Читать книгу Der Vermisste vom Vierwaldstättersee - Martin Widmer - Страница 9
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ОглавлениеEr ging zur Rolltreppe, fuhr hinunter, zuerst ein Stockwerk und dann noch eines, bis er auf dem Perron stand. Im unterirdischen Bahnhof des Flughafens Zürich war es unangenehm kühl. Seine alte Heimat besuchte Konrad Mattmann nicht freiwillig, und dass der Hin- und Rückflug bezahlt wurde, machte die Sache nicht besser. Er wusste, sein Job als Auslandkorrespondent hing an einem seidenen Faden. Bei den rückläufigen Leserzahlen und den schwindenden Werbeeinnahmen wurde an allen Ecken und Enden gespart. Er hatte einen Termin beim Leiter der Auslandredaktion. War sein Posten in Stockholm gestrichen worden?
Im Intercity fuhr er nach Winterthur, dann wechselte er auf den Regionalzug, den «Tösstaler». In Turbenthal stieg er aus. Es war heiss, und er war durstig. Mattmann zog seinen kleinen Rollkoffer über den Platz zum «Schwanen» und wollte sich an einen Tisch auf der Terrasse setzen, doch es gab keine Sonnenschirme. Das alte Bahnhofsrestaurant war kein Ort, der Ausflügler anzog. Er trat in die dunkle Gaststube und bestellte ein Bier. Nur ein einzelner Gast sass am runden Tisch beim Buffet und blätterte in einer Zeitung.
Mattmann setzte sich in die Ecke. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das schummrige Licht. Die Tische und Stühle waren aus dunkel gebeiztem Holz, ebenso die Decke. Die Kellnerin brachte ihm das Bier, ohne ein Wort zu sagen. Das war ihm recht. Er war nicht auf Reportagereise. Er brauchte Ruhe, um in seiner alten Heimat anzukommen, und hatte keine Eile. Statt das Postauto zu nehmen, das ihn direkt ins «Gyrenbad» gebracht hätte, wollte er zu Fuss gehen. Schon letzten Sommer hatte er während seines Heimaturlaubs dort logiert. Das ehemalige Badehotel im Tösstal, sorgfältig restauriert und mit einer guten Küche, lag eine Stunde von Zürich entfernt, genau der richtige Abstand, um sich auf den Besuch in der Redaktion und bei seiner Mutter vorzubereiten.
Er trank sein Bier, bezahlte und bat die Kellnerin, seinen kleinen Koffer hinter der Theke deponieren zu dürfen. Jemand vom «Gyrenbad» würde ihn abholen, erklärte er ihr.
Ohne Gepäck ging er los, über den leeren Parkplatz des Einkaufzentrums, vorbei am Schuhladen und der Metzgerei. Alle Läden waren geschlossen, es war Sonntag.
Bei der Kreuzung bog er ab und suchte nach dem Wanderweg. Es war niemand auf der Strasse, den er hätte fragen können, doch auf seinem Mobiltelefon hatte er die Karte «Schweiz mobil» geladen. Es gab einen kurzen, steil ansteigenden Weg durch den Wald, der in einer halben Stunde zum Gasthof führte. Er wählte die längere Variante dem Hutzikerbach entlang Richtung Schauenberg. Ein Umweg, den er gerne einschlug. Er kam am Schützenhaus vorbei, die blau-weiss gestreiften Läden waren geschlossen. Wenigstens sonntags wurde auf der Dreihundert-Meter-Schiessanlage nicht geschossen. Zwischen März und Oktober herrschte jedoch reger Betrieb: Obligatorische und freie Übungen, ein Feierabend-Cup und das Ratsherrenschiessen standen auf dem Programm der beiden Schiessvereine Turbenthal-Neubrunn und Schmidrüti-Sitzberg.
Mattmann hatte ein ungutes Gefühl, wenn er an die Schiessübungen dachte, die er in seinen jungen Jahren im Militärdienst leisten musste. Seit er als Korrespondent im Ausland lebte, war er zum Glück davon befreit, musste allerdings eine saftige Steuer bezahlen.
Der Weg führte weiter dem Bach entlang durch ein schattiges Tal und stieg langsam an. Ein feiner Rauch lag in der Luft, irgendwo wurden Würste über dem offenen Feuer gebraten. Junge Eltern mit ihren Kindern kamen ihm entgegen. Sie grüssten freundlich, auch wenn sie ihn nicht kannten. Mattmann grüsste zurück. Mit seinem Grossvater hatte er als Kind lange Wanderungen unternommen, und wenn er müde wurde, nahm ihn sein Grossvater an der Hand. Stundenlang hätte er an dessen grosser warmer Hand weitergehen können; durchs ganze Leben würde sie ihn führen, so hatte er damals gedacht. Mattmann überlegte, wann sein Grossvater gestorben war, doch er konnte sich weder an das Datum noch an die Jahreszahl erinnern.
Beim Abzweiger zur Burgruine Schauenberg ging er geradeaus Richtung «Gyrenbad». Er kam über eine Waldlichtung und stand plötzlich vor dem Haus von Alois Brunner. Letztes Jahr hatte er mit ihm ein paar Worte gewechselt. Gesprächig war Brunner nicht gewesen, doch etwas faszinierte Mattmann an diesem alten Mann. Mit seiner Frau hatte er sich länger unterhalten, sie hatte alles über Königin Silvia und den Nachwuchs im schwedischen Königshaus wissen wollen. Nun waren die Läden des dunkelbraunen Chalets geschlossen. Ein schwarzer Schmetterling sass regungslos auf der obersten Treppenstufe.