Читать книгу Der Vermisste vom Vierwaldstättersee - Martin Widmer - Страница 14

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Nach dem Frühstück hatte Mattmann endlich Zeit für sein Sportcoupé, einen Volvo, Baujahr 1972. Er hatte das Auto von seinem Grossvater geerbt und brachte es nicht übers Herz, es zu verkaufen. Für den Alltag in Schweden war es nicht geeignet, daher hatte er es in einer Garage des «Gyrenbads» abgestellt und fuhr es nur während seines Heimaturlaubs. An der Rezeption holte er bei Elise Manz die Autoschlüssel.

«Alte Liebe rostet nicht», bemerkte sie und zwinkerte ihm zu.

Mattmann fuhr mit dem Daumen über das verblichene Volvo-Logo auf dem Schlüsselanhänger und ging hinaus zu den Garagen. Das Schloss des Tors klemmte, doch schliesslich konnte er es öffnen und stand vor seinem Auto, das mit einer grauen Hülle geschützt war. Als er sie vorsichtig wegzog, kam sein weisser Volvo zum Vorschein. Eine Schönheit. Er liebte die eleganten Linien, die schwarzen Ledersitze, etwas brüchig geworden von all den Jahren; alles erinnerte ihn an seinen Grossvater, der bis ins hohe Alter mit dem sportlichen Zweisitzer unterwegs war. Sonntags durfte er als kleiner Junge mit und sass stolz auf dem Beifahrersitz.

Oft waren sie zusammen durchs Zürcher Oberland gefahren. Und einmal sogar bis nach Genf, kam ihm in den Sinn. Das letzte Stück auf der Autobahn. Sein Grossvater hatte das Gaspedal durchgedrückt, und der Zeiger des Tachometers zitterte zwischen hundertachtzig und zweihundert. Erst viel später las er, dass anlässlich der Landesaustellung 1964 der erste Abschnitt der Autobahn N 1 zwischen Lausanne und Genf eröffnet worden war. Er und sein Grossvater waren dabei. An den Besuch der Expo konnte er sich nicht mehr erinnern, nur ein Foto im Album seiner Mutter zeigte ihn als kleinen Jungen vor einem U-Boot.

Mattmann ging um den Wagen, öffnete die Motorhaube, schloss die Batterie an und kontrollierte den Stand des Motorenöls und des Kühlwassers. Dann setzte er sich hinters Steuer und drehte den Zündschlüssel. Der Motor hustete und wollte nicht starten. Noch einmal versuchte es Mattmann. Beim dritten Mal gab er Vollgas, der Motor heulte auf und startete. Er wartete und hörte auf das Brummen, das ihm seit Kindsbeinen vertraut war. Vorsichtig fuhr er rückwärts aus der Garage. Er war kein Autonarr, aber während seines Heimaturlaubs genoss er die Ausfahrten und die bewundernden Blicke, wenn er mit seinem Coupé auftauchte.

Er fuhr hinunter ins Tal, dann auf der Hauptstrasse durchs Tösstal Richtung Bauma. In Steg bog er links ab und nahm die engen Kurven der Passstrasse über die Hulftegg in Angriff. Es war ein strahlender Junitag. Auf der Passhöhe stieg er aus, vor ihm lag das Toggenburg und das Massiv des Säntis, das mitten in den Voralpen lag. Ein Bild wie auf einer Postkarte. Doch etwas trübte seine Stimmung. Er war ausgewandert, hatte als Auslandkorrespondent mehr als drei Jahrzehnte in verschiedenen Ländern gelebt und konnte sich nicht vorstellen, je wieder in die Schweiz zurückzukehren. Nach drei Wochen Heimaturlaub war er immer froh, wieder aufbrechen zu können.

Zum Einkehren im Gasthof Hulftegg war es noch zu früh, daher fuhr er hinunter bis zum Kloster Fischingen, dann durch Dussnang und Bichelsee, bis er zum gleichnamigen See kam.

Der Parkplatz des Strandbades war bis auf wenige Autos leer. Die Kinder waren alle noch in der Schule, nur ein paar Rentner hatten am Vormittag Zeit zum Schwimmen in diesem kleinen, zauberhaften See. Mattmann hörte das Brummen eines Rasenmähers und schaute zur Liegewiese, wo er den Bademeister entdeckte. Er setzte sich ans Ende des Tisches vor dem Kiosk und schaute über die spiegelblanke Fläche des Wassers.

Warum war Brunner verhaftet worden? Beim Leidmahl hatten sich die Zungen nach ein paar Gläsern Wein gelöst, und es war wild darüber spekuliert worden, was sich im Chalet zugetragen haben könnte. Die einen waren der Ansicht, dass Brunner alles zuzutrauen sei, während die andern meinten, er könne keinem ein Haar krümmen. «Warum schweigt er denn, wenn seine Frau einfach hingefallen ist?», hatte jemand gefragt. «Man muss die Untersuchung der Polizei abwarten», wurde entgegnet. «Die haben doch keine Ahnung», sagte ein Dritter.

Der Rasenmäher verstummte, und es wurde ganz still. Mattmann schaute sich um. Plötzlich stand der Bademeister vor ihm, seine langen Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

«Kaffee?», fragte er.

«Gerne», sagte Mattmann. «Und ein Sandwich.»

Nach einer Weile kam der Bademeister mit zwei Pappbechern und zwei grossen Schinkenbroten zurück. Er setzte sich Mattmann gegenüber. «Rolf», sagte er, «aber alle nennen mich Rolli.» Beide assen und tranken kleine Schlucke von dem heissen Kaffee.

«Schönes Auto», sagte Rolli kauend, «sieht man selten.» Er deutete auf den Parkplatz, wo nur Mattmanns Coupé stand.

«Ein P 1800 ES. Er wurde nur während dreier Jahre produziert.»

«Ich weiss. ‹Schneewittchensarg› nannten wir Volvo-Freaks dieses Modell.» Rolli lachte. «Mit den verglasten langen Seitenfenstern und der rahmenlosen gläsernen Heckklappe.»

«Makaber! Aber nicht ganz aus der Luft gegriffen.»

Der Bademeister verschlang den letzten Bissen seines Brotes.

«Ein Hatchback», begann Mattmann zu fachsimpeln und erklärte, dass dieses dreitürige Modell für den amerikanischen Markt gebaut worden war. Für Kunden, die einen kleinen Sportwagen suchten, in dem ihre Golfausrüstung Platz hätte.

Rolli knüllte seinen leeren Kaffeebecher zusammen, zielte damit auf den grossen Abfalleimer – und traf. «Die Rechnung bei Volvo ging offenbar nicht auf. Das weiss doch jeder, dass die Amis auf grosse Schlitten stehen. Mit diesem schlichten Coupé liess sich nicht auftrumpfen.»

Mattmann überlegte. War es das Schlichte, das er an seinem Auto so liebte? Wie er auch das schnörkellose Moderne des skandinavischen Designs und die kargen Landschaften im Norden liebte.

«Schwimmst du noch über den See?»

«Ich habe keine Badehosen dabei.»

«Und?» Rolli grinste. «Am Nachmittag ist es hier pumpevoll. Nun hast du den See noch für dich allein. Und wer weiss, wie lange das schöne Wetter anhält. Es kann noch ein Gewitter geben.»

Nach dem Schwimmen machte sich Mattmann auf den Rückweg ins «Gyrenbad». Erste Wolken zogen auf. Bei der Waldlichtung bog er ab und stellte das Auto neben eine grosse Beige mit gespaltenem Holz. Die letzten hundert Meter zum Chalet ging er zu Fuss. Die Fensterläden im Erdgeschoss waren noch immer verschlossen. Vor der Haustüre stand Susanne Brunner mit zwei Einkaufstaschen. Er hatte sie erstmals an der Beerdigung ihrer Mutter gesehen, jedoch keine Gelegenheit gefunden, mit ihr zu sprechen.

«Mein Schlüssel geht nicht mehr. Da hat jemand das Schloss ausgewechselt», schimpfte Susanne Brunner, als sie ihn entdeckte. Sie trug Jeans und eine helle Bluse. Das blonde Haar hatte sie zu einem Knoten zusammengebunden und aufgesteckt.

«Ich kam gestern nicht dazu, Ihnen zu kondolieren», sagte Mattmann.

«Sie kannten meine Mutter?»

«Ich habe einmal mit ihr und mit Ihrem Vater gesprochen. Vor einem Jahr.»

«Mein Vater sagt nicht viel», entgegnete sie kurz.

«Wie geht es ihm?»

«Wenn ich das wüsste. Warum fragen Sie?»

Mattmann zögerte.

«Wenn Sie von der Zeitung sind, sage ich im Fall gar nichts.»

«Ich bin ganz privat hier. Ich –»

«Ich wollte nur den Kühlschrank auffüllen, damit mein Vater etwas zu essen hat, wenn er zurückkommt», entgegnete sie. «Und nun kann ich nicht einmal ins Haus. Bitte entschuldigen Sie mich, ich muss dringend zurück ins Büro.» Sie trug die beiden Einkaufstaschen zurück in ihr Auto und fuhr davon.

Mattmann war jetzt allein auf dem Grundstück. Er schaute sich um und ging ums Chalet. Hinter dem Haus stand der kleine Schuppen, in dem sich Brunners Werkstatt befand. Auch diese Türe war verschlossen. Mattmann schaute durchs Fenster, doch drinnen war es zu dunkel, um etwas zu erkennen.

«Nichts berühren!», vernahm er eine bekannte Stimme hinter sich. Er drehte sich um und sah Rahel, beide Hände in den Taschen ihrer Sportjacke verborgen. Er hatte ihr Auto nicht kommen gehört.

«Was machst du hier?», fragte sie.

«Mich etwas umsehen.»

«Das Absperrband hast du offenbar übersehen.»

«Jemand vor mir hat es bereits gelöst.»

«Und da bist du einfach hineinspaziert.» Sie schaute ihn mit ihren schmalen, fast schlitzartigen Augen an. Die hohen Wangenknochen verstärkten ihren wilden Blick, der ihn schon vor mehr als dreissig Jahren wie ein Blitz getroffen hatte. Damals hatte sie gegen die Ausbeutung durch die westlichen Industrieländer gekämpft, die sich die Rohstoffe der ehemaligen Kolonien zu Spottpreisen sicherten. Ihre Leidenschaft war grenzenlos gewesen, ihre Bestimmtheit Teil ihrer Schönheit.

«Habt ihr eine heisse Spur?», fragte er, um seine Verwirrung zu verbergen.

«Du scheinst ja selbst auf Spurensuche zu sein», sagte sie, «aber das ist mein Fall.»

«Ich weiss. Ich wollte nur …»

«… ein paar Recherchen machen. Für eine Story. Ihr Journalisten seid immer am Schnüffeln.»

«Frau Kommissarin», versuchte er es in einem scherzhaften Ton, «bitte fassen Sie Ihre neusten Erkenntnisse kurz zusammen.»

Rahel fand das gar nicht lustig. «Dir darf und will ich nichts sagen.»

«Gestern Nachmittag beim Leidmahl», versuchte es Mattmann ernsthafter, «hatten wir keine Zeit, uns zu unterhalten.»

«Ich hatte noch zu tun.»

«Und heute?»

«Eigentlich auch.» Rahel zögerte kurz und fragte: «Hungrig?»

Mattmann wunderte sich. Gestern war sie ihm gegenüber so abweisend gewesen, und auch heute stellte sie ihn barsch zur Rede, als hätte sie ihn auf frischer Tat ertappt. Und nun wollte sie mit ihm essen gehen. Vieleicht war sie einfach überrumpelt, dass er nach all den Jahren plötzlich wieder aufgetaucht war. Oder sie hatte sich als Polizistin einen harten Umgangston zugelegt. Wahrscheinlich brauchte sie etwas Zeit, um aufzutauen. Ein Mittagessen könnte ein guter Anfang sein.

«Wir könnten ins ‹Gyrenbad› fahren», schlug Mattmann vor.

«Ich weiss etwas Besseres», sagte Rahel und ging zu ihrem Auto. Da sah sie den alten weissen Volvo am Wegrand stehen und fragte: «Bist du damit gekommen?»

Eine alte Liebe, wollte er antworten, besann sich dann aber eines Besseren und sagte nur: «Mein weisser Schwede.»

***

Rahel öffnete die Türe ihres grauen VW Golf. Mattmann setzte sich auf den Beifahrersitz, und sie fuhren hinunter ins Tal. Im Radio lief ABBAs alter Hit «Knowing Me, Knowing You». Rahel wusste nicht, ob sie den Sender wechseln sollte, ABBA war nicht ihr Stil. Aber noch weniger wollte sie sich in eine Diskussion über ihren Musikgeschmack verwickeln, und schon gar nicht darüber, was sie mochte und was nicht. War es eine gute Idee, so spontan mit Konrad mittagessen zu gehen?, fragte sie sich. Es war alles schon so lange her.

«Weisst du noch?», fragte er.

«Was?»

«Wie du von einem Tag auf den andern nicht mehr nach Afrika wolltest und zur Überzeugung gelangt warst, dass du in der Schweiz mehr ausrichten könntest. Dass man in der Erziehung anfangen müsse. Weil Kinder noch einen Sinn für Gerechtigkeit haben. Und wie wir zwei …»

Sie wusste noch genau, wie es angefangen hatte. In der Hütte auf dem Panixerpass. Sie waren am Abend am selben Tisch gesessen, sie mit ihren beiden Freundinnen, er auch mit Freunden, aber an diese konnte sie sich nicht erinnern. Seine dunklen Locken gefielen ihr auf den ersten Blick. Müde vom steilen Aufstieg schlüpfte sie früh in ihren Schlafsack. Der Platz im Massenlager neben ihr war noch frei, nur ein Rucksack lag am Fussende der Schlafmatte. Mitten in der Nacht erwachte sie, als sie Stimmen hörte. Endlich kamen die Letzten, um sich schlafen zu legen. Sie suchte nach ihren Ohrstöpseln, als sie seine Stimme neben sich hörte. «Noch wach?», fragte er. Sie stellte sich schlafend. Er rollte seinen Schlafsack aus und kroch hinein. Hatte sie ihre Hand ausgestreckt oder er? Ihre Finger berührten sich. Verschränkten sich. Er streichelte ihren Daumen. Hand in Hand waren sie eingeschlafen.

Am Morgen sahen sie sich nur kurz beim kargen Frühstück. Während sie den Weg hinunter ins Bündner Vorderrheintal antrat, ging er mit seinen Freunden in die andere Richtung, hinunter nach Elm im Glarner Sernftal. Sie hatten keine Adressen ausgetauscht. Und keine Telefonnummern. Das war lange vor der Zeit der Mobiltelefone.

Im «Tea Room» am Stadelhofen sah sie ihn ein paar Wochen später. Sie hatte dort im Service gejobbt, er war an einem Vormittag mit seinen Arbeitskollegen zum Kaffeetrinken gekommen. Dann kam er jeden Vormittag – alleine. Sie hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt und er in sie. Schon bald waren sie ein Paar, ein ungleiches Paar. Während er eine Stelle in einer stockkonservativen Zeitung hatte, wollte sie nur etwas Geld verdienen, um durch Afrika zu reisen und sich nach einem Entwicklungsprojekt umzusehen, wo sie sich engagieren konnte, sei es bei den Kaffeebauern in Ujamaa oder in den Townships in Südafrika.

Er war so verliebt, dass er seine gut bezahlte Stelle bei der Zeitung an den Nagel gehängt hätte und ihr bis ins Herz von Afrika gefolgt wäre. Wären ihr damals nicht Zweifel am Sinn der Entwicklungshilfe gekommen. Sie war dann Lehrerin geworden.

In Turbenthal bog sie ab auf die Hauptstrasse und gab Gas.

«Wie lange hast du Schule gegeben?», fragte er.

«Primarlehrerin war nicht mein Ding. Ich hatte keine Geduld mit den Kindern.»

«Wie bist du bei der Kriminalpolizei gelandet? Das ist ein weiter Weg von der Lehrerin zur Kommissarin.»

«Nicht gelandet. Die Arbeit hat mich schon immer interessiert.»

«Dein Vater war auch bei der Polizei. Irgendein hohes Tier. Ich erinnere mich schwach.»

«Abteilungsleiter. Bei der Verkehrspolizei.»

«Dir war das peinlich, als wir uns kennenlernten.»

«Stimmt.»

«Und dann bist du in seine Fussstapfen getreten.»

«Würde ich nicht so sagen. Nach zehn Jahren Polizeidienst habe ich mich als Ermittlerin beworben.»

«Die haben dich bestimmt mit Handkuss genommen.»

«Ich arbeite gerne bei ‹Leib und Leben›. In der Mordkommission.»

«Wow!»

«Das ist nicht so spektakulär, wie es tönt.»

«Du hast deine Berufung gefunden?»

«Ja.»

«Und privat? Auch glücklich?»

Rahel schwieg. Er ging ihr langsam auf die Nerven mit seiner Fragerei. «Wie geht es deiner Mutter?», fragte sie nach einer Weile, weil sie wusste, das war bei ihm der wunde Punkt.

Mattmann zögerte. «Ehrlich gesagt, ich weiss es nicht.»

«Hast du sie schon getroffen?»

«Noch nicht.»

«Sie war ganz nett, als wir noch zusammen waren. Und hat sich nie gross eingemischt.»

«Dir gegenüber war sie vielleicht zurückhaltend.» Mattmann schaute aus dem Seitenfenster. «Bei mir kennt sie noch heute keine Grenzen. Da hilft nur Distanz.»

«Sie sehnt sich wahrscheinlich nach ein bisschen Nähe. Jetzt, wo sie alt ist.»

«Vielleicht.»

«Du bist ihr einziges Kind.»

«Dafür kann ich nichts.»

«Plötzlich ist es zu spät», bemerkte Rahel, «und du hättest sie das eine oder andere noch fragen wollen.»

Mattmann schwieg. Dann sagte er: «Ich habt euch immer gut verstanden. Obwohl ihr so unterschiedlich seid.»

«Stimmt.»

«Politisch wart ihr euch ja nie einig.»

In Zell bog Rahel von der Hauptstrasse rechts ab, fuhr durchs Dorf, dann an der Villa des verstorbenen Komponisten Paul Burkhard vorbei. Von ihm stammte «O mein Papa». Der Schlagertitel liess bei ihr etwas anklingen, was sie nicht gleich einordnen konnte. Als sie Mattmann am Rande der Beerdigung zufällig getroffen hatte, war ihr ein Verdacht aufgekommen: Mattmann könnte, ohne es zu wissen, in die ganze Geschichte von Brunner verstrickt sein.

«Deine Mutter, kannte sie Brunner?», fragte sie.

«Wie kommst du darauf?»

«Nur so.»

«Du fragst nie nur so.»

«Dann frag sie mal nach ihm.»

Rahel fuhr auf den Parkplatz des «Obstgartens» in Oberlangenhard. Die Gaststube und die Nebenstube waren bis auf den letzten Platz besetzt. «Geschlossene Gesellschaft», sagte die Kellnerin.

«Im Garten haben wir für dich und deinen Kavalier bestimmt noch ein Plätzchen», sagte die Wirtin, die plötzlich aufgetaucht war.

Rahel ging nicht drauf ein, doch sie spürte auf ihren Wangen, dass sie leicht errötete. Mattmann lächelte und fragte nach der Speisekarte.

«Wir haben nur ein Menu», erwiderte die Wirtin. «Als Vorspeise gemischter Salat, dann Schweinsvoressen mit Kartoffelstock.»

«Nicht gerade ein sommerliches Menu», sagte Mattmann.

«Kartoffelstock ist unsere Spezialität, luftig wie ein Sommermorgen», gab die Wirtin zur Antwort und wies ihnen den Weg zu einem Tisch im Garten.

Die Sonne war hinter dunklen Wolken verschwunden, aber es war noch warm, und ein Gewitter schien nicht im Anzug zu sein. Rahel hätte ihn nun nach seiner Geschichte fragen können. Nach der kurzen Autofahrt und seinen vielen Fragen war sie sich nicht sicher, ob das mit dem gemeinsamen Mittagessen eine gute Idee gewesen war. Was wollte sie mit ihm in alten Erinnerungen schwelgen. Ausser sie nutzte die Gelegenheit für ihren Fall.

Die Kellnerin brachte die Getränke. Wasser für sie und einen Zweier Rotwein für ihn, einen Pinot Noir vom Zürichsee. Verhalten prostete sie ihm zu. Mattmann nahm einen Schluck und stellte das Glas enttäuscht ab.

«Einen sauren Tropfen schenken sie im ‹Obstgarten› aus», murmelte er vor sich hin.

Rahel ging nicht darauf ein. «Beim Fall Brunner komme ich nicht weiter», sagte sie. «Er schweigt wie ein Grab.»

«Du glaubst, er verschweigt etwas?»

«Wenn er unschuldig wäre», sagte Rahel, «müsste er doch erklären können, was an jenem Abend geschah, als Lina Brunner starb.»

«Wo habt ihr ihn angetroffen?»

«Als die Polizei kam, sass er auf der Gartenbank und hatte seine tote Frau im Arm.»

«Da müsste er tatsächlich etwas zu sagen haben.»

«Müsste er.»

«Ihr habt sicher Beweise in der Hand. Wo liegt das Problem?»

Rahel zögerte einen Moment. Sie durfte keine Details der Untersuchung weitergeben. So genau hielt sie sich nicht immer an die Vorschriften. Sie wollte den Fall lösen. Und Mattmann konnte ihr weiterhelfen, davon war sie je länger, je mehr überzeugt. «Es finden sich Spuren am Hinterkopf, die von einem Sturz stammen», sagte sie. «Doch es gibt weitere Spuren, die auf einen Schlag hinweisen, wie die Obduktion eindeutig zeigt.»

«Und die Tatwaffe?»

«Das mögliche Tatwerkzeug», korrigierte ihn Rahel.

«Habt ihr es gefunden?», fragte er.

Rahel schüttelte den Kopf.

«Du scheinst überzeugt, dass Brunner etwas damit zu tun hat.»

«Das ist nicht auszuschliessen.»

«Nicht auszuschliessen», wiederholte Mattmann. «Du sprichst wie eine Mediensprecherin und sagst möglichst nichts.»

«Wir wissen nichts Genaues.»

Die Wirtin brachte den Salat und gleichzeitig den Hauptgang. Mattmann probierte zuerst vom Kartoffelstock, der mit viel Butter zubereitet, aber luftiger war, als ihn seine Grossmutter jeweils gemacht hatte. Seine Mutter hatte nie gerne gekocht, und wenn, dann musste es schnell gehen. Dann kostete er das Schweinsvoressen an der sämigen Sauce.

«Wie lang kannst du Brunner überhaupt in Untersuchungshaft festhalten?», fragte Mattmann.

«Wegen dringendem Tatverdacht, Verdunklungs- und Fluchtgefahr kann ihn die Staatsanwaltschaft noch eine ganze Weile drinnen behalten», antwortete Rahel.

«Auch ohne Beweise?»

«Natürlich.»

Er wollte weiterfragen, doch sie winkte ab und deutete gegen den Himmel. Die Sonne zeigte sich, und plötzlich war der Himmel wieder strahlend blau. Sie assen weiter und sprachen über Belangloses.

Rahel schaute ihn von der Seite an. Seine Locken waren schwarz, keinen grauen Schimmer konnte sie entdecken. Sie spürte eine Fröhlichkeit in sich aufsteigen, die sie schon lange vermisste. Etwas war für sie immer noch sehr anziehend. Malte sie sich etwas aus? Dass aus Mattmann und ihr wieder etwas werden könnte? Rahel verscheuchte den Gedanken. Sie schaute auf die Uhr. Sie musste schleunigst zurück ins Büro nach Zürich, es reichte nur noch für einen Espresso. Die Rechnung teilten sie und fuhren los. Beim Bahnhof Rikon setzte Rahel ihn ab. Er wollte zu Fuss zurück zum Chalet gehen, wo er sein Auto zurückgelassen hatte.

***

Mattmann ging der Töss entlang und dachte ans Mittagessen mit Rahel. Er wusste nicht, was er denken sollte und noch weniger, was er spürte. Gefühle verwirrten ihn. Kaltes Blut bewahren, damit war er im Leben immer gut gefahren. Als ihm damals der Posten als Auslandkorrespondent in Australien angeboten worden war, musste er einfach zupacken. Sidney war unter den Journalisten nicht so begehrt wie Paris, London oder Washington. Für einen jungen Hasen wie ihn war es jedoch ein attraktives Angebot. Rahel hatte ihre erste Stelle als Lehrerin in Zürich Aussersihl angetreten, die sie nicht einfach aufgeben wollte. Und eine Fernbeziehung kam für sie nicht in Frage. Er hatte sich entscheiden müssen. Und war nach Australien geflogen. Mattmann versuchte diese Erinnerung abzuschütteln. Sie hatten sich getrennt. Ohne viele Worte. Aber schmerzlos war es nicht gewesen.

Seine Mutter hatte damals auch die Finger im Spiel gehabt. Obwohl sie sich mit Rahels politischen Gedanken gar nicht anfreunden konnte, verstand sie sich mit ihr ausgezeichnet. Und auch sie sah es gar nicht gerne, dass er den Posten auf der anderen Seite der Welt angenommen hatte.

Seine Mutter hielt er seitdem auf Distanz. Und auch die Erinnerungen an seine Kindheit hatte er beinahe vergessen.

Als er dem ausgetrockneten Flussbett entlangging und das Tösstal immer enger wurde, kam ihm seine Grossmutter in den Sinn. Wenn er sich als Kind ganz einsam gefühlt hatte, konnte er immer zu ihr in die Küche gehen. Eine grosse Küche in jenem Heim, das sie zusammen mit dem Grossvater geführt hatte, in Sternenberg, mit Blick über das Tösstal und bei Föhn weit in die Alpen. Nicht dass es gemütlich war in dieser grossen Heimküche, aber er wusste wenigstens, wo er sie finden konnte.

Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er am Vormittag, bei der Ausfahrt mit seinem alten Volvo, einen weiten Bogen um Sternenberg gemacht hatte, rund um den Ort, wo er die ersten zwölf Jahre seines Lebens bei den Grosseltern verbracht hatte. Als hätte er die Geschichte seines Aufwachsens umkreist. Seine Mutter hatte in Zürich gewohnt und war jeweils nur übers Wochenende nach Sternenberg gekommen.

Er müsste seine Mutter anrufen, kam ihm in den Sinn. Er musste sie morgen besuchen, nach dem Termin auf der Redaktion. Und wenn er schon in Zürich wäre, könnte er sich auch mit Rahel verabreden. Er würde gerne ihr Büro sehen, könnte er ihr vorschlagen.

Der Vermisste vom Vierwaldstättersee

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