Читать книгу Der Vermisste vom Vierwaldstättersee - Martin Widmer - Страница 17

7

Оглавление

Wie jedes Jahr besuchte Mattmann am Anfang seiner Sommerferien die Auslandredaktion in Zürich. Diesmal hatte er kein gutes Gefühl. Für ihn war es nur eine Frage der Zeit, bis sein Posten in Stockholm gestrichen würde. Gerüchte waren schon länger im Umlauf, dass das Korrespondentennetz rigoros verkleinert würde. Wenigstens konnte er sich auf die Verabredung mit Rahel nach dem Termin bei der Zeitung freuen. Er hatte sie gestern angerufen, und sie hatte nichts dagegen, dass er sie in ihrem Büro besuchte. Er interessierte sich immer, wo andere Leute arbeiteten, wie ihr Schreibtisch aussah, überladen oder aufgeräumt. Ein Blick hinter die Kulissen der Kriminalpolizei wäre zusätzlich interessant. Danach, so malte er sich aus, könnten sie zusammen essen gehen. Und, so ertappte er sich beim Gedanken, vielleicht könnte sich daraus noch mehr ergeben. Liess sich eine alte Liebe aufwärmen?

Mit dem Volvo fuhr er hinunter ins Tal, wo er die S-Bahn nach Winterthur nahm und dort auf den Schnellzug nach Zürich umstieg. An einer Bar im Hautbahnhof blätterte er die Tageszeitungen durch und trank einen Kaffee. Zu Fuss ging er der Limmat entlang bis zum Bellevue und dann über den grossen Platz, wo er stehen blieb. Der Sechseläutenplatz zwischen Bellevue und Oper hatte etwas Metropolitanes, seit er mit Steinplatten belegt war. Er erinnerte sich, wie es aussah, als der Platz noch eine Wiese war, wie der Zirkus Knie dort gastierte und wie die Zünfter auf ihren Pferden am Sechseläuten um das Feuer herumritten, mit dem der Winter verbannt wurde. Der Zirkus stellte seine Zelte noch immer auf dem Platz auf, hatte er gelesen, und die Pferde wurden noch immer auf dem Platz um das Feuer herumgeritten, allerdings musste er mit Sand abgedeckt werden, damit die Steinplatten nicht beschädigt wurden. Oder sollten die Hufe der Pferde geschont werden?

Als er in die Halle des grossen Redaktionsgebäudes trat, blieb er verloren stehen. Die dunkel getäfelten Wände waren einer umfassenden Renovation zum Opfer gefallen. Das nüchterne Weiss und der Empfangstresen aus Chromstahl vermittelten mehr den Eindruck einer Privatbank als einer Zeitungsredaktion. Nachdem er Namen und Grund seines Besuchs genannt hatte, musste er ein paar Minuten warten, bis er vom Leiter der Auslandredaktion abgeholt wurde.

Dieter Schmid war schon auf allen begehrten Korrespondentenposten gewesen, in London, Paris, Moskau, Peking und Washington, dort, wo Weltpolitik gemacht wurde. Die letzten Jahre seiner Journalistenkarriere verbrachte er auf der Redaktion in Zürich und hoffte, den Sprung in die Chefredaktion noch zu schaffen.

Schmid begrüsste Mattmann mit einem kräftigen Händedruck. Mit dem Lift fuhren sie in den vierten Stock, gingen durch das neue Grossraumbüro, vorbei an Dutzenden von Schreibtischen mit Bildschirmen, hinter denen Mattmann keine bekannten Gesichter erkannte. Alles Frischlinge, direkt von der Uni, hatte er den Eindruck. Sie sahen alle sehr beschäftigt aus und hatten keine Zeit, mit einem Mann zu sprechen, der wusste, wie es an der Front zu- und herging.

Nur einer schaute von der Tastatur auf: Hanspeter Meier. Er hatte gleichzeitig mit Mattmann als Volontär begonnen, doch seinen Traum vom Leben als Auslandkorrespondent hatte er begraben müssen. Nach Posten in Ankara und Lissabon war er für kurze Zeit Afrikakorrespondent gewesen; dabei verzweifelte er an der Aufgabe, alleine über einen ganzen Kontinent zu berichten, und kehrte nach Zürich zurück.

«Wie bekommt dir die Luft in der Redaktionsstube?», fragte Mattmann.

«Seit dem Umbau lässt sich kein Fenster mehr öffnen, es ist alles klimatisiert. Sommer und Winter die gleiche Temperatur.»

«Dafür hast du eine geregelte Arbeitszeit, freie Wochenenden und andere Annehmlichkeiten, nehme ich an.»

«Sonntagsdienst einmal pro Monat. Das geht.»

«Da bin ich lieber auf der freien Wildbahn», entgegnete Mattmann.

«Solange es deinen Posten in Stockholm noch gibt.» Meier lächelte hämisch. Er war im Auslandressort für Skandinavien sowie die baltischen Länder zuständig und entschied, welche Texte von Mattmann ins Blatt gerückt wurden. Der Norden interessierte ihn jedoch nur mässig.

«Eine neue Sparrunde?», fragte Mattmann.

«In der Chefetage haben sie nur einen Stift», sagte Meier, «den Rotstift.»

Schmid klopfte Mattmann auf die Schulter und führte ihn weiter zum Pausenraum. «Lassen Sie sich von Miesmacher Meier den schönen Tag nicht verderben», sagte er und holte beim Automaten zwei Becher Kaffee. Dann führte er ihn in ein Besprechungszimmer. Ein eigenes Büro hatte der Ressortchef seit dem Umbau nicht mehr, dieses Privileg genossen nur noch diejenigen auf der Teppichetage.

Wie jedes Jahr beklagte sich Mattmann auf eine möglichst höfliche Art, dass ein Teil seiner Hintergrundgeschichten noch immer keinen Platz im Blatt gefunden habe. Schmid erklärte, der Norden sei im Moment nicht im Brennpunkt und Meier, den Mattmann ja kenne, sei nicht der Schnellste, da würden sich Manuskripte stapeln, und plötzlich seien sie veraltet. Mattmann wehrte sich dagegen, «nur Kurzfutter für den Tag zu produzieren», wie er sich ausdrückte. Jemand müsse in der schnelllebigen Zeit die Zusammenhänge erklären.

«Der Platz im Blatt ist beschränkt, mein Lieber», entgegnete Schmid.

«Kunststück, wenn die Zeitung immer dünner wird.»

«Die Inserate wandern ins Netz ab.»

«Aber in unserer Online-Ausgabe tauchen sie nicht wieder auf», bemerkte Mattmann.

«Wir kämpfen mit sinkenden Einnahmen an allen Fronten.»

«Und was wird in diesem Haus dagegen unternommen?»

«Die Marketingabteilung drängt uns, die Wochenendausgabe auszubauen. Mit Reisereportagen. Geschichten zu Mode und Architektur. Livestyle eben. Das sei das Umfeld, das für Inserenten attraktiv sei, sagen sie uns.»

«Das ist nicht mein Thema.»

«Überlegen Sie mal. Halten Sie die Augen offen. Da kommt Ihnen doch etwas Hübsches in den Sinn, worüber Sie schreiben können.»

«Hübsches ist nicht mein Thema.»

«So habe ich das nicht gemeint. Erweitern Sie einfach ein wenig Ihre Palette.»

«Und wenn nicht? Womit muss ich rechnen?»

«Am Korrespondentennetz auf allen fünf Kontinenten soll nicht gerüttelt werden. Wir sind schliesslich ein Weltblatt. Dafür werde ich mich einsetzen.»

«Und Europa? Das wird von Zürich aus abgehandelt.»

«Auf keinen Fall, das kann ich Ihnen garantieren.»

Mattmann hatte da keine grosse Hoffnung, der Einfluss des Auslandchefs reichte nicht bis in die Chefetage. Der Korrespondentenposten in Skandinavien wäre einer der ersten, der eingespart würde, vermutete er. Heutzutage recherchierten die meisten Kollegen fast ausschliesslich im Internet oder per Mail. Vor Ort musste man nur noch äusserst selten sein. Seine Arbeit liesse sich im Prinzip von Zürich aus machen. Ein paar wenige Reisen genügten. Doch er konnte sich nicht vorstellen, auf die Redaktion zurückzukehren. Er war kein Schreibtischtäter. Vielmehr liebte er es, sich am Ort des Geschehens ein Bild zu machen, und pflegte die Kontakte zu seinen Gewährsleuten innerhalb der Regierungen in den skandinavischen Ländern sowie zu Wirtschaftskreisen und Kulturschaffenden.

«Keine Fragen mehr?», sagte Schmid und stand auf. Damit erklärte er das Meeting für beendet. Seine Tage bei der Zeitung waren gezählt, davon war Mattmann überzeugt, als er im Lift nach unten fuhr. Er erinnerte sich, wie er bereits während des Studiums für eine Regionalzeitung geschrieben hatte oder vielmehr die endlosen Papierschlangen mit Telexmeldungen abgeschnitten und redigiert hatte; mit der Schere kürzte er die Texte, mit dem Leimstift klebte er sie wieder zusammen; er träumte davon, in fernen Ländern unterwegs zu sein und grosse Reportagen auf seiner Hermes Baby zu tippen.

Der Vermisste vom Vierwaldstättersee

Подняться наверх