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«Ihre Frau hat aus Schweden angerufen», sagte Elise Manz, als Mattmann den Zimmerschlüssel verlangte. «Sie liess ausrichten, sie sei bis acht Uhr im Spital erreichbar.»

«Danke», sagte Mattmann und ging auf sein Zimmer. Gina rief ihn während seiner Reisen nur an, wenn es wirklich wichtig war, ansonsten verkehrten sie per Mail oder SMS. Im Zimmer wählte er ihre Nummer im Astrid Lindgrens barnsjukhus, wo sie als Kinderärztin arbeitete. Eine Sekretärin nahm den Anruf entgegen und verband ihn nach einer kurzen Wartezeit.

«Was ist los?», fragte er.

«Wegen einer Sommergrippe sind hier am Spital mehrere Ärzte ausgefallen. Ich kann nicht weg.»

«Ihr habt einfach zu wenig Personal.»

«Schimpf nicht wieder über das schwedische Gesundheitssystem.»

«Staatsmedizin. Hoffnungslos», sagte er.

«Das kannst du in deiner konservativen Zeitung schreiben. Aber lass mich damit bitte in Ruhe.»

«Und du lässt mich hier allein sitzen.»

«Sei ehrlich, das kommt dir doch ganz gelegen. Ein paar Tage nur für dich in deiner alten Heimat. Du kannst ein paar Kontakte pflegen. Oder was weiss ich.»

Er antwortete nicht.

«Come stai, Koma?», fragte sie.

Er liebte es, wenn sie ihn Koma nannte, mit einem italienisch angehauchten «K».

«Amore, tutto bene?», fragte Gina nach.

«Alles bestens.»

«Warst du schon auf der Redaktion?»

«Noch nicht.»

«Und bei deiner Mutter?»

«Auch noch nicht.»

Beide schwiegen einen Moment.

«Wann kommst du nach?», fragte er.

«Ich melde mich, sobald der Einsatzplan klar ist. Bis bald! Ciao.»

Konrad Mattmann blieb sitzen und dachte nach. Sie führten beide ihr eigenes Leben, Gina als Ärztin, rund um die Uhr im Spital, er als Journalist, immer unterwegs. Es war ein Wunder, dass sie nach all den Jahren noch zusammen waren. Er erinnerte sich, wie sie sich in einem Café in Berlin getroffen hatten. Beide waren neu in der Stadt, sie arbeitete als Assistentin in der Kinderklinik an der Charité, er als Auslandkorrespondent, der über Deutschland berichtete. Dass er seine Artikel mit der Abkürzung «Koma» zeichnete, hatte sie amüsiert. Anfangs ärgerte er sich, wenn sie ihn mit seinem Kürzel neckte.

Mit der Zeit wurde «Koma» zu seinem Kosenamen. Gina schaute ihm gerne über die Schultern, wenn er seine Artikel tippte. Dann drehte er den Kopf und hörte auf mit Schreiben. «Mach nur weiter», sagte sie und strich ihm durch die Locken. Anfangs hatte er Mühe, sich dann noch auf seine Arbeit zu konzentrieren. Je länger, je mehr liebte er es beim Schreiben, wenn sie im selben Raum war und er ihr den einen oder anderen seiner Sätze laut vorlesen konnte oder nur ein Wort, bei dem er unsicher war, ob es so stimmte. Obwohl Deutsch nicht Ginas Muttersprache war, hatte sie ein gutes Gefühl für diese Sprache. Als Ärztin hatte sie gelernt, gut zuzuhören, auch auf das, was die Patienten ihr nicht erzählten oder nur zwischen den Zeilen versuchten anzutönen.

Seit mehr als sieben Jahren lebten sie nun in Stockholm, von wo aus er über alle skandinavischen Länder berichtete. Sein Korrespondentenposten war jedoch alles andere als gesichert. Er war sechzig Jahre alt geworden, ob er seinen Job mit all seinen Freiheiten bis zur Pensionierung behalten konnte, stand in den Sternen. Zurück auf die Redaktion nach Zürich wollte er auf keinen Fall.

Er stand auf, schloss das Zimmer ab und ging langsam die Treppe hinunter. Im ersten Stock angekommen, ging er den Korridor entlang und blieb vor der offenen Türe des Damensalons stehen. Die Wände waren mit einer dunkelroten Stofftapete bezogen, schwere braune Vorhänge hingen links und rechts der Fenster, auf dem Salontisch standen benutzte Teetassen und ein Teller mit übrigem Teegebäck.

Er trat ein und schnappte sich eines, dann schaute er sich um. Der Schrank mit den Glastüren war voll von alten Büchern. Mattmann liess die Augen über die Buchrücken schweifen, den Kopf leicht seitwärts gesenkt, damit er die Titel und Namen der Autoren besser lesen konnte. Beim «Begleiter auf der Reise durch die Schweiz» stoppte er. Er öffnete den Schrank und nahm das Buch zur Hand. Es war ein alphabetisch geordnetes Verzeichnis aller Gasthöfe der Schweiz, erschienen 1840. Die Seiten waren vergilbt, einige waren von Stockflecken befallen. Die Gasthöfe wurden mit ihren Annehmlichkeiten beschrieben, die einen ausführlich und mit einem Stich illustriert, die anderen nur kurz.

Die Abbildung des «Gyrenbads» zeigte das alte Gasthaus mit grossem Giebeldach und zwei Anbauten, dem moderneren Gästetrakt mit einer grossen Terrasse. Äusserlich hatte sich die letzten hundertsiebzig Jahre kaum etwas verändert, stellte er fest. Zum damaligen Badebetrieb las er: «Im neuen Bau befinden sich im Erdgeschoss und zweiten Stock zwei Badesäle, wovon einer eine geschlossene Abteilung hat. Im dritten Stock sind sehr schöne, gut möblierte Wohnzimmer mit herrlicher Aussicht gelegen.» Er schreckte auf, als Elisa Manz mit einem leeren Tablett eintrat, um das Teegeschirr abzuräumen. Sie bemerkte das Buch in seiner Hand.

«Der Leuthy hat das schön beschrieben in seinem Reiseführer», sagte sie.

«Das ‹Gyrenbad› scheint eines der ältesten und bekanntesten Badehotels zu sein.»

«Ach», sie winkte ab, «es war immer nur ein Kaltwasserbad. Von warmem Thermalwasser keine Spur. Von dieser Art Bädli gab es damals in der Schweiz Hunderte.» Sie wischte mit der Hand ein paar Krümel vom Salontisch, dann nahm sie das Tablett auf und fragte: «Nehmen Sie Tee? Kaffee? Oder lieber ein Glas Wein?»

«Etwas Roten, gerne einen Merlot aus dem Tessin, wenn Sie so einen hätten.»

«Ich habe einen guten Tropfen für Sie. Er geht aufs Haus. Als Dank, dass Sie mich heute an die Abdankung begleitet haben.»

«Stand Ihnen Lina Brunner nahe?», fragte er.

«Die letzte Zeit habe ich sie selten gesehen. Aber ihr Mann kam manchmal abends etwas trinken. Allein.»

«War seine Frau sehr krank?»

«Er hat nie etwas erzählt. Er ist so ein verschlossener Mensch.»

Als sie mit dem Merlot zurückkam, sass Mattmann auf dem Sofa und bat sie, ihm mehr über die Geschichte des «Gyrenbads» zu erzählen.

«Vornehm ging es bei uns nie zu und her», begann sie und hielt sich an einer Stuhllehne fest. «Anders als in den grossen Thermalbädern von Baden oder Bad Ragaz. Zehn Zimmer hatten wir, mehr nicht. Zu uns kam die Frau des Metzgers. Oder der Herr Pfarrer.»

«Wurde da mehr als gebadet?»

«Das kann man sagen! Das war wie eine Insel in den prüden protestantischen Landen.» Sie lächelte und steckte ihre Hände in die Schürzentasche. «Ich möchte nicht wissen, wie viele uneheliche Kinder in unseren Gästezimmern gezeugt worden sind.» Sie ging zum Bücherschrank, bückte sich mühsam und suchte einen Band auf dem untersten Gestell, bis sie das in Leder eingebundene Gästebuch fand. Sie setzte sich damit auf das Canapé neben Mattmann und fuhr mit dem Finger Zeile um Zeile über die Seiten, bis sie bei einem Namen stehen blieb. «Graf von Eichenberg. Das war unser berühmtester Gast. Er lud alle Kinder des Dorfes an seinem Geburtstag zu einem Imbiss ein. Und machte sich am Ende seines Aufenthaltes aus dem Staub, ohne die Rechnung zu bezahlen.»

«Ein falscher Graf?»

«Ein Hochstapler. Aber als Journalist sind Sie an anderen Geschichten interessiert.»

«Hotelgeschichten interessieren mich immer. Und wo ist die Blüte der Hotelkultur schöner erhalten als in Ihrem Gasthof?»

«Sie Schmeichler», sagte Elise Manz und stand auf. Sie bemerkte, dass er keinen Wein mehr hatte. «Noch einen Zweier? Und vielleicht etwas Käse und Rauchwurst dazu?», fragte sie. «Es hat noch viel übrig vom Leidmahl.»

«Eigentlich bin ich satt, aber etwas Süsses nähme ich gerne, Sie wissen, was ich mag. Und dazu einen Kaffee.»

Die alte Wirtin kam mit einem Stück Apfeltorte und dem Kaffee zurück, dazu brachte sie ein Gläschen Kirsch. Sie setzte sich neben Mattmann, der sich ein grosses Stück auf die Kuchengabel lud, und schaute ihm zu, wie er ass. Dann sagte sie: «Am meisten tut mir David leid.»

«David?»

«Brunners Sohn. Ich kenne ihn schon seit Kindsbeinen. Ein verschupfter Bub.»

«Was war mit ihm?»

«Sein Vater war so streng mit ihm. David konnte es ihm nie recht machen. Wenn ich nur wüsste, wie ich ihm helfen könnte.»

Der Vermisste vom Vierwaldstättersee

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