Читать книгу Der Vermisste vom Vierwaldstättersee - Martin Widmer - Страница 19
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ОглавлениеSusanne Brunner fuhr zu schnell auf der Autobahn. Sie war nicht in Eile, erst für zehn Uhr hatte sie sich mit ihrem Bruder in Basel verabredet. Doch sie fühlte sich getrieben. Sie musste unbedingt mit David sprechen. Er hatte auf der «Markthalle» beim Bahnhof bestanden, sie hätte ihn lieber in seiner Wohnung besucht, um zu sehen, wie er lebte.
Susanne war zu früh, daher schlenderte sie durch den hohen Kuppelbau, vorbei an den Imbissständen. Überall wurde gebraten und gedünstet, es roch nach exotischen Gewürzen. Die Vorbereitungen für das Mittagessen liefen auf Hochtouren, es gab thailändische und libanesische Angebote, eine Risotteria, zwei Cafés und vieles mehr. Die meisten Tische waren noch leer. Setzen mochte sie sich nicht, sie war unruhig.
Dann sah sie ihren Bruder, wie er durch die verglaste Eingangstüre trat. Magerer war er geworden, und einen Bart hatte er sich wachsen lassen. Seit seiner Rückkehr aus Kanada hatte sie mit ihm nur telefoniert. Sie ging auf ihn zu und wollte ihn umarmen, doch er wich zurück. Susanne schaute sich nach einem Tisch um, wo sie sich ungestört unterhalten konnten. Schweigend setzten sie sich. Er stützte seinen Kopf in beide Hände und starrte auf die Tischplatte.
«Der Bart steht dir gut. Aber warum musstest du dir den Schädel rasieren?»
Er zuckte mit den Schultern.
«Das macht dich nicht gerade freundlicher.»
Er schaute vor sich auf den Tisch.
«Magst du einen Kaffee?», fragte Susanne.
«Ich bin nicht müde», murmelte er.
«Du arbeitest Schicht.»
David antwortete nicht.
Sie stand auf und steuerte auf einen Stand mit einer grossen Auswahl von Backwaren zu. Mit zwei Tassen Milchkaffee und einem Stück Quarktorte kam sie zurück. «Das könnten wir teilen, wenn du magst.»
Er schüttelte den Kopf.
«Als Kinder haben wir uns immer auf die Torte gefreut. Vater brachte sie am Wochenende aus der Konditorei.»
«Eine Schwarzwäldertorte», sagte er leise.
«Dass du das noch weisst …»
«Wer gute Noten aus der Schule brachte, bekam ein grosses Stück. Für mich gab es immer nur ein kleines.»
Susanne lächelte. «Er war streng mit dir.»
David schaute um sich, dann fragte er: «Was wollte die Polizei von dir wissen?»
«Wie Vater die letzte Zeit war. Ob Vater und Mutter oft stritten.»
«Und was hast du geantwortet?»
«Nicht viel.»
«Was genau?»
«Dass sie es gut zusammen gehabt haben.» Susanne stockte. «Dass Mutter immer vergesslicher wurde, davon habe ich jedoch nichts erzählt.»
«Gut», sagte David.
«Hätten wir sie ins Heim gebracht, würde sie jetzt vielleicht noch leben.»
David schwieg.
«Es machte Vater traurig, dass er ihr nicht helfen konnte.»
«Traurig! So ein Unsinn. Er war schlicht und einfach böse.»
«Er war sehr besorgt um unsere Mutter», sagte Susanne leise. Sie wollte ihre Hand auf seinen Unterarm legen, doch er zog ihn zurück.
«Warum musst du immer alles beschönigen?», fragte er verärgert.
«Ich versuche nur zu verstehen.»
«Du verstehst gar nichts.» Er schlug mit der Faust auf den Tisch.
Susanne hatte Lust, aufzustehen, zum Auto zu gehen und nach Hause zu fahren. Doch sie nahm eine Gabel voll Quarktorte. Nach einer Weile fragte sie: «Hat die Polizei dich auch befragt?»
«Klar.»
«Und?»
«Was, und?»
«Was wollten sie von dir wissen?»
«Dieses und jenes.»
«Ich hoffe, du hast unseren Vater nicht schlechtgemacht.»
«Wo denkst du hin!»
«Du warst im Chalet. Kurz bevor es passiert ist.»
«Woher weisst du das?»
«Das hast du mir am Telefon gesagt.»
«Habe ich?»
«Was wolltest du von ihm?»
David nahm einen Schluck vom kalt gewordenen Kaffee. Dann fragte er: «Bist du nach Basel gekommen, um mich danach zu fragen?»
«Ja.»
«Ist das so wichtig?»
Susanne beugte sich über den Tisch, bis sich ihre Köpfe fast berührten. «Du hast nichts mit dem Tod unserer Mutter zu tun. Sag mir das.»
«Würde dich das beruhigen?»
«Ja. Sehr.»
David wich zurück und schwieg. Dann fragte er: «Wenn ich dir alles erzähle, gehst du dann zur Polizei?»
«Was stellst du dir vor? Nie könnte ich dich belasten.»
«Ich bin unschuldig», sagte David mit Nachdruck. «Vater nicht.»
«Du willst sagen, er hat –»
«Ich bin überzeugt.»
Susanne erschrak. Sie war nach Basel gefahren, um von David mehr zu erfahren. Doch nun wagte sie nicht, weiterzufragen, und wechselte abrupt das Thema. «Du hast mir nie erzählt, was du alles in deinen Ferien erlebt hast. Nur vom kalten Regenwald hast du –»
«Es gibt keinen kalten Regenwald», unterbrach er sie. «Es gibt nur einen gemässigten und einen tropischen. Die Vegetation unterscheidet sich total. Und auch die Tiere.»
«Hast du Bären gesehen?»
«Nein. Auch keine Wölfe. Ich bin tagelang gewandert, ohne jemanden anzutreffen.»
«Mir wäre das zu einsam.»
«Mir nicht. Keiner Menschenseele bin ich auf dem West Coast Trail begegnet. Die Pazifikküste von Vancouver Island ist wunderbar.»
«Bestimmt.»
«Es ist der Pfad der Schiffbrüchigen», sagte David.
Sie ging nicht auf seine Anspielung ein.
Er stand auf und ging.