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Kapitel 2

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1831 Januar // London // Almack’s Assembly Rooms


Steh endlich auf!», polterte eine dunkle, männliche Stimme quer durch das prunkvoll eingerichtete Schlafzimmer, von dessen hohen Fenstern man auf den halb fertigen Buckingham Palace sehen konnte. «Anstatt am späten Nachmittag mit einer Negerhure im Bett zu liegen, solltest du ein wohlriechendes Bad nehmen und dich endlich für den Ball fertig machen! Ich habe Henry schon Bescheid gegeben, dass er heißes Wasser bringt und nach dem Barbier rufen lässt.»

Edward Blake blinzelte durch seine geschwollenen Augenlider in die hereinbrechende Dämmerung und verfluchte die Anwesenheit seines Vaters, der ihn stets behandelte wie seine Lakaien. In seinen Armen regte sich träge eine junge Mulattin, die er vor ein paar Nächten in Madame Ivoires Etablissement aufgetan hatte, einem Edelbordell der gehobenen Kategorie in der George Street. Die dortigen Frauen, so hieß es, waren außergewöhnlich schön und entstammten den exotischsten Ländern. Außerdem wurden sie regelmäßig von einem Arzt auf lasterhafte Krankheiten hin untersucht. Über diesen Luxus hinaus offerierten die Damen besondere Dienste, die in gewöhnlichen Hurenhäusern nicht zu finden waren.

Als sich die junge Frau orientierungslos auf den Rücken drehte, um ihre Umgebung besser wahrnehmen zu können, streckte sie Edwards Vater ungeniert ihre gewaltigen Brüste entgegen.

«Die Hure kannst du mir überlassen», knurrte der Alte und leckte sich lüstern die Lippen. «Ist sie gut?»

Edward stützte sich auf die Ellenbogen und richtete sich langsam auf, ohne seiner Bettgefährtin weitere Aufmerksamkeit zu schenken.

«Sie geht ab wie ein Rennpferd», erklärte er beiläufig, «besonders wenn du es ihr hart von hinten besorgst.» Ein schmutziges Grinsen huschte über sein Gesicht.

William Blake trat ans Bett und tätschelte die Schenkel der jungen Frau, die sich diese höchst anzügliche Behandlung mit einem lasziven Augenaufschlag gefallen ließ.

«Ich denke, Madame Ivoire hat nichts dagegen, wenn ich bei der Kleinen die Reitpeitsche zum Einsatz bringe. Schließlich hast du in den Tagen seit unserer Ankunft ein hübsches Sümmchen in ihrem Etablissement hinterlassen.»

Während Edward, nackt, wie er war, aus dem Bett sprang, setzte sich sein Vater auf die weiche Matratze und unterzog das junge vor ihm liegende Fleisch einer eingehenden Prüfung. Als er der Frau in den Hintern und in die Brüste kniff, um ihre Schmerzgrenze zu prüfen, war sie mit einem Mal wie erstarrt. Jedoch kein Laut der Klage kam über ihre Lippen.

«Sie gehört dir», sagte Edward und setzte dabei eine Miene auf, als ob er sich von einer lästigen Plage befreien müsste. «Ist mein Anzug schon eingetroffen?»

«Was fragst du mich das?», erwiderte sein Vater und gab der Hure mit einem knappen Wink zu verstehen, dass sie in das Schlafgemach nebenan verschwinden und dort auf ihn warten sollte. «Bin ich deine Haushälterin?»

Achselzuckend schlüpfte Edward in einen blauseidenen Kimono und hockte sich auf den Rand der kupfernen Wanne, die in einer Ecke des Raums stand, und beschloss, dort auf das Eintreffen des Butlers zu warten. Ungeduldig verschränkte er die Arme und beobachtete, wie sein Vater sich zur Tür wandte, wo bereits ein weiterer Diener wartete.

«Was macht dich so sicher, dass diese kleine Hamburgerin die Richtige für mich ist, Vater?», fragte er dumpf. «Ich meine … ich habe sie gesehen. Sie scheint mir rein und keusch wie eine französische Nonne, die kurz vor ihrem Gelübde steht.»

«Etwas anderes würde ich als die zukünftige Mutter meiner Enkel auch nicht akzeptieren», erklärte William streng. «Oder willst du riskieren, dass sie den Balg irgendeines dahergelaufenen Bastards unter dem Busen trägt, wenn sie mit dir vor den Altar tritt? Außerdem weißt du so gut wie ich, dass es auf der Plantage mehr als eine Alternative gibt, um dich anderweitig zufrieden zu stellen», erklärte sein Vater. «Sie muss nur zwei-, dreimal ein gesundes Kind gebären. Danach wird sie ohnehin von der ganzen Sache bedient sein.»

Mit hochgezogenen Brauen sah Edward seinen Vater an.

William räusperte sich. «Außerdem hat die Countess von mir zehntausend Pfund in Gold für ihre Stiftung erhalten, damit sie uns mit der Auswahl einer passenden Kandidatin unterstützt. Die Tochter dieses deutschen Kaufmanns für dich auszusuchen, war ganz alleine ihre Idee. Sie meint, das Mädchen sei eine gläubige Christin, die sich von heidnischen Flüchen nicht beeindrucken lasse.»

Edward runzelte die Stirn. «Du meinst …»

«Ich meine: Hauptsache, Helena Huvstedt und ihr einfältiger Vater erfahren nichts von diesem blödsinnigen Fluch, bevor es zu einer Verlobung kommt.»

William war zum Sideboard gegangen und hatte sich aus einer Kristallkaraffe einen Brandy eingeschenkt. Hastig trank er das Glas in einem Schluck aus und hustete. Dennoch goss er sich sogleich einen weiteren Brandy ein und kippte ihn hinterher.

«Ich muss dich nicht daran erinnern, mein Sohn, dass du seit dem unglücklichen Tod von Hetty MacMelvin keine Chance mehr hast, eine passende Frau auf der Insel zu finden.»

Die ungewohnte Nervosität in den grauen Augen seines Vaters verärgerte Edward. «Und das alles wegen einer schwachsinnigen Negerin, die längst in der Hölle schmort», zischte er verärgert. «Du hättest sie lange vor diesem … Zwischenfall von Redfield Hall beseitigen sollen. Dann wäre es niemals so weit gekommen.»

Im Grunde genommen glaubte er nicht an so einen Hokuspokus wie den Obeah-Zauber. Aber nachdem sein Vater zwei Frauen und zwei Töchter durch ein seltsames Fieber verloren hatte, war er sich nicht mehr so sicher, ob die Neger nicht doch mit dem Teufel im Bunde waren. Als dann zu allem Übel vor einigen Jahren auch noch Edwards Verlobte, eine gebürtige Schottin, kurz vor der Hochzeit angeblich von einem jungen Sklaven ermordet worden war, hatten die übrigen Pflanzerfamilien zu reden begonnen. Irgendwie war durchgesickert, dass vor Jahren eine Sklavin im Hause der Blakes auf seltsame Weise verschwunden war. Es ging das Gerücht, sie habe sich im Herrenhaus von Redfield Hall das Leben genommen und kurz vor ihrem Tod alle zukünftigen Frauen der Familie Blake verflucht. Dummerweise hatte Trevor ihre Leiche tatsächlich bei Nacht und Nebel in den Fluss geworfen, woraufhin sie verschwunden blieb. Aber davon konnte niemand sonst etwas wissen. Offiziell war sie als entflohen gemeldet worden.

«Ich kann immer noch nicht begreifen, wieso du dich ausgerechnet mit dieser Nigger-Hexe eingelassen hast», raunte Edward und schüttelte verständnislos den Kopf. Er wusste, dass er sich mit einer solchen Bemerkung bei seinem Vater auf gefährliches Terrain begab. Als sein einziger Sohn konnte er sich bei dem Alten einiges rausnehmen, aber wenn es um den Fluch ging, zog Lord William eiserne Grenzen.

«Interessant, dass ausgerechnet du so etwas sagst», konterte sein Vater mit gefährlich funkelnden Augen. «Ich möchte nicht wissen, wie viele von unseren Sklavinnen deine Bastarde geboren haben.»

Er setzte das Glas auf dem Silbertablett ab und richtete sich zu voller Größe auf. William Blake war trotz seines Alters von sechzig Jahren immer noch ein stattlicher Mann, der mit seiner vornehmen Erscheinung und einer Größe von mehr als sechs Fuß äußerst respekteinflößend wirkte.

«Woher willst du wissen, ob eine von deinen Huren nicht auch irgendwann verrücktspielt?» Sein Einwand klang wie eine verspätete Entschuldigung sich selbst und seiner Familie gegenüber.

«Ich weiß es, weil ich mich um meine Huren kümmere», bemerkte Edward und zog eine Braue hoch. «Und wenn ich meine Sklavinnen verkaufe, dann immer Stute und Fohlen zusammen. Was danach mit ihnen geschieht, liegt nicht in meiner Macht.»

«Zu dumm nur, dass dir deine Barmherzigkeit keinen adäquaten Erben beschert, der sich den Respekt unserer weißen Nachbarn verdient.» William räusperte sich. «Wobei wir wieder beim Thema wären. Helena Huvstedt stammt aus gutem Haus. Ihr Vater ist durchaus vermögend, und sie selbst hat in der Schweiz eine exzellente Erziehung genossen. Außerdem willst du wohl nicht behaupten, dass sie von abgrundtiefer Hässlichkeit gezeichnet ist?»

«Nein», bestätigte Edward und erinnerte sich an die unübersehbaren Vorzüge der jungen Frau. «Neulich im Theater schien sie mir recht ansehnlich. Ein hübsches, weißes Gesicht mit großen, hellgrünen Augen, einer kleinen, geraden Nase und einem sündigen Mund, dazu feste Brüste und einen aufrechten Gang. Ein Narr, wer mehr von einer Repräsentantin für Redfield Hall erwartet.»


Lena glaubte vor Aufregung zu vergehen, als der Kutscher den geschlossenen Wagen nach nur fünfminütiger Fahrt in die King Street lenkte. Von weitem war bereits das klassizistische Gebäude des Clubs erkennbar, vor dem sich eine lange Schlange von Kutschen gebildet hatte. Sie war froh, einen dicken Pelzmantel zu tragen, weil sie trotz der Kälte mit dem Aussteigen so lange warten mussten, bis die Kutsche endlich am überdachten Hauptportal angelangt war und ein Diener in einer grünen Livree ihnen die Türen öffnete.

«Und, bist du schon aufgeregt?»

Ihr Vater schaute sie lächelnd an und knetete dabei ihre Hände, die trotz der gefütterten Handschuhe ganz kalt waren. Er trug einen dunklen Frack und ebenfalls einen Pelzmantel. Außerdem hatte er dafür gesorgt, dass Huxley jedem von ihnen einen heißen Stein unter die Füße gelegt hatte.

Johann Huvstedt war ein Mann in den besten Jahren mit glatt rasiertem Gesicht und kurz geschnittenen Haaren mit langen Koteletten, wie es zurzeit Mode war. Lena wunderte sich stets, warum er nach dem Tod ihrer Mutter keine neue Gefährtin gefunden hatte. Doch das wollte er nicht, wie er immer wieder beteuerte. Er hatte ihre Mutter zu sehr geliebt.

Um wie viel schwerer musste es ihm nun fallen, dachte Lena, seine einzige Tochter an einen anderen Mann zu verlieren – womöglich einen, der sie in ein Tausende Meilen entferntes Reich entführte.

«Ihr werdet ein wunderbares Paar abgeben heute Abend, du und Sir Edward», erklärte er tapfer und tätschelte Lena die Wange.

Heute Abend. Das bedeutete, ihr Vater würde nicht von ihr erwarten, dass sie sich auf diesen Mann festlegte. Lena erwischte sich dabei, dass sie nervös an ihrer Unterlippe nagte, und stellte diese Unart gleich wieder ein, als der Diener ihr beim Aussteigen half.

Es hatte aufgehört zu schneien, und doch war es klirrend kalt. Im Lichtschein Hunderter Feuerkörbe, die den breiten Zufahrtsweg zum Club erleuchteten, tastete Johann Huvstedt nach Lenas rechter Hand. Dem Kutscher gab er den Auftrag, sie spätestens gegen zwei Uhr morgens wieder abzuholen.

Mit einem Mal erschien ihr Vater nervöser als sie selbst zu sein. Offenbar wurde ihm bei Anblick all dieser jungen Männer und Frauen, die herausgeputzt wie festlich dekorierte Weihnachtsbäume in Begleitung ihrer Eltern zum Hauptportal strömten, schlagartig bewusst, was es bedeutete, mit seiner Tochter hierhergekommen zu sein.

Im Innern der marmornen Empfangshalle überprüfte ein weiterer Diener ihre Einladungskarte und nahm ihnen die Mäntel ab. Ein anderer eskortierte sie treppauf in den großen Ballsaal, wo ihnen im Vorbeigehen von emsigen Bediensteten Champagner serviert wurde. Hunderte von Kronleuchtern mit unzähligen Kerzen aus Bienenwachs erleuchteten den riesigen Spiegelsaal. Hier würden die Gäste nach der Begrüßung durch die Königsfamilie an festlich dekorierte Tische geleitet, die rund um die Tanzfläche aufgebaut worden waren. Dann würde zunächst ein kleiner, aber feiner Imbiss serviert werden, bevor man gegen 23 Uhr in der Halle vor dem Saal das große Buffet eröffnete. Leise Orchestermusik begleitete die Geräuschkulisse schwatzender Menschen, die mit dem Eintreffen von immer mehr Gästen weiterhin anschwoll.

Lena fühlte sich inmitten der gaffenden Menge wie auf einem Präsentierteller und bewunderte dabei nicht weniger staunend die edlen Roben ihrer Mitstreiterinnen, die wie sie selbst ausnahmslos ausladende Kleider aus weißem oder cremefarbenem Seidenmusselin trugen. Einige der älteren Damen hatten sich auf Aubergine und Rosé festgelegt. Beides waren Farben, die in diesem Winter gerne zu festlichen Abendveranstaltungen getragen wurden, wie Lena einem der vielfältigen Modejournale Londons entnommen hatte.

«Monsieur Huvstedt», säuselte eine durchdringende Frauenstimme.

Ihre Besitzerin, die Countess of Lieven, näherte sich ihnen wie ein französischer Sturmangriff. Sie trug ein silberfarbenes Kleid und jede Menge funkelnden Diamantschmuck. Ihre dunkelbraunen Haare, die sie sich angeblich mit Eichenextrakt nachfärbte, waren mit zartblauen Seidenblumenranken zu einem prächtigen Lockengebinde aufgesteckt. Die Frisur betonte ihren ungewöhnlich langen, schlanken Hals und täuschte über ihr tatsächliches Alter von über vierzig Jahren wohlwollend hinweg.

Dass sie mitunter Französisch sprach, wurde nicht als Affront gewertet – schließlich war sie mit einem russischen Fürsten verheiratet, der ebenfalls mehrere Sprachen beherrschte. Außerdem waren ihre Eltern deutsch-baltischer Herkunft, und diese Internationalität brachte es mit sich, dass die Countess, wenn sie zu später Stunde ein wenig beschwipst vom vielen Champagner zu Scherzen neigte, sich kunterbunt aller europäischen Sprachen bediente.

Ohne Mühe wechselte die Prinzessin nun ins Deutsche und ließ sich von Lenas Vater mit einer tiefen Verbeugung und einem angedeuteten Handkuss die Ehre erweisen.

«Ich freue mich außerordentlich, werter Konsul, Sie und Ihre Tochter zum ersten Ball der Saison begrüßen zu dürfen», flötete sie.

Dann wandte sie sich Lena zu, die sich ihrerseits mit einem perfekt einstudierten höfischen Knicks für die Ehre bedankte.

Die Countess unterzog Lenas Aufmachung einer eingehenden Analyse. «Mein liebes Kind», zwitscherte sie, «du bist ja zu einer außerordentlich schönen Blume erblüht! Ich denke, du solltest dich nun in den Versammlungsraum für die jungen Damen begeben. In wenigen Augenblicken geht es mit dem Vorstellungsritual los.»

Dann hakte sie sich bei Lenas Vater unter und geleitete ihn an seinen Tisch.

Für einen Moment fühlte sich Lena angesichts all der Menschen regelrecht orientierungslos, und das, obwohl sie sich mit den anderen Debütantinnen an diesem Ort vor ein paar Tagen zur Generalprobe eingefunden hatte. Die Männer würden heute Abend zum ersten Mal den Saal betreten – es sei denn, sie hatten bereits zuvor an Vergnügungsabenden der Prinzessin teilgenommen.

Lenas Miene hellte sich auf, als sie ihre Vertraute, Rosanna Rhys-Patrick, in der Menge entdeckte, die nicht weniger aufgeregt zu sein schien.

«Du siehst umwerfend aus», flötete Rosanna und hakte sich bei ihr unter.

«Das Kompliment kann ich ohne Neid an dich zurückgeben», erwiderte Lena, die das dicke, kastanienfarbene Haar ihrer ehemaligen Internatsgefährtin aufs Neue bewunderte. Die champagnerfarbenen Seidenblüten, mit denen es über den Ohren zu dicken Schnecken aufgesteckt worden war, passten wunderbar zu ihrem Kleid und ihrer hellen Haut. Ihre dunklen Augen schienen dadurch noch mehr zu strahlen. Lena war auch nicht entgangen, dass ihre Freundin ein umwerfend schönes Collier aus cognacfarbenen Diamanten trug, dessen pompöser Anhänger direkt zwischen ihren üppigen Brüsten baumelte.

Im wesentlich kleineren Versammlungsraum der Debütantinnen ging es zu wie in einem Gänsepferch. Etwa einhundert Mädchen warteten dort auf ihren großen Auftritt, und ihre Nervosität schlug sich in der unglaublichen Lautstärke ihres Geschnatters nieder. Jedes neu eintretende Mädchen wurde mit frenetischem Beifall begrüßt, woraufhin die zuständigen Damen des Organisationskomitees mit energischer Stimme und ein paar strengen Gesten immer wieder für Ordnung sorgen mussten.

«Hoffentlich hat mein Tanzpartner keine roten Haare», seufzte Rosanna und spielte auf Ronald MacDonald Egerton an. Der junge schottische Adlige hatte sich für den heutigen Abend um ihre Begleitung beworben. Sein Onkel war der berüchtigte Earl of Sutherland, dessen unermessliches Vermögen – ähnlich wie bei den Blakes – nicht nur in Schottland, sondern auch in Übersee zu finden war.

Als endlich um Aufstellung gebeten wurde und draußen in der Halle die Musik zu einem enthusiastischen Walzer anhob, schlug Lenas Herz so stark, dass sie glaubte, es würde zerspringen. Sie war nur froh, dass sie nicht die Einzige war, deren Gesicht vor Aufregung glühte. Vielleicht mochte das aber auch an dem Glas Champagner liegen, das man ihnen zur Auflockerung kredenzt hatte.

In Zweierreihen schritten die Mädchen Händchen haltend mit ihrer jeweiligen Partnerin zum Rhythmus der Musik in den großen Ballsaal, wo bis auf die männlichen Tanzpartner alle Anwesenden an großen Tafeln saßen. In der Mitte des Raums hatte man für ausreichend Platz gesorgt, damit die tanzenden Paare nicht zusammenstießen oder die ausladenden Roben der Damen sich an Tischen und Stühlen verfingen.

Als sich nun auch das Corps der Herren näherte, drückte Lena die Hand ihrer Freundin so fest, dass Rosanna nach Luft schnappte. Alles war derart perfekt inszeniert, dass sich die jeweiligen Auserwählten beim letzten Takt der Musik – wenn auch auf Abstand – Auge in Auge gegenüberstanden. Dann erhob sich der ganze Saal, um dem Einmarsch der königlichen Gesandten, Prinzessin Maria, und ihrem Gefolge zu huldigen. Die Prinzessin vertrat offiziell ihren Bruder, König Wilhelm IV., der zu politischen Gesprächen im Ausland weilte. Während die königliche Abordnung ihre Plätze auf einer kleinen, improvisierten Bühne einnahm, blieb den Mädchen genügend Zeit, um einen raschen Blick auf ihr noch unbekanntes Gegenüber zu werfen.

«Oh, er hat tatsächlich rote Haare!», flüsterte Rosanna beinahe entsetzt. Und wirklich, ihr Tanzpartner mit dem dunkelblauen Frack und der weißen, eng anliegenden Hose, besaß einen feuerroten Schopf, der seine vornehme Blässe in einem hübschen Schweinchenrosa erscheinen ließ.

«Bei Saint Patrick!», entfuhr es Rosanna beim Anblick von Lenas Tanzpartner. «Du scheinst wesentlich mehr Glück zu haben als ich.» Langsam, ganz langsam blickte Lena in stummer Erwartung nach links. Und dann sah sie ihn: Sir Edward Blake. Er war ein Bild von einem Mann. Seine Augen schienen so blau wie ein Bergsee im Sommer. Das Gesicht war glatt rasiert, das Kinn und die lange Nase gaben ihm einen ungemein markanten Ausdruck. Nur der breite Mund wirkte ein wenig trotzig, als ob man seinen Besitzer gegen seinen Willen hierherbeordert hätte.

Lena sog den Anblick in sich auf. Sein dunkelblauer Frack, dessen v-förmiger Kragenausschnitt das blütenweiße Hemd mit dem hochstehenden Kragen darunter erkennen ließ, betonte die schmalen Hüften. Die langen, muskulösen Beine steckten in sündhaft engen, hellgrauen Pantalons. Als sich ihre Blicke wie zufällig trafen, hätte Lena schwören mögen, dass er ihr zuzwinkerte.

«Ich würde auf der Stelle in Ohnmacht fallen, wenn ich einen solchen Tanzpartner hätte», seufzte Rosanna leise und beschrieb damit nur allzu treffend Lenas schlimmste Befürchtungen.

Sie versuchte, sich innerlich auf die Begrüßungsworte von Prinzessin Maria zu konzentrieren, doch es wollte ihr nicht recht gelingen. Ein letztes Mal betraten die Zeremonienmeisterinnen die Bühne und forderten die anwesenden Tänzerinnen und Tänzer auf, die Saison mit einem Walzer zu eröffnen.

Beinahe mechanisch setzte sich Lena zusammen mit den anderen in Bewegung. Wie in Trance ging sie Edward Blake die vorgeschriebenen Schritte entgegen. Dabei erschien ihr die Zeit endlos, und mit jeder Bewegung wuchs ihre Sorge, sich wie eine Marionette mit den Füßen in den Fäden zu verheddern und der Länge nach hinzuschlagen.

Edward Blake lächelte, als er vor Lena angelangt war und sich mit einem Handkuss verbeugte. Seine dunklen Haare, die leicht gebräunte Haut und seine unergründlichen Augen … all das war zu viel für Lena. Gerade als sie den Halt zu verlieren drohte, umfassten sie zwei starke Arme und hielten sie fest, wie ein Mast das flatternde Segel auf stürmischer See. Anschließend wurde sie von ihrem Tanzpartner mitgerissen, der sie in schlafwandlerischer Sicherheit über die schwankenden Bohlen hob.

«Sie sind ja plötzlich ganz bleich, meine Liebe», sagte er leise und zog sie noch näher zu sich heran. «Keine Sorge, wir beide schaffen das schon.»

Sein herbes Parfüm kitzelte ihre Nase und verführte sie zu einem tiefen Atemzug, der ihr neues Leben einhauchte. Dennoch war Lena nicht fähig, etwas zu erwidern. Vergeblich mühte sie sich ein krächzendes Danke ab. Doch dann gab sich ihr Körper unvermittelt seiner Führung hin. Edward Blake war ein phantastischer Tänzer, und seltsamerweise hatte sie nichts dagegen einzuwenden, dass ihr Busen an die Brust dieses fremden Mannes gedrückt wurde und sein Knie bei jeder Drehung auf unanständige Weise ihren Schritt berührte. Sie hätte ewig so in seinen Armen liegen können. Und während sie tanzten und tanzten und tanzten, summte er ihr leise die Melodie ins Ohr. Lena vergaß die Welt um sich herum, und mit einem Mal wurde ihr klar, dass das Schicksal es gut mit ihr meinen musste, wenn es ihr einen solchen Ehemann bescherte.


«Ich liebe ihn, aufrichtig und von ganzem Herzen», erklärte Lena schon wenige Tage später ihrem Vater, auch wenn das erste Zusammentreffen mit diesem unglaublich gut aussehenden Mann ihr immer noch wie ein Traum erschien.

Seit jenem denkwürdigen Abend bei Almack’s schickte Edward Blake ihr täglich üppige Blumenbouquets mit Grußkarten voller Komplimente, die an Romantik kaum zu überbieten waren.

«Und ja – ich möchte unbedingt seine Frau werden.»

Dabei verschwieg sie geflissentlich ihrem Paps, wie sie ihren Vater nannte, dass sie und Sir Edward sich bereits bei ihrer ersten Annäherung im Almack’s auf unsittliche Weise berührt hatten.

Nachdem er sie zunächst stundenlang durch den Tanzsaal gewirbelt hatte, entführte Edward sie an die Champagnerbar. Dort spendierte er ihr einige prickelnde Gläser dieses wunderbaren Getränks, was ihr sämtliche Hemmungen nahm. Danach musste Lena dringend frische Luft schnappen und war mit Edward auf verschlungenen Wegen anstatt auf der Terrasse in einem Kellergewölbe gelandet, in dem überzählige Möbel aufbewahrt wurden. Von irgendwoher organisierte Edward einen einzelnen Leuchter und überzeugte sie, dass die abgeschiedene Atmosphäre eine wunderbare Gelegenheit böte, um sich abseits des Lärms näher kennenzulernen. Als sie nicht protestierte, führte er sie in spärlichem Kerzenschein zu einer gepolsterten Chaiselongue, wo er sie so hingebungsvoll küsste, dass ihr Hören und Sehen verging.

«Was tun Sie mit mir?», hauchte Lena ihm atemlos entgegen.

«Was alle Männer mit einer schönen Frau tun würden, die sie zu heiraten beabsichtigen», antwortete er frech.

Und schon wanderte sein sündiger Mund zu ihrem Hals, zu den Brüsten und tiefer. Lena spürte, wie es zwischen ihren Schenkeln zunehmend heiß und feucht wurde und ein herrliches Kribbeln ihren ganzen Körper erfasste. Als hätte Edward ihre Sehnsucht erahnt, hob er ihre Röcke, ließ seine Finger geschickt zwischen ihre Schenkel nach oben wandern und streichelte sie an einer äußerst unanständigen Stelle. Ein berauschendes Erlebnis, das mit nichts zu vergleichen war, wie sie zugeben musste. Immer wieder fragte er mit schmeichelnder Stimme, ob es ihr gefalle, und was er als Nächstes tun könne, um sie noch mehr zu beglücken.

Lena nahm all ihren Mut zusammen und bat ihn, sie überall zu küssen, wo sein Mund ohne Mühe ihr Fleisch erreichte. Und so verbrachten sie eine ganze Weile liebkosend und turtelnd in diesem abgelegenen Zimmer. Edward ließ sie erahnen, welche unbekannten Gipfel der Lust sie mit ihm erstürmen konnte, wenn sie erst einmal Mann und Frau sein würden.

Als sie schließlich zum Ballsaal zurückkehrten, hatte ihr Vater bereits nach ihr suchen lassen. Doch Sir Edward erfand eine solch geschickte Ausrede, dass es ihr erneut die Schamesröte ins Gesicht trieb. Edward hatte sie gewissermaßen zu seiner Komplizin erkoren, was ihr außerordentlich gefiel. Seine skandalöse Art und sein dandyhaftes Lächeln ließen Lena schlichtweg dahinschmelzen.

Als sie sich nach dem Ball von ihm verabschiedete, flüsterte er ihr in einem verschwörerischen Tonfall zu: «Von nun an sind wir Verbündete!»

Edward war der geborene Eroberer. Genauer gesagt, ein blendend aussehender Eroberer, der sich nicht scheute, seine spontane Begeisterung für seine Auserwählte auf eine sehr direkte Weise zu zeigen. Lena fühlte sich äußerst geschmeichelt, dass Sir Edward Blake sie offenbar brennend begehrte.

«Wie wäre es denn erst einmal mit einer angemessenen Verlobungszeit?», bemerkte ihr Vater mit einem milden Lächeln.

«Aber er fährt doch schon in drei Wochen zurück nach Jamaika», erwiderte Lena mit leicht verzweifeltem Blick.

«Das wäre ohnehin zu früh für eine Hochzeit», entgegnete ihr Vater streng. «Zunächst muss er offiziell bei mir um deine Hand anhalten. Danach werden unsere Anwälte einen entsprechenden Ehevertrag aushandeln, und dann gibt es eine kleine Verlobungsfeier, bei der ich die Countess und ihren Gemahl, den Prinzen, als Zeugen einladen möchte. Dass alleine dürfte schon die nächsten drei Wochen in Anspruch nehmen. Bis dahin erlaube ich dir, mit ihm auszugehen, wobei euch Fräulein Blumenroth begleiten wird. Eine darauffolgende mindestens halbjährige Verlobungszeit halte ich für angemessen, bevor du ihm in seine Heimat folgst.»

Lena spürte die Enttäuschung beinahe körperlich. Doch sie war eine folgsame Tochter. Zwei Wochen lang besuchten sie Abend für Abend mit Edward eine Veranstaltung nach der anderen: Vauxhall Gardens, Covent Garden, das Royal Theater und die Oper. Und stets war Maggie zugegen, die nun nicht mehr als Gouvernante bezeichnet wurde, sondern den offiziellen Titel Gesellschaftsdame verliehen bekam.


«Sechs lange Monate!» Ihre Stimme klang reichlich verzweifelt, als Edward zum Ende seines Aufenthaltes in London einen verhaltenen Abschiedskuss auf ihren Handrücken andeutete.

So lange würde es dauern, bis sie sich in Jamaika wiedersehen würden. Ihr Vater hatte für Ende Juli die letztmögliche Schiffspassage vor den großen Herbststürmen gebucht. Vorher war es nicht möglich, alle Vorbereitungen für Lenas Übersiedlung in die Karibik zu treffen, und genau genommen schickte es sich auch nicht. Ein wenig steif standen Edward, Lena und ihr Vater im Schatten des auslaufbereiten Dreimastschoners, zusammen mit der Countess of Lieven und einigen Abgeordneten des House of Lords, die extra zum Hafen gekommen waren, um Lord William Blake zu verabschieden, der trotz seiner halbjährigen Abwesenheit in London einen Parlamentssitz innehatte.

Mit einem tiefen Blick in seine dunkelblauen Augen versuchte Lena, ihren Verlobten regelrecht festzuhalten.

«Wie soll ich es nur aushalten, dich bis in den späten Sommer hinein nicht sehen und nicht mit dir sprechen zu können?»

In Wahrheit meinte sie natürlich etwas ganz anderes, aber vom Küssen konnte sie in Gegenwart all dieser Menschen nicht sprechen. Dabei bedauerte sie es zutiefst, dass jede Form körperlicher Annäherung in den letzten drei Wochen schon allein durch Maggies ständige Anwesenheit so gut wie unmöglich gewesen war. Keinerlei Intimitäten vor der Vermählung, lautete das eherne Gesetz. Und erstaunlicherweise hatte Edward nichts unternommen, um diese Regel zu brechen.

«Ich werde dich ebenfalls vermissen», beruhigte er sie. «Aber wenn du in ein paar Monaten in Falmouth an Land gehst, wird die Freude umso größer sein. Und außerdem können wir uns bis dahin jederzeit schreiben.»

«Ein schwacher Trost», befand Lena, zumal die Briefe, die sie sich schrieben, ebenfalls einer Art Zensur unterlagen, weil ihr Vater mit Sicherheit wissen wollte, was darin zu lesen stand.

Edward umarmte sie noch einmal fest, bevor er zusammen mit Lord William Blake an Bord ging. Mehr war nicht zu erwarten. Erst als das Schiff ablegte, wurde ihr bewusst, dass er in all der Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, kein einziges Mal von Liebe gesprochen hatte.

Flamme von Jamaika

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