Читать книгу Morality and fear - Martin Wannhoff - Страница 16
Mit Schläger und Colt 1931
ОглавлениеStevenson war jetzt fast eineinhalb Jahre dabei und wusste, wie es zuging. Das Verhältnis zu den Massimos hatte sich besorgniserregend abgekühlt. Schießwütige Auseinandersetzungen wie in Bills Motel waren häufiger, Massimos Aktionen dreister geworden. So wurde in der vergangenen Woche einmal mehr ein Laden überfallen und in Brand gesteckt. Doch noch immer hielt sich Sansone mit Strafaktionen zurück. Er ordnete den Capos an, mit ihren Teams den Laden wiederherzurichten. Das tat seinem öffentlichen Ruf als Beschützer und Wohltäter zwar außerordentlich gut, doch die Spirale der Gewalt drehte sich weiter. Außerdem verlor er doppelt Geld. Anstatt die Ladenbesitzer darum zu erleichtern, musste er selbst welches in die Hand nehmen. Wie lange würde sich der Don das noch bieten lassen? Es sah ganz danach aus, als wolle er eine offene Konfrontation mit Massimos Schergen um jeden Preis vermeiden. Ein Krieg hätte bedeutet: alles oder nichts. Noch war er auf eine Co-Existenz angewiesen, denn einen ausgewachsenen Krieg konnte sich Sansone nicht leisten. Massimo war in allen Belangen der Stärkere von beiden. Angefangen bei der Anzahl von Männern, Waffen, die Kontakte im Rathaus, bei der Polizei und zum Gericht bis hin zur Hafenarbeitergewerkschaft, dank derer er praktisch über unbegrenzte finanzielle Mittel verfügte. Der Druck auf Sansone wuchs stetig. Zunehmend hoch waren die dadurch verursachten finanziellen Einbußen. Denn die zum Aufräumen abkommandierten Männer konnten kein Schutzgeld einnehmen. Außerdem hatte es in diesem Jahr in den eigenen Reihen bereits 9 Tote gegeben. Das machte den Don natürlich nicht gerade glücklich.
Da die Zeiten rauer wurden, war es unerlässlich, mit den Waffen aus Peropnes Arsenal vertraut zu sein. Stevenson hatte im letzten Jahr oft mit Luigi vor der Stadt das Schießen geübt. Er war nicht gerade ein Naturtalent und musste üben, üben, üben. Aber er steigerte sich. Es gelang ihm immer besser, die Entfernungen zum Ziel zu bestimmen, die Geschwindigkeiten der Kugeln, den Einfluss des Windes und der Schwerkraft einzuschätzen. Wenn das Zielen auch dauerte: Seine Treffsicherheit war mittlerweile lobenswert.
An jenem Abend Ende November 1931 sprach ihn Barkeeper Giovanni an.
„Steve, hast du heute Abend Zeit?“
Er leerte das Whiskyglas und nickte. Giovanni putzte ein Glas und sah zu Boden. Offenbar kostete es ihn einiges an Überwindung, mit der Sprache herauszurücken. Schließlich aber gab er sich einen Ruck und bat ihn, seine Tochter nach Hause zu begleiten. Gestern hätten sie irgendwelche Typen mit zweideutigen Bemerkungen angemacht. Er machte sich Sorgen und wollte nicht, dass sie heute allein heimging.
Stevenson war ein Gentleman und genoss Respekt in der Gegend. Wenn wieder einer die Tochter anpöbeln wollte, müsste er erst an ihm vorbei. Giovanni mochte ihn und seine zurückhaltende Art. Andere Soldaten und ihre Capos waren selbstverliebte Prolls. Bei ihm aber wusste er seine Tochter in guten Händen. Sie hieß Marylane, war jung und athletisch, hatte lange braune Haare, braun-grüne Augen, war 23 Jahre alt. Bisher kannten sie sich nur flüchtig. Mary machte noch die Küche sauber und ihr Vater bedankte sich.
„Oh, Steve, du glaubst nicht, wie dankbar ich dir bin. Komm am Sonntagmittag zum Lunch vorbei. Da mache ich dir was ganz Besonderes.“
Stevenson ließ sich vorsichtshalber einen Baseballschläger von Perpone geben. Es war fast dunkel, als die beiden losgingen. Sie erzählten sich voneinander. Er stammte aus New Orleans und hatte der Stadt nach dem Tod seines Vaters den Rücken gekehrt. Seiner Mutter hatte er wohl damit sehr weh getan, so kurz nach dem Tod des Ehemannes nun auch noch den Sohn zu verlieren. Ein paar Monate war er quer durch die USA getrampt. Als das Geld weniger wurde, fing er an zu arbeiten und konnte sich, dank der fallenden Automobilpreise, bald ein eigenes Taxi leisten.
Dieses jedoch wurde zerstört und Sansone war sein Retter in der Not.
„Heute bin ich Chauffeur für die Capos und den Consigliere.
Manchmal fahre ich auch den Don durch die Gegend. Hin und wieder arbeite ich mit Gildo und Naffizzi zusammen und repariere Autos.“
Marys Eltern Giovanni und Isabella waren vor ziemlich genau 25 Jahren nach Amerika gekommen und hatten sich gemeinsam eine Pizzeria aufgebaut. Das Glück schien mit Isabellas Schwangerschaft perfekt zu werden, aber sie verstarb bei der Geburt. Dieser Verlust hatte Giovanni aus der Bahn geworfen. Jahrelang ertränkte er seinen Kummer in Alkohol und verpasste dabei viele schöne Momente in der Entwicklung seiner heranwachsenden Tochter. Die dänische Nachbarin Freya Hyousek kümmerte sich liebevoll um sie. Ihre Tochter Yvonne war etwa im selben Alter und sie zog die beiden Mädchen auf als seien es Geschwister.
Eines Tages betrat Sansone die elterliche Pizzeria. Diese Begegnung veränderte alles. Er kaufte das Lokal, benannte es in „Sansones Bar“ um und beschäftigte den ehemaligen Inhaber in der Küche weiter. So wurde er nicht entwurzelt, aber ihm war die Last der Verantwortung abgenommen. Ab da ging es Giovanni wieder besser und er fand neuen Lebensmut. Er begriff, dass er Marylane nicht für den Tod seiner Frau verantwortlich machen konnte. Schließlich wurden Vater und Tochter doch zu einem Herz und einer Seele. Manchmal half sie ihrem Vater hinter der Bar aus, denn er war auch nicht mehr der Jüngste.
So plauderten sie und gingen durch die Nacht. Eine Einfahrt wurde von einer flackernden Straßenlaterne erhellt.
Unter ihr standen drei Männer. Hier mussten sie entlanggehen, zögerten aber kurz. Es war zu spät. Die Männer hatten sie bereits bemerkt und näherten sich rasch.
Einer war eher hager, trug einen karierten Anzug und schien der Boss zu sein.
„Was ist denn das? Gestern alleine, heute schon mit einem Freund unterwegs.“
Stevenson stellte sich vor sie und drohte:
„Jungs, es wäre besser, wenn ihr abhaut und euch hier nicht wieder blicken lasst. Man kann nie wissen, wem man begegnet.
Also macht keinen Ärger und verschwindet.“
„Wenn hier einer Ärger macht, dann du, Schaumschläger!“
Mit diesen Worten zog er einen Schlagring hervor und deutete den anderen, auf Stevenson loszugehen. Schon sah er sich zwei Schlägern ausgeliefert, die sich gemeinsam auf ihn stürzen. Der im Anzug hielt sich zurück. Sie fingen an, auf Stevenson einzuprügeln. Er hatte ebenfalls den Schläger hervorgeholt und setzte sich verbissen zur Wehr. Es sah schlecht aus. Als er fast schon zu Boden gerungen war, fasste er neue Energie und machte einen Hechtsprung zur Seite. Er riss mit aller Kraft eine etwa halb volle Mülltonne hoch und warf sie dem einen gegen den Schädel. Dieser stürzte schreiend zu Boden und der andere guckte entsetzt aus der Wäsche. Bevor er richtig wusste, was geschehen war, hatte Stevenson mit aller Kraft ausgeholt und traf ihn mit dem Ende des Schlägers übel im Gesicht, wobei der Kiefer zu Bruch ging. Mit zwei Drehungen stürzte auch dieser zu Boden. Er spuckte einen Schwall Blut und zwei Zähne aus.
Die beiden waren nicht im Stande, wieder aufzustehen.
„Du mieser Bastard, ich schneide dich in Scheiben!“
rief der Kerl im Anzug und stürzte mit einem Messer bewaffnet auf Stevenson zu. Dieser wich gerade noch rechtzeitig aus und packte den Gegner am Arm. Er drehte ihn um und schlug die Handfläche immer wieder gegen eine Wand. Irgendwann fiel ihm das Messer herunter. Bevor sich dieser das Messer wieder greifen konnte, riss Stevenson ihn mit den Füßen zu Boden. Wie Kindergartenkinder wälzten sie sich im Dreck und einer versuchte den anderen auszutricksen. Als Stevenson eine Kopfnuss verpasst bekam, musste er den Gegner loslassen. Doch anstatt weiter zu kämpfen, ergriff dieser die Flucht. Bis sich Stevenson aufgerappelt hatte, war er verschwunden und er schaute sich nach Mary um. Diese hatte sich hinter einem Hausvorsprung versteckt und fiel ihm in die Arme. Sie zitterte am ganzen Körper und musste Todesangst ausgestanden haben. Schließlich lösten sie sich voneinander und gingen weiter.
„Komm doch mit zu mir nach Hause, da sehe ich mir die Wunden an.“
In der Tat war Stevenson verletzt. Er blutete aus der Nase und am Kopf. Außerdem hatte er Schmerzen in Brust und Rücken. Die Schläger hatten ganze Arbeit geleistet. Mary erkundigte sich mehrere Male, ob er Schmerzen habe. Er log, als er sagte, sie würden schon nachlassen. Jetzt, wo der Kampf vorbei war, begann der Schmerz erst richtig. Aber er biss die Zähne zusammen und beklagte sich nicht. Einige Minuten später fing sie wieder an von sich zu erzählen: „Mein Vater fand dank Antonio wieder ins Leben zurück und hat sich später gut um mich gekümmert. Er ist der beste Vater, den ich mir wünschen kann. Und Antonio ist für mich fast wie ein Großvater. Er ist voller Güte und hat viel für uns getan.“
Stevenson pflichtete dem bei und meinte, das Sansone ein guter Mensch ist.
„Arbeitest du auch mit Nuncio? Er ist ja ein schlimmer Kerl.
Ich versteh nicht, wie man so launisch sein kann.“
Von Nuncio wusste Stevenson zu erzählen, dass seine Eltern seit seinem siebten Lebensjahr getrennt lebten. Die Scheidung seiner Eltern passte überhaupt nicht in sein Weltbild. Nuncio und sein Vater hatten viel gestritten.
Irgendwann verließ er ihn und lebte sich hier in der Stadt ein. Bis zu seinem 19. Lebensjahr hielt er sich mit Schuhe putzen und Porträts zeichnen über Wasser. Ansonsten lebte er mehr oder weniger auf der Straße. Im Winter war das besonders hart. Über verschiedene Kontakte wurde er Hausmeister des Wohnblocks, indem sich heute Sansones Bar befand.
„Er hat viel in seiner Kindheit durchgemacht. Wenn Sansone ihn nicht aufgenommen hätte, wäre es nicht gut für ihn ausgegangen. Wir alle sind dem Don etwas schuldig. Mir hat er nach dem Börsenkrach eine neue Existenz gegeben, nachdem mein Taxi zerstört wurde.“
Mehr konnte und wollte er auch nicht sagen. Ihm kam das Gesetz der Mafia wieder in den Sinn, dass ihm verbot, mit Außenstehenden über das Wesen der Cosa Nostra zu sprechen. Außerdem wusste er selbst ja auch nicht allzu viel.
Nur so viel, dass er nicht mehr wissen wollte.
Sansone band die Leute so eng an sich, dass er kaum einen Verrat befürchten musste. Er konnte sich der Loyalität seiner Familienmitglieder sicher sein. Die Angst seine Gunst zu verlieren war allgegenwärtig. Man konnte sich nie ganz sicher sein, woran man bei ihm wirklich war. Und der Don ließ einen darüber auch im Unklaren. Stevenson jedenfalls ahnte, dass der Don keinesfalls der Engel war, für den ihn alle hielten. Er konnte auch anders. Er war in der Lage, seine besten Freunde umbringen zu lassen, wenn er es für nötig hielt.
„So, da wären wir, komm doch rein.“
Sie führte ihn zu einem Hauseingang in einer Nebenstraße und bat ihn hinein. Dann ging sie durch ein aufgeräumtes Treppenhaus ganz nach hinten. Marylane wohnte im Erdgeschoss und öffnete die Wohnungstür. Stevenson fühlte sich gleich wohl. Seine Wohnung in Wellington räumte er nie auf, geschweige denn machte er sie regelmäßig sauber. Welch ein einladender und ordentlicher Kontrast war da Marylanes Wohnung. Tisch, Möbel und Wände waren liebevoll mit kitschigen Accessoires dekoriert. In den Fenstern standen Blumen und auf den Schränken saßen verschiedene Stofftiere. Sie legte ihren Mantel ab und bat ihn, sich zu dem Plüschhasen aufs Bett zu setzen.
„Mach dich frei, ich sehe mir deine Wunden mal an.“
Sie ging in die Küche und suchte Verbandszeug zusammen.
Mit einem Tuch und hochprozentigem Schnaps wusch sie seine Wunden aus und verband sie zügig. Dann rieb sie ihm den geschwollenen Rücken mit einer Salbe ein. Sie besaß sogar ein Grammofon und bereitwillig legte sie eine Swingplatte von Duke Ellington auf. Bei den Klängen der Musik verflog der Schmerz rasch. Sie machten sich einen gemütlichen Abend, tranken Wein und ließen ihre Füße über den Parkettfußboden fliegen. Irgendwann ließ sie sich in seine Arme fallen und ließ ihn nicht mehr los. So standen sie da und spürten den Puls des anderen… Minutenlang. Sie begannen einander zu streicheln und zu küssen. Sie ließ sich von ihm die Haarklammern entfernen, öffnete ihr Haar und ließ es die Schultern herabfallen. Schließlich sanken sie zusammen aufs Bett und gaben sich ganz der Leidenschaft hin. Für Stevenson war Mary ein Engel. Wenn er mit jemandem zusammenleben wollte, dann sollte sie dieser Jemand sein. Um um Marys Hand anhalten zu können, brauchte er allerdings Giovannis Erlaubnis. Doch die würde er ihm sicher nicht versagen.
Am Nächsten Tag erzählte Stevenson von diesen Kerlen, die Marylane bedroht hatten. Der Don war erschüttert und ließ sofort auch Silvio und Stevensons Capo Nuncio ins Hinterzimmer kommen. Sansone, sonst ein augenscheinlich ruhiger Mensch, war an diesem Tag von nackter Wut gepackt. So wütend hatte Stevenson ihn noch nie gesehen: „Was fällt diesen Hosenscheißern ein, mein Revier zu beschmutzen? Denken diese Clowns, dass sie in einem verdammten Freizeitpark sind oder was? Wie kann man nur so irre sein, sich mit einem meiner Leute anzulegen? Und obendrein auch noch wehrlose Frauen zu belästigen!“
Silvio mischte sich ein:
„Da sind wir um Haaresbreite einer Katastrophe entgangen.
Die Menschen hier bezahlen uns Schutzgeld, da sollte zumindest in unserem Gebiet die Ordnung gewährleistet sein, für die man uns schließlich bezahlt.“
Dem pflichtete Sansone bei und fragte sich, warum Giovanni nichts gesagt hatte. Er hätte sich dieser Sache doch sofort angenommen. Nuncio meinte: „Sollen wir Mao Lii Thai besuchen? Er kann uns sicher was zu diesen Kerlen sagen.“
Mao Lii Thai war kleiner und unauffälliger Chinese, der seine Ohren scheinbar überall hatte. Wenn irgendwo etwas passierte: Mao wusste davon. Derartige Informationen waren wertvoll. So wertvoll für Sansone, dass er ihm eine kleine Wohnung bezahlte. Vom Unternehmungsdrang getrieben boxte Nuncio in die Luft.
„Diesen Freaks verpassen wir eine Lektion, Boss. Mit meinen eigenen Händen mache ich sie fertig.“
Nackter Hass blitzte in Sansones Augen: „Immer mit der Ruhe, Nuncio. Niemand bringt irgendwen um, klar? Ich will keine Toten auf meinen Straßen verantworten.
Schlagt diesen Typen das Gehirn aus ihren Schädeln und lasst sie in ihrem eigenen Blut liegen. Jeder soll sehen, was passiert, wenn man mein Revier beschmutzt. Die armen Kinder der Stadt sollen über ihre entstellten Gesichter lachen!“
Sansone zündete sich eine Zigarre an und erklärte die Aufgabe des heutigen Tages:
„Also Jungs, besorgt euch ein paar Schläger von Perpone. Ihr werdet nach Chinatown fahren und Mao Lii Thai befragen.
Kennt er das Versteck von diesen Lumpen, lasst euch den Weg erklären und fahrt dahin. Bringt diesen halbstarken Lackaffen Manieren bei und ruft von der nächstgelegenen Telefonzelle aus anonym einen Krankenwagen! Wenn das erledigt ist, kommt ihr sofort wieder her.“
Stevenson und Nuncio erhoben sich und ließen sich von Perpone die Schläger und vorsichtshalber noch zwei 1911er Colts geben. Sansone hatte ausdrücklich den Gebrauch von Schusswaffen untersagt. Aber wenn die Störenfriede auch bewaffnet waren, sah man selbst mit dem Schläger eines Ligaspielers alt aus. Stevenson fuhr durch eine späte und verregnete Nacht. Eine steile Straße hoch und dann rechts auf den großen Platz. Trotz des Regens stand Mao umringt von ein paar Männern auf dem leeren Marktplatz. Es waren Kontaktmänner, die Mao erst beruhigen musste, als sie den weinroten Falconer F8 vorfahren sahen.
Auf diesen kleinwüchsigen Chinesen war wie immer Verlass.
Er wusste Bescheid. Es hatten sich schon einige Leute beschwert und auch der Aufenthaltsort der Rowdies war schon zu ihm durchgesickert. Die Polizei unternahm nichts gegen die Raubzüge dieser Bande. Denn der Sohn des Stadtrates, John Oregan, war der Anführer, so hieß es. Er glaubte wohl, dass dies seine Stadt sei und er hier machen konnte, was er wollte. Mao berichtete weiter, dass es sich bei ihrem Treffpunkt um eine leer stehende Fabrikhalle im Works – Quarter handelte. Sie bedankten sich und fuhren los.
Das Industriegebiet war in desaströsem Zustand. Viele Fabriken und Lagerhallen waren Vandalismus und Verfall preisgegeben. Das Works – Quarter war nachts eine der gefährlichsten Gebiete der Stadt, was die Neuansiedlung von Unternehmen erschwerte. Wenigstens stieg die Zahl der Arbeitslosen nicht mehr. Die Krise hatte ihren Scheitelpunkt erreicht. Seit zwei Monaten ging die Zahl der Menschen ohne Arbeit sogar wieder leicht zurück, auch wenn davon noch nicht viel zu sehen war. Mao hatte ihnen gesagt, dass sich diese Rüpel in der alten Gießerei aufhielten.
Das war ein Hallenkomplex aus sechs großen Gebäuden.
Der Verwaltungstrakt war im Jahre 1929 fast völlig ausgebrannt. Vom Dachstuhl war nach dem Feuer nicht viel übriggeblieben. Traurig sahen die schwarzen Fensterlöcher aus, die an eine glorreiche Zeit in Wachstum und Wohlstand erinnerten. Es goss in Strömen und ein Blitz hellte den Straßenzug auf. Das Verwaltungsgebäude der Gießerei zog sich die ganze Straße über mehr als 400 Meter hin. Das Gelände umfasste ein ganzes Karree, welches von vier Straßenzügen umrahmt wurde. Das ausgebrannte Verwaltungsgebäude nahm die gesamte Westseite in Anspruch. Bog man von dieser Straße nach links ab, stieß man auf einen großen Torbogen. Oben war mittig eine Uhr angebracht. Es mutete wie ein Grenzübergang an. Vier Schranken verschlossen das Gelände. Man konnte sich leicht vorstellen, was hier für ein Betrieb gewesen sein musste, wenn eine derart große Ein – und Ausfahrt benötigt wurde. Die Zeiger der Uhr standen auf um sechs. Um diese Zeit hatte die Tagschicht Feierabend gehabt. Man hatte sie zum Ende einer Schicht abgeklemmt und nie wieder angestellt, als ob die Zeit hier für immer stehen geblieben wäre. Der Rest des Geländes war durch eine etwa 2,50 Meter hohe Mauer von der Außenwelt abgetrennt. Lediglich ein Gleisanschluss am Nordende unterbrach sie.
Als Stevenson das Auto einmal um das Gelände gelenkt hatte, parkten sie gegenüber vom Haupteingang. Sie schwangen sich über eine der Schranken und sahen sich drei Lagerhallen, einem ebenso großen Lokschuppen und einem Gießwerk gegenüber. Dank des durch den Regen verursachten Geräuschpegels konnten sie nicht gehört werden. Aber auch sie hörten abgesehen vom Rauschen des Regens nichts. Es brannte nirgendwo Licht. Im Verwaltungsgebäude war mit Sicherheit niemand. Dort lief das Wasser in Strömen von den Wänden. Wo sollten sie bloß anfangen zu suchen? Das ganze Areal maß etwa 600 mal 400 Meter und zwischen den großen Hauptgebäuden befanden sich noch unzählige kleinere Garagen, Schuppen und Lagerräume. Alles war außerordentlich dicht bebaut.
„Pass auf, wir müssen uns nach Autos umsehen. Wenn wir die finden, wissen wir, in welchem Gebäude wir weitersuchen müssen.“
schlug Nuncio vor. Sie teilten sich auf und trafen sich zehn Minuten später wieder an der Schranke. Es waren nicht die Autos, sondern ein Feuerschein im Inneren der Gusshalle, die den Aufenthaltsort der Rowdys verriet. 30 mal 250 Meter maß die Halle etwa. Drei gleich hohe Schornsteine ragten in den nächtlichen Himmel. Der Personaleingang war zugemauert worden. Die LKW-Laderampe war durch Rolltore verriegelt. Es gab noch das große, hölzerne Flügeltor für Dampfrösser am anderen Ende der Halle.
Dieses konnte leicht aufgebrochen werden. Stevenson übte sich in seinem Fach und öffnete die Tür nach nicht einmal dreißig Sekunden. Nuncio schob sie auf. Das ganze über fünf Meter hohe Tor konnte man nur von Innen öffnen.
Stevenson hatte lediglich eine Tür im Tor geknackt. Aber immerhin, sie waren drin und der Beweis, dass sie richtig waren stand vor ihrer Nase. Da parkten vier Autos unterschiedlicher Herkunft und Baujahre. Ein brauner F6, ein Bolt-Truck mit Ladefläche und ein Ford, vielleicht drei oder vier Jahre alt. Diesen Autos (und allen anderen jener Zeit) sah man die Verwandtschaft zur Kutsche an. Die Räder an der Außenkarosserie mit Kotflügeln umrahmt, vorne der Motorraum mit senkrecht stehendem Kühlergrill.
Der vierte Wagen jedoch schien mit all diesen Konventionen zu brechen. Es musste Teil einer Testreihe sein. Dieser Wagen schien aus einem einzigen Guss zu bestehen. Es handelte sich um ein Coupé mit dem Namen Chrysler Airflow. Sie hatten den ersten Wagen mit aerodynamisch geformter Karosserie vor sich. Dieses Fahrzeug wirkte wie von einem anderen Stern und gehörte mit Sicherheit dem Anführer der Bande. Sie ließen die Autos stehen und machten sich auf die Suche. Durch ein angelehntes Eisentor bemerkten sie den Lichtschimmer, nach dem sie suchten. Nuncio öffnete es vorsichtig und schlüpfte hinein. Alles stand voller Gerümpel. Man hatte sich von irgendwoher ein Ölfass besorgt und in Brand gesteckt. Das war eine gute Licht – und Wärmequelle. Es stand nur eine Person am Feuer. Mit dem konnte es Nuncio locker aufnehmen. Zielstrebig kam er aus seiner Deckung hervor:
„He Freundchen, Don Sansone lässt schön grüßen!“
Erst war der am Feuer erschrocken, aber als er Nuncio allein kommen sah, schnappte er sich einen Schlagring und beide Männer gingen aufeinander los. Gerade wollte er ausholen, da zog Stevenson ihm so derb eine über den Rücken, dass er schreiend zusammenbrach. Doch schon konnte man mehrere Schritte vernehmen, die sich schnell näherten. Eine Lagertür wurde aufgestoßen und ein Mann rief:
„James, was ist los?“
Dieses Mal richtete Stevenson Sansones Grüße aus und schon schlugen die beiden Männer auf den entsetzten Kerl ein. Er war zäh und es dauerte eine Weile, bis sie ihn zu zweit niedergerungen hatten. Der Überraschungseffekt war jetzt vorbei. Nuncio und Stevenson sahen sich fünf bis an die Zähne bewaffneten Männern gegenüber. Schusswaffen waren zu ihrem Glück nicht im Spiel. Sie teilten sich auf.
Stevenson rannte den Gang weiter hinein, während Nuncio sich Richtung brennendes Benzinfass begab. Nuncio sah, dass ihm drei Kerle mit Schlagringen, und Messern bewaffnet gefolgt waren. Er warf ihnen einen metallenen Gegenstand entgegen und traf einen am Knie, der sofort zu Boden stürzte. Der Zweite wurde von ihm gepackt und herumgeschleudert. Fast schon in Panik versuchte er irgendetwas zu fassen zu bekommen, um Nuncio wieder abzuschütteln. Unglücklicherweise stieß er das Benzinfass um, so dass sich das brennende Benzin über die Füße des Dritten ergoss. Die Hitze breitete sich fast schon explosionsartig aus. Er gab furchtbare Schreie von sich. Die Kleidung fing Feuer, der Mann stürzte zu Boden, wälzte sich aber nur im brennenden Benzin. Gerade noch rechtzeitig rettete sich Nuncio aus der größer werdenden Benzinlache. Das war keine kleine Strafaktion mehr. Heute starben hier Menschen. Mindestens drei Tote waren zu diesem Zeitpunkt bereits zu beklagen, aber Nuncio verdrängte dieses grauenhafte Bild der brennenden Personen. Mit Schrecken vernahm er einen Schuss. Es war kein 1911er Colt. Also hatte Stevenson ihn nicht abgegeben.
Sofort rannte er zurück durch die Tür und eine Blechtreppe hinauf. Er betrat ein Zimmer, welches nur mit ein paar Stühlen und einem Tisch möbliert war. Von hier waren die fünf Kerle gekommen. Jetzt fand er jedoch den Raum leer vor. Stevenson war ja den Gang weiter nach hinten gelaufen. Zu dumm, dass Nuncio kaum die Hand vor Augen erkennen konnte. Die Stichflammen hatten ihn geblendet. Nur Umrisse erkennend wandelte er fast blind in einen weiteren Hallenabschnitt. Hier standen die großen Hochöfen, die in den drei Schornsteinen endeten.
Zweifellos war das der größte umbaute Raum auf diesem Areal. Ein Blitz kam Nuncio zu Hilfe und erhellte für den Bruchteil einer Sekunde das Schmelzwerk. Er sah eine Person auf dem Boden liegen, auf den mehrere Männer eintraten, sofort machte Nuncio einen Satz nach vorn und fegte zwei Männer mit dem Baseballschläger um. Es ertönten Schreie. Dann wieder ein Schuss. Es schien sich um einen Colt Detective Special zu handeln, wie ihn Polizisten als Standardwaffe mitführten. Ob die Polizei hier etwa mitmischte? Stevenson hatte zwei weitere Kerle zu Boden geprügelt, aber er sah auf den ersten Blick im Gesicht übel zugerichtet aus.
„Steve, woher kommen die Schüsse?“
„Ich weiß es nicht, irgendwo von da oben, denke dich.“
Er deutete auf den mittleren der drei Hochöfen. Eine Eisentreppe führte hinauf. Nuncio schlich leise aber flink wie eine Gazelle nach oben. Er fand sich auf einer ringförmigen Plattform wieder und abermals knallte es.
Dieses Mal hörte er den Aufprall der Kugel. Der Schütze schoss, warum auch immer, in Richtung Dach. Der Schuss knallte weiter über ihm, also setzte er seinen Weg nach oben fort. Das Metall der Griffe, an denen er sich hoch hangelte, war ölig und kalt. Ein Anflug von Höhenangst beschlich ihn. Ein weiterer Schuss machte deutlich, dass er auf der richtigen Fährte war. Es knallte jetzt fast schon neben ihm.
Noch leiser bewegte er sich nach oben und fand sich direkt unter dem Dach wieder. Er war von vielen Metallträgern umgeben und hatte bis zum Dach noch etwa einen halben Meter Luft. Der ganze Kesseldeckel war gewölbt. Am Rand saß der Schütze und lud seinen Colt nach. Dann ballerte er zweimal in die Dachkonstruktion über ihm. Es waren schon etliche Löcher darin und es tropfte unablässig Regenwasser auf den Kessel. Nuncio brummte:
„Wie willst du mich denn im Dunkeln treffen, du Affe?“
Dann schlug er zu. Es schien ein junger Bursche von vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahren zu sein, der sich hier oben versteckt hatte. Er gab einen markerschütternden Schrei von sich und fiel, ohne dass es Nuncio wollte, 25 Meter in die Tiefe. Sogleich rief Stevenson von unten: „Nuncio, bist du Ok?“
„Ja, bin ich, mir ist nichts weiter passiert.“
„Ich dachte für einen Moment, du hättest gerade den Abgang gemacht.“
Mit zitternden Knien begab sich Nuncio nach unten. Er war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Sonst war die Halle leer. Auch wenn das Auto vom Stadtratssohn hier stand, hatten sie diesen noch nicht angetroffen. Als er unten war, roch Nuncio das Feuer:
„Das Benzinfass! Steve, scheiße, wir müssen hier raus!“
Sofort rannten die beiden in die Richtung aus der sie gekommen waren. Die Rauchschwaden, die sich ihnen entgegen wallten, verrieten, dass nicht nur das Fass in Flammen stand. Binnen nicht einmal drei Minuten war die ganze Vorhalle ein riesiges Inferno geworden. Anders als im Kesselraum war das Dach hier nicht mit Aluminiumplatten verkleidet, sondern bestand aus geteertem Holz.
Explosionsartig hatte sich das Feuer über den geteerten Dachstuhl ausgebreitet. Als erstes gingen die Fenster in Dachnähe aufgrund der gewaltigen Hitze zu Bruch. Das Feuer grollte laut. Es war eine Frage von Sekunden, bis das Dach zusammenbrechen würde. Einzelne Bretter lösten sich und fielen wie qualmende Aschestücke zu Boden. Die Halle in Richtung Ausgang zu passieren war lebensgefährlich, zumal es überall krachte und zischte. Der ganze Prassel, der herumstand, Diebesgut, Lebensmittel, Autozubehör, stand lichterloh in Flammen. Von den drei Kerlen war nichts zu sehen. Nuncio konnte nur ganz kurz das Benzinfass inmitten der flirrenden Hitze erkennen. Stevenson starrte unentwegt in das Feuer über ihm. Es sah beängstigend aus.
So musste die Hölle aussehen. Man merkte den Sog des Feuers nach oben. Das Gebäude wurde zu einem Schornstein. Von unten versorgte es sich mit Sauerstoff und der Rauch zog nach oben ab. Dazu kam der Regen, der auf das Feuer fiel und sofort verdampfte. Dieser Effekt verlieh dem Brand etwas Übernatürliches. Als ob Gott sie strafen wollte für all das Leid, dass sie in Sansones Namen über die Stadt gebracht hatten. Wieder eine Explosion. Mit Entsetzen bemerkten die beiden, dass nun auch das Dach in diesem Verbindungsgang hinter ihnen in Flammen stand.
Nuncio brüllte Stevenson an:
„Wir müssen raus, ich habe keine Lust, gegrillt zu werden, los!“
Vom Mut der Verzweiflung getrieben rannte Nuncio wie ein angestochener Hund durch die Halle Richtung Stahltor - es glühte. Stevenson aber konnte seine Beine nicht bewegen.
Zu erschüttert war er über das, was er sah. Er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Gerade hatte er sich überwunden und wollte sich Nuncio folgend in Bewegung setzen, da senkte sich der Dachstuhl und Mauerteile fielen zu Boden. Es grollte, knackte und donnerte, Nuncio aber war noch nicht am Ausgang.
„Das Dach bricht ein!“
rief er so laut er konnte. Sein Gesicht schmerzte. Alles war voller Platzwunden und Blut. Jetzt kam die Hitze der Feuersbrunst dazu. Die Schmerzen nahm er erst jetzt, als er sich abwandte, richtig wahr und fing an zu schreien. Er machte einen Sprung zur Seite und eine Wolke aus glühender Asche und Rauch umgab ihn. Der Boden erzitterte unter der Last des herabstürzenden Daches. Die Luft war so heiß, dass man sie nicht einatmen konnte. Für einen Moment dachte er, er sei tot. Alles um ihn herum bebte und er fing an zu weinen. Nuncio hatte es mit Sicherheit nicht geschafft. Wie in Trance erlebte er die nächsten zwei Minuten. Sein Leben zog an ihm vorbei und er bereute es, damals bei Sansone eingestiegen zu sein.
Panische Angst über die Folgen wurden in ihm groß. Was würde der Don sagen, wenn er überlebt hatte, Nuncio aber nicht? Er erhob sich langsam und spähte durch die Tür. Das Dach war komplett heruntergekommen. Es lag zerschellt auf dem Hallenboden und wurde durch den starken Regen langsam gelöscht. Die Stahltore hingen hilflos schief in den Wänden, sie hatten sich in der Hitze völlig verzogen. Über ihm brannte es noch immer. Ein herunterfallendes Brett, welches ihn nur knapp verfehlte, holte ihn zurück in die Realität. Wenigstens er musste hier raus, wenn es Nuncio schon nicht geschafft hatte. Vor ihm glühte das Dach weiter und war unpassierbar. Er kehrte um und lief in den Kesselraum zurück. Der war voller Rauch. Aber das Dach war hier noch intakt. Irgendwo am anderen Ende mussten die LKW-Ladetore sein. Er stolperte keuchend und hustend, blind durch die Dunkelheit. Endlich war er am Ende der Halle angekommen und fand, dem Luftzug folgend eine Tür. Er fand ein staubiges Lager voller leerer Holzregale vor. Die Tore waren verschlossen. Über eine Kette ließen sie sich öffnen, doch waren sie noch anderweitig verriegelt. Nun spielte die Regel, keine Schusswaffen zu gebrauchen, auch keine Rolle mehr. Er zückte seinen Colt und schoss vier Kugeln auf das Schloss ab. Die Tür sprang blitzartig auf und kalte, regnerische Nachtluft wallte ihm entgegen. Stevenson hatte es geschafft.
Hinter ihm donnerte es in der Halle. Aber das war ihm jetzt egal. Das Leben hatte ihn wieder und er sendete ein Stoßgebet zum Himmel. Was aber war mit Nuncio? Er machte sich sogleich auf den Weg, zum Nordende der Halle. Da stand er nicht. Also hatte ihn das Dach doch erwischt. Er sackte zusammen. Warum musste ihm das passieren? Er entrang seiner Kehle ein lautes „Warum!“ aber sogleich übertönte das Grollen des Donners seine Stimme.
Der Regen hatte etwas nachgelassen. Dichte Rauchschwaden drangen weiter hervor, aber die Flammen und ihr Schein waren bald nicht mehr auszumachen.
Plötzlich vernahm Stevenson hinter sich Schritte. Er war verstört. Wer konnte das sein? Die Feuerwehr, die Polizei, oder Nuncio? Er drehte sich abrupt um und sah zwei Männer auf sich zu rennen.
„Da ist noch einer von der Mafia! Schieß ihn um, John!“
Bevor er reagieren konnte, bekam er eine Kugel in den Unterleib und sackte schmerzerfüllt zusammen. Die Männer rannten in Richtung der brennenden Halle und stiegen in eines der Autos. Und plötzlich, wie aus heiterem Himmel stand Nuncio vor ihm:
„Steve, bist du Ok? Verdammt, du blutest ja ganz übel! Naja, wenigstens hast du es aus der Halle geschafft. Los, Mann! Wir müssen hinterher.“
John und der andere hatten sich in den neuen Chrysler gesetzt und hätten beinahe noch Nuncio über den Haufen gefahren. Stevenson rappelte sich auf. Er konnte gehen. Die Schusswunde entpuppte sich vorerst als Streifschuss, ohne dass es Knochen, oder gar lebenswichtige Organe getroffen hätte. Er konnte vor Schmerz kaum noch. Aber Wut und Adrenalin trieben ihn an, Freude, das Nuncio nicht tot, sondern am Leben war. Ein Hochgefühl, dass er selber noch lebte. All das verband sich zu einem Gefühl grenzenloser Macht und setzte noch einmal ungeahnte Kräfte frei. Der Regen kühlte das geschwollene und verbrannte Gesicht. Seine Augenbrauen waren versengt und seine Frisur war auch nicht mehr vollständig. Zu groß war die Hitze gewesen. Erfassen konnte er das Erlebte sowieso noch nicht. Er rannte Nuncio hinterher und zum Wagen.
Der Chrysler hatte eine Schranke durchbrochen und schon einen großen Vorsprung herausgefahren. Ob sie ihn noch einholen würden war fraglich. Aber dennoch peitschte Stevenson den F8 nach vorn.
„Fühlst du dich in Ordnung, kannst du fahren?“
fragte Nuncio. Stevenson nickte und drosch die Schaltung in den zweiten Gang. Er zog den Wagen um eine Kurve und stellte sich auf eine Verfolgungsjagd ein, die sein Können einmal mehr unter Beweis stellen würde. Er konnte gerade noch die Gischt des Wagens vor ihm erkennen und setzte nach, wieder um eine enge Kurve. Das Heck brach aus. Fluchend lenkte Stevenson gegen, doch er konnte den Wagen nicht mehr abfangen. Man hatte die Straßen seit einem Jahr nicht gesäubert. Durch den Dreck verlor er die Kontrolle. Dreimal drehte sich der Falconer um sich selbst und kam, glücklicherweise ohne etwas gerammt zu haben, zum Stehen. Sie mussten sich erst einmal orientieren. Von wo waren sie gekommen? Hatten sie den Wagen tatsächlich verloren? Den Motor hatte es abgewürgt, Regen fiel auf die Haube. Doch im Scheinwerferlicht erkannten sie das Auto, dem sie nachgesetzt hatten. Der Chrysler war in der Kurve auch ins Schleudern geraten und hatte sich bis zur Unkenntlichkeit um einen Laternenmast gewickelt.
Stevenson und Nuncio näherten sich dem traurigen Rest des völlig zerstören, futuristischen Wagens. Der Fahrer hatte eine dicke Platzwunde am Kopf. Blut floss ihm ins Gesicht aber er lebte. Es war jener Typ im Anzug, der Marylane bedroht hatte. Stevenson zückte seinen Colt und richtete ihn auf den wehrlosen, jungen Mann. Seine Hand zitterte, denn er wusste nicht, ob es das wert war. Hatte dieser nicht genug gelitten? Alle seine Freunde waren tot und er selbst hatte seinen neuen Wagen zu Schrott gefahren. Der Beifahrer war offenbar beim Aufprall getötet worden. Ihn hatte es zwischen Laternenmast und Tür eingeklemmt. War das alles nicht genug Rache für einen jungen Burschen, der eigentlich nichts weiter gemacht hatte? Stevenson zweifelte, ob es das Richtige war. Es überkam ihn in diesem Moment und eine Träne rollte über seine Wange. Er hatte all das Leid dieser Nacht vor Augen. Die mörderische Gewalt, die sinnlose Zerstörung. Er war einfach nicht im Stande, ihn zu erschießen.
„Nun drück schon ab! Hast du Mitleid mit ihm oder was?“
Nuncio entwand ihm die Waffe und ohne mit der Wimper zu zucken jagte er dem Fahrer drei Kugeln in den Kopf.
Wieder fragte Stevenson sich, was seine Mutter, oder Mary von ihm denken würden, wenn sie ihn so sähen.
„Was stehst du dumm herum und guckst blöd aus der Wäsche?
Denk dran, wer gestern Mary flachlegen wollte.“
Offenbar hatte Nuncio den Bezug zur Realität verloren.
John hatte Mary zwar belästigt, sie vielleicht sogar genötigt, aber er hatte sie ganz sicher nicht vergewaltigt. Genau das aber war für Nuncio eine Tatsache. Er konnte sich selbst anlügen, ohne rot zu werden. Stevenson besaß diese Eigenschaft nicht und so bekümmerte es ihn in seinem Herzen. Er musste die Fassung wahren und cool bleiben, sonst würde er der Nächste mit einer Kugel im Kopf sein.
„Der andere ist über den Jordan. Komm jetzt, wir müssen dich zum Arzt bringen und dann Sansone berichten.“
Völlig neben sich stehend begriff er nicht, was Nuncio von ihm wollte. Er starrte immer noch auf die Schusswunden des Fahrers und bewegte sich nicht von der Stelle.
„Hör mal, ich weiß, dass es hart für dich ist. Aber du bist jetzt seit anderthalb Jahren dabei. Gewöhn dich langsam dran.“
„Du verlangst von mir, dass ich mich ans Morden und an permanente Angst um das eigene Leben gewöhne?“
Nuncio brachte das „Ja“ derart trocken heraus, dass es Stevenson gänzlich die Sprache verschlug. Aber was sollte er tun? Er durfte nicht über die Stränge schlagen oder aussteigen. Also kooperierte er weiter und sein Leben als Mafioso nahm seinen Lauf. Er beherzigte Nuncios Rat: Er gewöhnte sich dran.
Drei Wochen später, nachts gegen elf, näherte sich ein Horch der Bar von Massimo und bog in den Hinterhof ein.
Es war vier Tage vor Heiligabend. Ein gut gekleideter Mann stieg aus und wurde zum Don gelassen. Er war groß von Statur und in schwarz gekleidet. Er schien offensichtlich reich zu sein, obwohl er ohne Chauffeur oder Leibwache gekommen war. Er betrat das Hinterzimmer und die Gebrüder Massimo begrüßten ihn. Hinter einem wuchtigen Schreibtisch pflegte Carlo wie ein Staatsmann zu sitzen, wenn er Gäste empfing. In weißem Anzug und mit Zigarre im Mund musterte er seinen Gast. Seine mangelnde Menschenkenntnis verhinderte, dass er den Zuhälter einschätzen konnte. Daher führte Benito das Gespräch. Es handelte sich um Norman Switch, den Besitzer des landesweit bekannten Biagetto-Bordells in Downtown. Er hatte bisher immer brav sein Schutzgeld bei Sansone bezahlt. Eigentlich hatte er Sansone viel zu verdanken.
Einerseits zahlende Kundschaft, wirtschaftliche und juristische Sicherheit. Zum Anderen hätte er ohne Sansone seinen Laden während der Wirtschaftskrise dichtmachen können. Natürlich interessierten die beiden, warum er ihnen das erzählte. Switch atmete tief durch und kam endlich zur Sache. Er fragte, ob sie von dem Brand im Works – Quarter gehört hatten. Das traf zu. Der Sohn des Stadtrates war bei einer anschließenden Verfolgungsjagd umgebracht worden.
Er war ein gern gesehener Kunde bei ihm. Aber das war nicht der einzige Grund seines Hierseins. Seit einiger Zeit erhob Sansone in immer häufigeren Abständen die Schutzgeldforderungen. Und gerade die Bordelle nahm er aus. Sansone glaubte wohl, dass er die Kuh immer weiter melken könnte, aber das Maß war wirklich voll. Benito war positiv erstaunt, denn das bedeutete: In der Sansone-Familie wurde das Geld knapp. Die Rechnung, die sein Bruder Carlo vor gut anderthalb Jahren aufgestellt hatte, schien jetzt endlich doch aufzugehen. Dieser Mann war der Beweis dafür, dass Sansones Organisation gewaltig unter Druck stand. Hinzu kam, dass bei dem Brand auch zwei Zuhälter des Biagetto – Bordells getötet wurden. Sie waren mit dem Stadtratssohn auf du und du. Das waren die Gründe für Norman Switch, die Seiten zu wechseln. Er bat die Brüder um Hilfe. Wenn er nämlich Sansones Schutzgeldeintreiber vor die Tür setzte, würde Antonio dasselbe machen, wie 1930 mit Bill Customs Motel vor der Stadt. Daher bot er den Massimos folgendes Geschäft an:
Den monatlichen Schutzgeldsatz, den Sansone bis zuletzt haben wollte und im Gegenzug ein paar Männer, die im Bordell rund um die Uhr für Ordnung sorgen sollten. Das dieses Angebot ungewöhnlich war, erkannte selbst Carlo. Es war bis dato noch kein einziges Mal vorgekommen, dass ein Ladenbesitzer zu ihm überlief. In der Hoffnung, dass es nicht der einzige bleiben würde, der freiwillig das Lager wechselte, gestand Benito dem Biagetto-Bordell einen Schutz von fünf Männern zu.