Читать книгу Der Vermisste vom Vierwaldstättersee - Martin Widmer - Страница 20
10
ОглавлениеMit dem Tram fuhr Mattmann vom Sihlquai zum Central und hinauf ins Hochschulquartier. Er hatte ein schlechtes Gewissen, dass er das Mittagessen mit seiner Mutter vergessen hatte. Noch mehr plagte ihn, dass er viel zu wenig Zeit für sie hatte, da er im Ausland lebte. Jedes Mal, wenn er auf Heimaturlaub in der Schweiz war, nahm er sich vor, sich ihr mehr zu widmen, doch es gelang ihm nie. An ihm alleine lag es aber nicht. Sie machte es ihm nicht einfach.
Bei der Haltestelle Seilbahn Rigiblick stieg er aus. Nach wenigen Minuten kam er zum gepflegten Mehrfamilienhaus, wo seine Mutter wohnte. Er läutete an der Wohnungstüre und warf einen Blick auf seine ausgetragenen schwarzen Jeans. Er hätte die andere Hose anziehen sollen.
«Entschuldige bitte, dass ich so spät dran bin», sagte Mattmann, als sie öffnete. Nervös fingerte er an der Kette seiner Taschenuhr.
«Du hattest die Zeit noch nie im Griff», sagte sie und bat ihn herein. «Du könntest dir endlich eine anständige Armbanduhr kaufen», doppelte sie nach. «Oder besser, ich schenke dir eine.»
Er liebte seine Taschenuhr, kein wertvolles Modell, er musste sie jeden Abend aufziehen, und ganz genau ging sie nicht. Er trug sie mehr zur Zier, zauberte sie manchmal hervor wie ein Taschenspieler oder auch nur, um zu demonstrieren, dass er sich von der Zeit nicht hetzen liess. Doch das verstand seine Mutter nicht. Er musste um jeden Preis verhindern, dass sie ihm eine dieser protzigen Armbanduhren schenkte.
«Danke», wehrte er ab, «es ist ein Geschenk von Gina.»
«Gina», sagte sie. «Hast du deine Frau nicht mitgebracht?»
«Sie kommt erst am Sonntag nach. Habe ich dir das am Telefon nicht gesagt?»
«Mittwoch, hast du mir gesagt. Und heute ist Mittwoch.»
«Ursprünglich war es so geplant. Doch in der Klinik ist etwas dazwischengekommen. Sie ist sehr beschäftigt.»
«Immer ist sie sehr beschäftigt. Zum Kindermachen hatte sie ja auch nie Zeit.»
«Mutter!»
«Oder liegt es an dir?»
«Können wir über etwas anderes sprechen?», fragte Mattmann. Er spürte, wie ein Groll in ihm aufstieg. Doch er fasste sich schnell und versuchte eine gute Miene zu machen, sie sahen sich ja so selten. Magdalena Mattmann war über achtzig Jahre alt, hatte ein kantiges Gesicht und eine spitze Nase. Ihre Haare waren rotbraun wie eh und je. Wie immer war sie elegant gekleidet und trug auch zu Hause Schuhe mit hohen Absätzen.
Sie führte ihn ins Wohnzimmer und zeigte auf den runden Nussbaumtisch, den sie für drei gedeckt hatte.
«Ich habe schon gegessen», sagte er.
Empört schaute sie ihn an. «Dann habe ich vergeblich gekocht!»
Mattmann wusste, sie hatte etwas in der Traiteurabteilung eingekauft. Kochen war nie ihr Ding gewesen.
«Nimmst du wenigstens einen Kaffee? Oder lieber Tee?», fragte sie.
«Gerne einen Schwarztee.»
Während sie in die Küche ging, blieb er vor dem grossen Büchergestell stehen. Auch im hohen Alter las Magdalena Mattmann noch jeden Abend bis spät in die Nacht, vor allem Romane und Biografien. Mit Leidenschaft ging sie ins Schauspielhaus oder in die Oper.
«Erzähl von dir», forderte sie ihn auf, als sie mit einer Kanne Tee und zwei Tassen zurückkam. Sie setzten sich ins Ecksofa, einander schräg gegenüber.
«Wo soll ich beginnen? Fang du an», gab er ihr den Ball zurück.
«Du weisst ja, was mich interessiert: Hast du über eine Rückkehr in die Schweiz nachgedacht?»
«Gina will in Stockholm bleiben, sie hat ihre Patienten dort.»
«Und du?»
«Wenn ich pensioniert werde, möchte ich mehr Zeit auf der Insel verbringen.»
«Wird es einem dort nicht schnell langweilig?», fragte sie.
Mattmann schwieg.
«Sammelst du eigentlich noch Schmetterlinge?»
«Es war dein Hobby, nicht meines.» Er winkte ab.
«Du hast sie doch so gerne aufgepinnt.»
Mattmann erinnerte sich, wie er immer drei zusammen in eine Art Einmachglas legen musste. Die Flügel zusammengeschlagen, rührten sie sich nicht. Aber sie lebten noch. Der Boden des Gefässes war mit einem Wattebausch belegt, den er zuvor mit ein paar Tropfen Zyankali getränkt hatte. «Deckel zu», mahnte ihn seine Mutter, wenn er zögerte. Sobald sie aufhörten zu zucken, durfte er keine Zeit verlieren: Mit Nadeln fixierte er die Schmetterlinge in der Steckschachtel, so wie sie am Schluss im Schaukasten zu sehen waren. Die Flügel schön ausgebreitet.
Mattmann fühlte sich unbequem im weichen Sofa. Er stand auf und ging im Wohnzimmer auf und ab.
«Willst du schon wieder gehen?», fragte sie
«Wir müssen noch etwas besprechen», begann er.
«Setz dich, du machst mich nervös.»
Er nahm einen Stuhl vom Esstisch, doch dann stellte er ihn wieder zurück und blieb vor ihr stehen. «Hast du einen Alois Brunner gekannt?»
«Muss ich den kennen?»
«Rahel hat so etwas angetönt.»
«Rahel?»
«Rahel Reinhart, du weisst, meine Freundin von einst.»
«Bist du wieder mit ihr zusammen?»
«Wie kommst du darauf?»
«Weil du ohne Gina gekommen bist.»
«Das habe ich dir eben erklärt.»
«Nicht mogeln, mein lieber Koni», sagte sie mit einem maliziösen Lächeln. «Das wäre doch schön. Du und Rahel, ihr habt euch immer gut verstanden. Wenn du nur nicht nach Australien geflogen wärest.»
«Oh, Mama.»
«Das wär doch ein Grund, wieder zurück in die Schweiz zu kommen.»
«Schluss jetzt! Ich bin glücklich mit Gina. Und glücklich in Schweden.»
«Wenn du meinst.»
Mattmann setzte sich seiner Mutter gegenüber. «Rahel arbeitet jetzt bei der Kriminalpolizei», sagte er, «und untersucht den Fall Brunner.»
«Was hat dieser Brunner denn verbrochen?»
«Er wird verdächtigt, mit dem Tod seiner Frau etwas zu tun zu haben.»
«Und? Hat er das?»
«Er sitzt in Untersuchungshaft. Weisst du das nicht?»
«Ich habe keinen Fernseher. Und in der Zeitung habe ich nichts gelesen.» Sie wischte ein Staubkorn vom Salontisch. Dann erhob sie sich aus dem Sofa und ging mit den beiden leeren Tassen in die Küche. Mattmann hörte, wie sie in der Küche hantierte. «Ich suche überall nach etwas Süssem für dich», rief sie, «aber ich glaube, ich habe nichts im Haus.»
«Nicht nötig», sagte er.
Sie kam aus der Küche zurück und öffnete den alten Sekretär, in den sie eine Bar hatte einbauen lassen.
«Willst du einen Schnaps?»
«Danke, nein.»
«Aber ich brauche jetzt etwas Starkes», sagte sie und schenkte sich einen Cognac ein. Im Stehen trank sie einen grossen Schluck und schenkte sich nach. Dann kam sie mit dem Glas zum Sofa und setzte sich neben ihn. Eine Weile sassen sie stumm nebeneinander. Dann drehte sie sich ihm zu. «Es ist ganz gut, dass wir das unter vier Augen besprechen. Denn es ist an der Zeit, die ganze Geschichte ad acta zu legen.»
«Welche Geschichte?»
«Wer dein Vater ist.»
Mattmann war es, als würde sich unter ihm ein tiefes Loch öffnen. Er wagte nicht, hinunterzuschauen.
«Das wolltest du schon lange wissen», sagte sie.
Als Kind hatte er sie oft danach gefragt, meistens hatte er schnell aufgegeben. Dann war diese Frage für ihn plötzlich nicht mehr so wichtig gewesen. Was aus ihm werden sollte, war kompliziert genug.
«Also», begann seine Mutter, «Alois Brunner ist dein Vater.»
Mattmann spürte, wie sich etwas in ihm verkrampfte. Wie es ihm die Kehle zuschnürte. Aber nicht der alte Brunner vom Chalet, wollte er entgegnen, brachte jedoch keinen Ton heraus. Er starrte vor sich hin.
«Hast du mich verstanden?», fragte sie.
Langsam drehte er sich ihr zu. Er sah den harten Zug um ihren Mund.
«Warum sagst du nichts?», fragte sie.
Er musste ruhig Blut bewahren, sagte er sich. Warum schaltete er seine Gefühle immer aus, wenn es brenzlig wurde? Statt aufzubrausen, versuchte er vernünftig zu überlegen und fragte sich, warum sie ihm das gerade heute erzählte. So wie er seine Mutter kannte, wusste sie, wenn es nur noch eines gab: Flucht nach vorne. Sie hatte bestimmt in der Zeitung von der Untersuchung gegen Brunner gelesen und fürchtete, dass da einiges zum Vorschein kommen könnte. Es musste Leute geben, die von ihrem Verhältnis zu Brunner wussten.
«Am Telefon wollte ich es dir nicht sagen. Aber jetzt, wo du hier bist, können wir das in Ruhe besprechen», sagte sie.
Er spürte, dass etwas in ihm aufstieg. War das Wut? Wut auf sich, dass er sich so lange mit dem Schweigen seiner Mutter abgefunden hatte? Wut auf seine Mutter?
«Erledigen wir das, ein für alle Mal», fuhr sie fort.
«Du glaubst, man kann das einfach mir nichts, dir nichts erledigen! Wie eine leidige Sache einfach aus der Welt schaffen», sagte er. Sein Kopf war hochrot angelaufen.
«Lass uns vernünftig miteinander sprechen», versuchte sie ihn zu beruhigen. «Ich werde dir alles erklären.»
Nun brach ein Damm in seinem Innern. Er schlug mit der Faust auf den Salontisch und schrie: «Alles will ich wissen! Diesmal will ich wirklich alles wissen!»
«Hör mir zu», sagte sie und fixierte ihn mit ihren kalten blaugrauen Augen.
«Behandle mich nicht wie ein Kind. Ich bin nicht mehr dein kleiner Junge.»
Mit keiner Silbe ging sie auf seine Empörung ein. Sie streckte ihren Rücken durch und setzte zu einer längeren Rede an, gut vorbereitet, wie er sofort merkte. «Als junge Sekretärin habe ich auf der Direktion eines Sprengstoffunternehmens gearbeitet. Ich habe die Lohntüten füllen müssen, denn damals sind die Löhne bar ausbezahlt worden, alle zwei Wochen.»
Sie vergewisserte sich, dass er ihr folgte. «Die Direktion und der eine Produktionsstandort befanden sich in Liestal, der andere hinten am Vierwaldstättersee, an einem abgelegenen Ort. Der Chefbuchhalter fuhr jeweils mit dem Firmenwagen dorthin, auf der Rückbank zwei Holzkistchen mit den Lohntüten für die Angestellten und die Arbeiter. Als er einmal krank war, sprang ich ein. Du musst wissen, ich war damals eine der wenigen Frauen mit Führerausweis.»
Sie schaute ihren Sohn triumphierend an und fuhr fort: «Wenige Tage zuvor war die schmale Strasse zur Sprengstofffabrik verschüttet worden. Am Schiffssteg in Flüelen wartete daher das elegante Motorboot auf mich, das nur für Geschäftskunden und die Direktion eingesetzt wurde. Am Steuerrad ein Mann in einem verblichenen blauen Arbeitsoverall. Mit zwei Fingern steuerte er das Schiff über den See. Die Hände sind mir sofort aufgefallen. Kräftige Hände, aber nicht die eines Arbeiters. Und gar nicht scheu war er. Weisst du, was er mich gefragt hat?»
Mattmann schüttelte den Kopf.
«Ob wir mit den Lohntüten abhauen wollen.» Sie lächelte. «Ob du es glaubst oder nicht, ich wäre mit ihm gleich nach Paris durchgebrannt. Schockiert dich das?»
«Weshalb sollte es?», fragte er.
Sie holte tief Luft. «Diese Hände! Was für ein Mann!» Sie schloss einen Moment lang die Augen. «Alois kam mich an den Sonntagen mit seinem Motorrad in Liestal besuchen. Einmal ist er sogar eine Treppe hinuntergefahren, um mich zu beeindrucken. Abends fuhr er wieder zurück an den Urnersee. Es blieb uns jeweils nicht viel Zeit.»
So hatte Mattmann seine Mutter noch nie erzählen gehört. Mit so viel Wärme in ihrer Stimme. Mit einem Strahlen in ihren Augen.
«Er kam aus einer mausarmen Bergbauernfamilie, meine Vorfahren dagegen waren Unternehmer, mein Vater ursprünglich Theologe. Das fand ich spannend, diese Unterschiede der Herkunft, während er sich schämte. Kein Problem, dachte ich, verstand aber schon bald, nie hätte er mit seinem Lohn als Arbeiter eine ganze Familie ernähren können, mein lieber Wisel.»
«Wisel?»
«Die Abkürzung für Alois. So üblich in der Innerschweiz, wo er herkommt.»
«Wie das kleine Raubtier Wiesel?»
«Mit kurzem ‹i›. Schlank und flink war er. Und auch eher ein Einzelgänger. Aber gross und muskulös. Und etwas naiv. Wisel beteuerte, sich weiterbilden und Chemie studieren zu wollen. Doch er hatte keine Ahnung, wie lange das gedauert hätte – erst die Matura nachholen und dann das Studium. Da stellte ich fest, dass ich schwanger war.»
«Mit mir?»
«Genau.»
«Und warum habt ihr nicht geheiratet?»
«Er liess mich sitzen.»
«Hat er wenigstens für meinen Unterhalt bezahlt?»
«Keinen roten Rappen.»
«Und wie bist du über die Runden gekommen?»
«Alleine.»
«Hat dich Grossvater nicht unterstützt? Geld war ja genug da.»
«Ich wollte auf eigenen Beinen stehen. Daher ging ich nach Zürich, wo ich eine gute Arbeit gefunden habe. Da war ich froh, dass du unter der Woche ab und zu bei deinen Grosseltern in Sternenberg warst.»
«Ab und zu? Ich war die ganze Zeit bei ihnen, bis ich ins Gymnasium kam.»
«Aber die Wochenenden haben wir gemeinsam verbracht. Und alle Ferien.»
«Nicht ganz alle, soweit ich mich erinnere», sagte er und stand auf.
Seine Mutter räusperte sich. «Du kannst dir nicht vorstellen, wie das damals war, als alleinstehende Mutter, Ende der fünfziger Jahre. Davon habe ich Rahel einmal etwas erzählt.»
«Was weiss sie mehr?»
«So genau kann ich mich nicht erinnern, worüber wir damals alles gesprochen haben.»
«Du weisst es haargenau!» Mattmann konnte die Wut auf seine Mutter nicht länger zurückhalten. «Ihr hast du erzählt, wer mein Vater ist. Und mir nicht!»
«Rahel wäre eine gute Schwiegertochter geworden. Da hast du etwas versäumt.»
«Darum geht es doch nicht, Himmelherrgott!»
«Mit ihr wärst du in der Schweiz geblieben.»
«Du denkst nur an dich.»
«Beruhige dich», entgegnete sie. «Lass uns wie zwei Erwachsene miteinander sprechen.»
Er hatte genug gehört. Er musste weg. Bevor er etwas entgegnete, das er nicht mehr zurücknehmen konnte. Ohne sich zu verabschieden, schletzte er die Türe hinter sich zu und ging. Mit grossen Schritten stieg er den steilen Weg hinauf bis zum Hotel Rigiblick. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, er musste sich Luft verschaffen. Und einen Überblick. Doch die Stadt und der Uetliberg lagen im Dunst.