Читать книгу Der Vermisste vom Vierwaldstättersee - Martin Widmer - Страница 10
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ОглавлениеMattmann hatte das schönste Zimmer im «Gyrenbad» bekommen, das Eckzimmer mit Morgensonne und mit Blick über das Tal. Elise Manz, die alte Wirtin, hatte sich gefreut, als er vor ein paar Wochen angerufen und bei ihr gebucht hatte. Sie würde ihm auch dieses Jahr wieder jeden Wunsch von den Lippen ablesen.
Beim Erwachen hörte er durch das offene Fenster Stimmen, leises Geklapper von Geschirr und das Knirschen von Kies. Das Frühstück wird unten im Garten aufgetragen, dachte er.
Bald sass er an einem der dunkelgrünen Gartentische, vor sich einen Teller mit zwei Spiegeleiern und zwei Stück Käse. Mit dem dunklen Brot aus dem Holzofen tunkte er das Eigelb auf.
Auch während seiner Ferien verschaffte er sich einen Überblick über die Newslage. Neben dem Teller lag sein iPad, doch in der Morgensonne kam er damit nicht weit. Er stand auf, ging an den von niedrigen Buchshecken eingefassten Blumenbeeten vorbei in die Gaststube und steuerte auf Elise Manz zu, die hinter der Theke arbeitete.
«Sind die Zeitungen von heute schon da?», fragte er.
«Meine Tochter kommt jeden Moment mit der Post aus dem Dorf.»
«Und gerne noch einen Kaffee.»
«Mit Milch?», fragte sie.
«Wie immer, zum Frühstück. Und wenn möglich einen Kaffee aus der Maschine. Filterkaffee bekomme ich in Schweden zur Genüge.» Er schaute zu, wie sie sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte. «Noch immer Frühschicht?», wollte er wissen.
«Solange ich aufstehen mag, will ich etwas zu tun haben», sagte sie. «Seit die Jungen den Betrieb übernommen haben, helfe ich gäng no chli.» Auch nach mehr als sechzig Jahren im Zürcher Oberland sprach sie noch immer ein breites Berndeutsch. Als junge Frau war sie aus dem Berner Oberland ins Tösstal gekommen, wie Mattmann bei seinem letzten Aufenthalt erfahren hatte. Sie habe auf einem Bauernhof gearbeitet und auf einer Tanzveranstaltung den Badewirt kennengelernt. Seitdem habe sie Tag und Nacht im «Gyrenbad» verbracht.
Sie nahm ein Tablett, stellte darauf die Tasse mit dem Kaffee und die warme Milch in einem silbernen Kännchen, damit sie nicht kalt würde, da kam ihre Tochter mit dem «Tössthaler» und dem «Zürcher Oberländer».
«Druckfrisch», sagte Elise Manz und bedeutete Mattmann, die Zeitungen mitzunehmen. Das Tablett in beiden Händen, ging sie mit kleinen Schritten voraus in den Garten. Am Tisch schenkte sie ihm ein und wandte sich zum Nebentisch.
Nach einer Weile kehrte sie zurück und deutete auf die offene Zeitung. «Interessante Neuigkeiten?»
«Immer», sagte Mattmann.
«Steht auch etwas Neues über den Tod von Lina Brunner drin?»
«Lina Brunner?»
«Die Frau vom Chalet.» Elise Manz hielt sich mit beiden Händen am Tisch fest. «Es ist einfach furchtbar.»
«Was ist geschehen?»
«Den alten Brunner haben sie …», sagte sie und fuhr stockend fort, «… festgenommen. Er wird verdächtigt …» Sie schüttelte den Kopf. «Armer Alois, armer Alois», wiederholte sie und ging vom Tisch. Nach wenigen Schritten drehte sie sich nochmals um. «Heute Nachmittag ist die Beerdigung.»
Mattmann fand im «Tössthaler» die Medienmitteilung des Polizeisprechers, eine einspaltige, umständlich formulierte Notiz zum Stand der Ermittlungen: «Dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verlängerung der Untersuchungshaft für Alois Brunner wurde entsprochen sowie das Ansuchen des Beschuldigten, an der Beerdigung seiner Frau teilnehmen zu können, bewilligt.» Mattmann hielt inne. Er musste Elise Manz an die Beerdigung begleiten. Er wollte Brunner sehen.
Karin Manz anerbot sich, ihre Mutter und Mattmann am Nachmittag zur Kirche zu fahren. An der Abdankung teilnehmen konnte die junge Wirtin nicht, sie musste das Leidmahl vorbereiten, das im «Gyrenbad» stattfinden sollte.
Mattmann nahm hinten im Auto Platz. Steil führte die Strasse durch den Wald hinunter nach Turbenthal. Karin Manz kannte jede Kurve und bremste selten. Mattmann dachte an Brunner. Vor einem Jahr hatte er einen Blick in dessen Werkstattschuppen geworfen. Der alte Mann sammelte alles, was er glaubte, einmal brauchen zu können. In halbierten Milchverpackungen bewahrte er verrostete Schrauben und Nägel auf. Abgebrochene Messerklingen hingen zwischen Stechbeiteln und Hämmern an der Wand.
Karin und Elise Manz waren in ein Gespräch vertieft, von dem Mattmann auf dem Rücksitz nur wenig mitbekam. Als er das Wort «Polizei» aufschnappte, spitzte er die Ohren.
«Vielleicht hätte ich auch zur Polizei gehen sollen», sagte Karin Manz.
«Wie kommst du darauf?», fragte ihre Mutter. «Hast du genug vom Wirten?»
«Jeden Abend bis Mitternacht in der Gaststube. Das ist doch kein Leben.»
«Sei froh, dass es so gut läuft. Unsere Küche hat einen guten Ruf bei den Einheimischen und bei den Städtern. Dank jahrelanger harter Arbeit.»
«Das hatte seinen Preis. Wir Kinder sind in der Gaststube aufgewachsen.»
«So hast du das Wirten von Kindsbeinen an mitbekommen. Spielst du wirklich mit dem Gedanken, das alles aufzugeben?»
Karin Manz konzentrierte sich auf die Strasse.
«Es kann doch nicht dein Ernst sein, zur Polizei zu gehen, um dich Tag und Nacht mit Verbrechern herumzuschlagen?», fragte Elise Manz.
«Interessant wäre das bestimmt. Rahel Reinhart macht das, ich kenne sie, die Kommissarin, die im Fall Brunner ermittelt.»
«Von der man in der Zeitung liest?»
«Genau.»
Mattmann beugte sich nach vorne und fragte: «Rahel Reinhart, die in Weisslingen aufgewachsen ist?»
«Ja», antwortete Karin Manz.
Würde er Rahel erkennen, fragte sich Mattmann, wenn sie plötzlich vor ihm stünde?
Karin Manz bog vor der Kirche auf den Parkplatz ein. Als Mattmann aussteigen wollte, gab ihm Elise Manz ein Zeichen, sitzen zu bleiben. Sie beobachtete, wie ein Auto nach dem anderen auf dem grossen Kiesplatz parkierte. «Nach all dem, was in der Zeitung gestanden ist, gibt das eine volle Kirche», bemerkte sie zu ihrer Tochter. «Es war richtig, den grossen, langen Tisch im Saal zu decken.» Dann öffnete sie die Wagentüre.
Mattmann gab Elise Manz seinen Arm, langsam und gebeugt ging sie an seiner Seite über die Strasse und über den gepflästerten Vorplatz zur Kirche. Die Glocken übertönten alles, dass sie nicht miteinander sprechen konnten. Sie waren noch zu früh und warteten in der Nähe des Eingangs. Der Platz füllte sich mit der Trauergemeinde, und langsam wurde das Geläute leiser. Da fühlte Mattmann einen Ruck an seinem Arm, und Elise Manz sagte mit lauter Stimme: «Da kommt Brunner.» Sie zeigte auf den alten Mann, eng begleitet von einem Mann und einer Frau.
«Seine beiden Kinder?», fragte Mattmann, doch sie konnte ihn nicht verstehen.
Nun erkannte er Rahel. Sie hatte ihre Haare streng nach hinten gekämmt und zu einem Rossschwanz zusammengebunden. Früher hatte sie das dunkelbraune Haar immer offen getragen. Rahel und der Polizist schoben Brunner leicht vor sich her und verschwanden durch das Kirchenportal. Mattmann und Elise Manz reihten sich in die Schlange der Trauergäste ein. Als sie in die Kirche traten, waren die hintersten Bänke bereits besetzt. Sie setzten sich in eine der mittleren Reihen, an den Rand, sodass sie gut nach vorne sehen konnten. Elise Manz streckte ihren Hals, um einen Blick auf die erste Bank werfen zu können. Dort sass Brunner, neben ihm nun eine andere Frau.
«Das ist seine Tochter, die Susanne», sagte Elise Manz hinter vorgehaltener Hand zu Mattmann. «Sie war es, die ihre Mutter hinter dem Chalet gefunden hat.»
Keine Kränze, keine Bänder mit Abschiedsgrüssen in goldenen Lettern. Verloren brannte eine grosse weisse Kerze im Chor. Der Pfarrer verlas einen kurzen Lebenslauf von Lina Brunner, ohne ein Wort zu ihrem Tod zu sagen, dann setzte er zur Predigt an.
Mattmanns Augen wanderten abwesend über die weiss getünchten Kirchenwände. Er suchte nach dem ersten Satz für den Artikel über das Aussterben des Aals, den er der Redaktion schon versprochen hatte. War der richtige Einstieg gefunden, konnte er den Text jeweils in einem Zug schreiben. Doch wo sollte er beginnen? Vielleicht bei der Wanderung der Aallarven von der Sargassosee bis in die Flüsse und Seen Skandinaviens. Oder wie sie sich dann Jahre, ja Jahrzehnte vollfrassen und kaum bewegten, bis sie plötzlich aufbrachen und die Tausende von Kilometern lange Rückreise antraten. Um seine Ferien geniessen zu können, musste er den versprochenen Beitrag möglichst noch heute Abend schreiben. Als das Schlussspiel der Orgel einsetzte, hatte Mattmann die ersten Sätze plötzlich klar vor Augen: «Der Aal ist einer der geheimnisvollsten Fische. Wie alt können sie werden? Warum lassen sie sich nicht züchten? Wie finden sie zurück in die Sargassosee, wo sie laichen und sterben?»
«Gehen wir noch mit ans Grab?», fragte Elise Manz und wischte sich ein paar Tränen ab.
«Von mir aus», sagte er. Da tippte ihm jemand auf die Schultern und flüsterte, die Urne sei im kleinsten Familienkreis bereits beigesetzt worden.
Auch gut, dachte Mattmann und erklärte es Elise Manz.
«Ich wäre gerne dabei gewesen», sagte sie. «Die Predigt hätte ich mir sparen können.»
«Und nun?»
«Zurück ins ‹Gyrenbad›. Brunners Tochter hat alle zum Leidmahl eingeladen.»
Als Mattmann in den Saal trat, standen schon einige Gäste um den langen, weiss gedeckten Tisch. Sein Blick fiel aufs Buffet: Platten mit geräuchertem Fleisch und verschiedenen Sorten Käse. Grosse Brote mit dunkler Kruste und Schüsseln mit gemischtem Salat. Die Sonne funkelte in den geschliffenen Glasstücken des Kronleuchters, an der einen Wand hing ein düsteres Ölgemälde mit einem Ozeandampfer in rauer See.
Als das «Gyrenbad» noch ein Kurbad war, speisten in diesem Saal die Kurgäste, nun waren es Hochzeitsgesellschaften und Trauergemeinden. Mattmann schaute sich um. Plötzlich stand Rahel vor ihm. Sie lächelte, und er lächelte zurück. Noch immer war sie eine schöne Frau, dachte er.
«Lange her», sagte sie.
«Ich habe dich vor der Kirche sofort erkannt.»
Rahel neigte leicht den Kopf. «Was machst du hier?», fragte sie.
«Ich habe Elise Manz begleitet.»
«Bist du mit ihr verwandt? Oder mit der Toten?»
«Weder noch.» Mattmann suchte nach einer Erklärung. Doch er wusste selbst nicht, warum er am ersten Tag seiner Ferien an einer Abdankung teilnahm, ohne Angehöriger zu sein. Er lächelte verlegen und wechselte das Thema. «Ich habe mir hier ein Zimmer genommen. Ich liebe alte Badehotels.»
«Das Schwelgen in alten Zeiten war schon immer dein Ding», bemerkte Rahel, «das machen Historiker doch so.»
«Ich bin Journalist geworden.»
«Genau! Du hast auf dieser bürgerlichen Zeitung gearbeitet, wo sie alle Krawatten tragen.»
«Da arbeite ich immer noch. Als Korrespondent auf einem Aussenposten.»
«Wo?»
«In Stockholm. Seit sieben Jahren.»
«Kalt und dunkel stelle ich mir das vor.»
«Nicht im Sommer», sagte Mattmann. Hatte man sich seit Jahren nicht mehr gesehen, wusste man nicht, wo beginnen. Die Leere, die sich in der Zwischenzeit ausgedehnt hatte, galt es irgendwie zu überbrücken. «Ich habe gehört, dass du jetzt bei der Kripo bist», sagte er.
«Genau.»
«Das hat mich erstaunt.»
«Warum?»
«Die Polizei gehörte einst zu deinen Feindbildern.»
«Die Zeiten ändern sich …»
«… und wir uns mit ihnen», ergänzte er.
Sie lächelte angestrengt. Trotzdem verzauberten ihn die Grübchen in ihren Mundwinkeln, die er so geliebt hatte. Er wollte sie zum Lachen bringen und fragte etwas ungeschickt: «Gehen Kriminalpolizistinnen immer auf die Beerdigungen der Opfer?»
«Ich habe Brunner begleitet», sagte sie ernst.
«Wo ist er jetzt?»
«Auf dem Weg zurück ins Gefängnis.»
«Und du ermittelst am Leichenmahl?»
«Nein.»
Bevor er Rahel noch etwas fragen konnte, drehte sie sich um und liess ihn stehen. Wie damals. In ihren Wintermantel gehüllt, war sie einfach gegangen.