteilt. Auf der großen Insel waren breite Straßen angelegt worden und immer neue Wolkenkratzer erreichten atemberaubende Dimensionen. Außerdem gab es ein Theater, seit 1934 eine Gefängnisruine sowie 2 Museen: eines für die landesweit bekannte Kunstausstellung, das andere für die Geschichte der Luftfahrt. Des Weiteren befanden sich dort Stadtbad, Bibliothek und ein großzügig entworfener Einkaufstempel. Seit einiger Zeit gab es auch eine S-Bahn mit dazugehörigem Zugdepot. Diese war aus Platzgründen über den Straßen der immer voller werdenden Stadt errichtet worden. Obwohl die Wagons über neuartige extraharte Stahlräder verfügten, machten sie einen ungeheuren Krach, wenn sie über einen Straßenzug hinweg donnerten. Bald waren die Straßen, wie jeden Tag, mit Autos, Straßenbahnen und Motorrädern verstopft. Die Bürgersteige waren voller Menschen.

Wieder fuhr eine S-Bahn über eine der acht Brücken von Central – Island nach Downtown und hielt an der Haltestelle. Mitten im alltäglichen Gedränge stieg ein Mann aus. Seine Gesichtszüge waren durchschnittlich. Dazu dunkle Haare, das Gesicht ordentlich rasiert, aufmerksame Augen. Er trug einen schwarzen Mantel und einen Hut. Des Weiteren teure Schuhe und eine schwarze Hose. Er war Mitte 30 und von jener Sorte Mensch, mit denen man lieber keinen Ärger hatte. Er stieg die Treppen hinunter auf die Straße, wartete kurz und überquerte sie. Mit festen Schritten hielt er auf das Eck – Café auf der anderen Straßenseite zu.

Die Tür öffnete sich und schlug gegen ein paar Glocken, die angenehm schallten. Anders als der Zug draußen, der eben weitergefahren war. Aufgrund der Tageszeit war das Café nahezu leer. Lediglich ein junges Paar saß direkt am Eingang und aß belegte Brötchen. Dann hockte noch ein älterer Mann an der Bar, in sich zusammengesunken, und schlief.

So betrunken, wie er war, saß er da offenbar schon länger.

Der Mann, der eben das Café betreten hatte, hielt auf einen Gast zu, der zurückgezogen in einer Ecke saß und rauchend die Tageszeitung las.

Stevenson Rice legte seinen Hut und den Mantel ab. Er beugte sich zu dem Herrn herüber und sprach in an: „ Detective Richardson?“

Der Angesprochene senkte die Zeitung, musterte sein Gegenüber aufmerksam und machte dann mit einem Kopfnicken deutlich, dass er sich doch bitte setzen solle.

Der Ankömmling entschuldigte sich für die Verspätung und begründete es damit, dass er Vorsicht walten lassen müsse.

Er wolle keinesfalls erkannt werden .

„Ich bin kein Mann der großen Umschweife. Deshalb lasse ich die Katze gleich aus dem Sack. Ich bekleide eine Führungsposition in einer nicht ganz legalen Organisation. Es handelt sich um einer jener Organisationen, über die Leute wie Sie gerne mehr wissen möchten.“

Detective Richardson hatte die Zeitung weggelegt, und sein Gegenüber aufmerksam gemustert. Um die 35 wird er wohl sein, dachte er. Er selbst war 42 Jahre alt und alleinstehend.

Er war ein engagierter Polizist, der gerade von der Polizeioberkommandantur hierher versetzt worden war.

Schon in Boston, der Stadt aus der er ursprünglich kam, hatte er haarsträubende Erfahrungen mit Korruption und Betrug gemacht. Er wusste, wie es im Polizeiapparat zuging und wie stark dieser vom organisierten Verbrechen unterwandert war. Der Job hatte ihn müde und depressiv werden lassen. Oft arbeiteten Kollegen gegen ihn, behinderten ihn bei seiner Arbeit und machten ihn bei seinen Vorgesetzten lächerlich. Er war schlicht zu neugierig und zudem unbestechlich, ein zuverlässiger Mann und durchaus ein guter Polizist. Doch Auszeichnungen hatte er in seinen acht Jahren Dienst in Boston nicht erworben. Er hasste diese Stadt, den Dreck, die alten Dienstmotorräder und die Leute dort. Seit seine Frau sich von ihm hatte scheiden lassen, wollte er nur noch weg. Da kam ihm die Versetzung an die Ostküste nach Tryonee-Harbour gerade recht. Nur hatte er ernüchternd feststellen müssen, dass es in puncto Bestechlichkeit noch sehr viel schlimmer zugehen konnte, als er sich das in Boston je hätte vorstellen können.

Seinen ersten Tag würde er wohl nie vergessen. Dieser Mann, der ihm da gegenübersaß, hatte ihm vor vier Wochen hastig erklärt, dass er seine Hilfe gebrauchen könne. Viele Details konnte er ihm damals nicht entlocken. Das Gespräch hatte nur wenige Minuten gedauert. Aber Richardson war neugierig geworden. Vielleicht ja deshalb war er einen Schritt auf diesen Mann zugegangen und hatte ein weiteres Treffen arrangiert. Bei dem ersten, eher zufälligen Zusammentreffen waren die Namen Sansone und Massimo gefallen. Richardson hatte sich daraufhin sehr intensiv mit den Akten dieser Männer beschäftigt und stieß auf Granit. Alle Verfahren gegen die besagten Männer waren wegen Beweismangel eingestellt worden. Das kannte er schon aus seiner Zeit in Boston. Doch beim Durcharbeiten dieses riesigen Berges an Unterlagen stieß er auf eine schreckliche Mauer des Schweigens. Die Art und Weise, wie selbst die Behörden eigenes Versagen vertuschten, konnte man nur als skandalös bezeichnen. Es war entsetzlich, wie wenig an der Aufklärung aller offenen Fragen gelegen war. Richardson wusste jetzt so gut wie alles über die unaufgeklärten Fälle der letzten zwölf Jahre und hatte sich in den vergangenen vier Wochen intensiv auf dieses Gespräch vorbereitet. Jetzt stand er im Stoff und konnte mitreden, Gegenfragen stellen, Neues in Erfahrung bringen. Er hatte schon befürchtet, dass alle Mühe mal wieder vergebens war und dass es nicht zu diesem zweiten Treffen kommen würde. Umso erfreulicher war es, dass Stevenson Rice nun doch gekommen war und offensichtlich dieses Mal auch mehr Zeit hatte. Der Termin mit ihm war eine willkommene Abwechslung zum eintönigen Stubendienst, auch wenn er nicht so recht wusste, auf was er sich da eingelassen hatte. Er zog die Stirn kraus und wartete darauf, dass Stevenson Rice weitersprach.

„Ich möchte mich aus persönlichen Gründen von dieser Organisation distanzieren. Sie wissen ja, wie das ist. Es ist nicht so ganz einfach, aus dem Geschäft auszusteigen.“

Richardson lachte:

„Ich habe eine ungefähre Vorstellung. Sie haben eine Kugel im Kopf, wenn Sie jetzt nicht schnell untertauchen, stimmtś?“

„Das ist nicht der einzige Grund. Haben Sie Familie?“

Seine Exfrau verdrängte er und die Tatsache, dass er zwei Söhne mit ihr hatte, ebenso. An diese Zeit seines Lebens wollte er nicht denken. Und so schüttelte er nur den Kopf.

„Also niemanden… nun, ich habe Frau und zwei Töchter. Und ich will sie nicht in Gefahr bringen.“

Richardson zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch seinem Gegenüber ins Gesicht und antwortete abfällig: „An ihre Familie hätten Sie vorher denken sollen, mein Guter.

Sie sagten, Sie würden keine Umschweife machen, also, was ist jetzt?“

Er schlug dem Polizisten folgenden Tausch vor:

„Ich habe jahrelang für Antonio Sansone gearbeitet. Dieser Name ist Ihnen doch sicherlich ein Begriff?“

„Natürlich. In welcher Verbindung stehen Sie beide?“

„Naja, wegen verschiedener Angelegenheiten will er mich umbringen. Wenn Sie mich und meine Familie vor Sansone schützen, dann sage ich Ihnen alles, was ich weiß.“

Detective Richardson grinste und nickte erst einmal abfällig.

Sollte es tatsächlich wahr sein, dass hier ein Gangster der Sansone-Familie auspacken wollte? Sollte dieser Mann endlich die Belohnung bringen für all die Jahre der Demütigung? Was konnte man von dem Kerl erwarten? Wie rechtfertigte er die Verbrechen, die unter seinen Augen stattgefunden hatten? Was hatte er selbst auf dem Kerbholz und natürlich: Was war zwischen Sansone und ihm vorgefallen? So wirklich war ihm Rice bisher nicht aufgegangen. Sizilianische Mafiosi schwiegen doch sonst immer wie ein Grab! Wieso sollte der auf einmal anfangen zu reden? Vielleicht war er ja nur ein Wichtigtuer, ein unbedeutender Fisch, der sich wegen irgendeiner Lappalie an Sansone rächen wollte. Er erwiderte: „Ich bin nicht der Weihnachtsmann. Hören Sie, ich kann nicht jedem gewöhnlichen Kriminellen Schutz bieten. Ich bin noch nicht lange in dieser Stadt. Wenn ich damit zu meinem Vorgesetzten gehe, muss ich handfeste Beweise haben. Ich will alles wissen, was Sie wissen und ich muss wirklich sicher sein, dass Sie vor Gericht aussagen werden.“

Stevenson Rice erklärte sich einverstanden. Dies sei ein Deal, aus dem sie beide als Gewinner hervorgingen.

Richardson würde sich im Namen der Verbrechensbekämpfung unsterblich machen. Stevenson wollte nur sich und seine Familie aus dieser Situation retten.

Der Polizist war nicht sicher, was er von diesem Zeugen halten sollte. Er musterte ihn wieder und wieder.

Zweifelsohne war er gefährlich. Diese Nummer, seine Familie retten zu wollen, kaufte er ihm einfach nicht ab. Er machte einen so unglaubwürdigen Eindruck: Der harte Gangster, der plötzlich einen auf lieben Familienvater gab.

Außerdem wirkte Rice nicht so hilflos, wie er sich versuchte zu geben. Zu unvorstellbar schien ihm der Gedanke, dass ihm ein bedeutender Mafioso gegenübersaß und auspacken wollte. Das Schweigen ihrer Mitglieder war legendär und der wichtigste Schutz der Mafia. Darum hakte er nach: „Nur, dass wir uns richtig verstehen: Sie wollen alle Leute, mit denen Sie zu tun hatten, verpfeifen, nur um Ihren eigenen Arsch zu retten? Glauben Sie nicht, dass Sie sich damit mächtige Feinde machen?“

„Sicher. Aber die Würfel sind gefallen. Ich kann nicht zurück.

Um zu überleben bleibt mir nur die Flucht nach vorn.“

Richardson sah auf die Uhr.

„Ich habe mir für heute frei genommen. Daher habe ich jede Menge Zeit. Erzählen Sie mir von sich. Ich bin ganz Ohr.“

Stevenson bestellte sich einen Kaffee.

„Es begann im Sommer 1930. Ich war mal Taxifahrer, müssen Sie wissen…“


Morality and fear

Подняться наверх