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Rahel hatte eine Besprechung auf der Quartierwache Hottingen an der Gemeindestrasse. Statt mit dem Tram zurück ins Büro an der Kasernenstrasse zu fahren, ging sie zu Fuss über den Heimplatz und die Rämistrasse hinunter. An der Tramhaltestelle wartete Mattmann wie abgemacht. Auf dem Weg zu ihrem Büro erzählte er ihr von seinem ernüchternden Besuch auf der Auslandredaktion und dass er sich wahrscheinlich nach etwas Neuem umschauen müsse.

«Kommst du zurück in die Schweiz?», fragte sie und blieb mitten auf der Quaibrücke stehen.

«Kaum. Es ist mir irgendwie zu eng hier.»

«Zu eng? Hier?»

«Vom Blick über den See kann ich nicht leben. Ich liebe das Meer und die weiten Landschaften.»

«Noch immer ein lonely wolf?»

Mattmann gab keine Antwort. Sie gingen zum Bürkliplatz und weiter zum Paradeplatz.

«Mein Job gibt mir viel Freiheit», sagte er nach einer Weile. «Die würde ich hier vermissen.»

«Träumst du noch immer von der grossen Freiheit?»

«Ja.»

«Du warst schon immer ein Romantiker.»

«Ein romantischer Realist.»

Rahel lachte. «Was soll dieser Widerspruch?»

«Der Mensch ist ein widersprüchliches Wesen», versuchte es Mattmann in scherzhaftem Ton.

«Etwas einfach gestrickt, mein Lieber. Du wolltest damals einfach weg.»

«Ich hatte einen Plan.»

«Davon erfuhr ich erst, als du den Vertrag für den Posten in Australien bereits unterschrieben hattest.»

«Unterschrieben, aber noch nicht abgeschickt.»

«Das ist spitzfindig. Was aus uns werden sollte, interessierte dich nicht.»

Sie überquerten die Sihl.

«Wir hätten zusammen Australien und Neuseeland bereisen können.»

«Das hast du dir vielleicht so vorgestellt», sagte Rahel. «Doch ich wollte nicht weg, ich hatte eine Aufgabe. Ich wollte die Schule verändern.»

«Und was ist daraus geworden?»

«Die Schule ist wie ein Supertanker, den Kurs kannst du nur gradweise ändern. Keine schnellen Manöver.»

«Ist das anders bei der Polizei?», fragte Mattmann.

Rahel blieb vor einem Bürogebäude mit silberner Fassade stehen. «In der Abteilung ‹Leib und Leben› können wir nicht lange fackeln», sagte sie und zog den Badge aus der Tasche ihrer engen Jeans.

Sie lud ihn ein, einen Blick auf ihren Arbeitsplatz zu werfen. Durch einen langen Korridor gingen sie bis zu Rahels Büro. Auf dem Schild am Türrahmen stand: «Fw Rahel Reinhart».

«Fw?», fragte er. «Im Militär stand diese Abkürzung für Feldweibel.»

«Genau, das ist mein Dienstgrad. Feldweibel mit besonderen Aufgaben.»

«Kriminalkommissarin würde schöner tönen.»

«Das gibt es nur in Basel und in Deutschland. Sowie im Fernsehen», sagte sie und liess sich auf ihren Stuhl mit der abgewetzten Sitzfläche fallen. Sie machte ihm ein Zeichen, sich zu setzen. Ein Gestell voller Ordner machte den schmalen Raum noch enger.

«Hier löst du also deine Fälle.»

«Mit den einen geht es schneller, mit den andern langsamer», sagte sie und suchte in der Beige auf ihrem Pult nach einem Papier.

«Und wie viele davon bleiben ungelöst?», fragte Mattmann weiter.

«Cold Cases gibt es bei mir nicht. Ich bleibe dran.»

«Du warst schon immer hartnäckig.»

«Wenn es in der ersten Woche jeweils nicht gelingt, die entscheidenden Hinweise zu finden, wird es langwierig.»

«Wie lange ermittelst du schon im Fall Brunner?»

«Drei Wochen und vier Tage, wenn du es genau wissen willst. Damals wurde Lina Brunner tot aufgefunden.»

«Neue Erkenntnisse?»

«Für die Resultate muss ich dich auf die nächste Medienorientierung verweisen.»

«Ich bin nicht als Journalist hier», wandte Mattmann ein, «sondern ganz privat.»

«Wirklich?», fragte Rahel.

«Mit meiner Arbeit hat das nichts zu tun.»

«Gut so», sagte Rahel und schaute ihm in die Augen. Einen Moment zu lang, befürchtete sie, und mit einem Anflug von Sehnsucht, spürte sie. Das sollte er nicht merken.

Sie war froh, dass Ronald Zimmermann, ein gross gewachsener Mann in dunkelblauem Anzug und mit einer gestreiften Club-Krawatte, durch die offene Türe trat. Er fragte Rahel, ob sie fürs Mittagessen schon etwas vorhabe. Als er Mattmann bemerkte, trat er einen Schritt zurück. «Ich habe nicht bemerkt, dass du in einer Sitzung bist.»

«Nur ein alter Bekannter», sagte sie. «Er wollte mal schauen, wo ich arbeite.»

«Viel Schreibtischarbeit, wie Sie sehen», sagte Zimmermann. Er war forensischer Psychiater, machte für die Staatsanwaltschaft Tätergutachten und hatte auch einen Lehrauftrag an der Universität. «Der Alltag mit AgTs ist nicht annähernd so spannend, wie das in den Krimiserien im Fernsehen dargestellt wird», fuhr er weiter.

«AgTs?»

«Aussergewöhnliche Todesfälle. Entschuldigen Sie die Fachterminologie. Unsere erste Frage lautet immer: Handelt es sich um einen natürlichen Tod oder um Fremdeinwirkung? Ein natürlicher Tod», dozierte er, «darf nur dann bescheinigt werden, wenn die Grunderkrankung bekannt und der Eintritt des Todes aufgrund des Krankheitsverlaufs plausibel ist. Und Fremdeinwirkung ausgeschlossen werden kann.»

«Stopp! Keine Vorlesung in Rechtsmedizin», sagte Rahel.

«Klar, ihr habt sicher Angenehmeres zu besprechen», sagte Zimmermann. «Ihr wollt bestimmt zu zweit essen gehen.»

«Wir können auch zu dritt gehen», sagte Rahel schnell.

«Einfacher Lunch? Oder raffinierte Küche?», fragte Zimmermann.

«Ein Ort, wo man nicht lange warten muss», antwortete Rahel.

«Dann gehen wir in den ‹Bernerhof›, schneller Service und gutes Essen», schlug er vor. Rahel nickte und stand auf.

Draussen war es heiss. Sie waren froh, dass sie nur ein paar Schritte gehen mussten.

***

Zum pochierten Dorschfilet auf frischem Spinat hatte Zimmerman eine kleine Karaffe mit Räuschling bestellt. Er erzählte von der alten Traubensorte, die von einigen wenigen Weinbauern am Ufer des Zürichsees wieder angebaut werde. Als sie anstiessen, war Mattmann unsicher, ob er ihn duzen konnte, daher blieb er sicherheitshalber beim Sie. In Schweden sprach man alle mit Vornamen an, unabhängig von sozialer Schicht oder Titel.

«Gibt es im Fall Brunner ein Motiv?», fragte Mattmann.

Zimmermann winkte ab.

«Aussagen, die ihn belasten?»

«Keine. Und selbst sagt er gar nichts», hielt Rahel fest.

«Hat ein Verdächtigter das Recht, die Aussage zu verweigern?», fragte Mattmann hartnäckig weiter.

«In einem solchen Fall kommt der Grundsatz ‹Nemo tenetur› zum Zug», antwortete Zimmermann. «Niemand muss sich selbst belasten.»

«Und wenn der Verdächtige mit seinem Schweigen die Untersuchung behindert?»

«Wir können ihn nicht zwingen, mitzuwirken. Und aus dieser Verweigerung dürfen einer beschuldigten Person keine negativen Konsequenzen erwachsen.»

Der Kellner brachte das Essen, dabei kamen sie auf anderes zu sprechen.

«Können Sie mir sagen, warum die Krimis aus Skandinavien so erfolgreich sind?», fragte Zimmermann.

«Starke Frauenfiguren», versuchte Mattmann zu erklären, «Ermittlerinnen im Alltag zwischen Kindertagesstätten und Kommissariat.»

«Unter die Haut geht mir eine Figur wie Lisbeth Salander in den Bestsellern von Stieg Larsson», fügte Rahel an.

«Und gibt einen Einblick in die schwedische Politik und Gesellschaft von heute», ergänzte Mattmann.

«Gab es da nicht ein Autorenduo, das in seinen Krimis den schwedischen Wohlfahrtsstaat durchleuchtet hat?», fragte Zimmermann. «Marxisten, wenn ich mich richtig erinnere. Die waren bekannt, als ich noch jung war.»

«Genau», sagte Mattmann, «Maj Sjöwall und ihr Partner Pär Wahlöö, sie haben in den sechziger und siebziger Jahren geschrieben. Das sind Klassiker, die müssen Sie mal lesen.»

«Werde ich mir einmal beschaffen», sagte Zimmermann. Mit einer Geste bedeutete er dem Kellner, dass er alles bezahle. Das liess Rahel nicht zu und beglich die Rechnung.

Zimmermann ging zur Tramhaltestelle. Mattmann und Rahel blieben vor dem Restaurant im Schatten stehen.

«Trinken wir noch irgendwo einen Kaffee?», fragte sie.

Umständlich zog er die Taschenuhr aus seiner Hosentasche und klappte sie auf. Er erschrak. Längst hätte er bei seiner Mutter sein müssen, das hatte er völlig vergessen.

«Meine Mutter wartet», sagte er, «ich muss jetzt Tempo Teufel weg.»

Der Vermisste vom Vierwaldstättersee

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