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Kapitel 7
ОглавлениеSeptember 1831 // Jamaika // Hochzeitsglocken
Bis zum Hochzeitstermin Anfang September war es Lena und Maggie nicht gelungen, Licht ins Dunkel der geheimen Familiengeschichte der Blakes zu bringen. Außerdem gestaltete es sich schwierig, das Terrain rund um die Plantage auf eigene Faust zu erkunden. Zunächst war Edward strikt dagegen gewesen, dass sie sich alleine vom Haupthaus entfernten, weil er um ihre Sicherheit fürchtete, doch dann hatte er ihnen Tom Doe an die Seite gestellt.
Tom war ein junger Sklave, dem Edward bei guter Führung die Freiheit in Aussicht gestellt hatte. Tom nahm seine Aufgabe, sie zu behüten, augenscheinlich sehr ernst. Groß und schlank, gekleidet in die Livree eines Dieners, verfolgte er Lena und Maggie wie ein Schatten. Immer dann, wenn sie sich einem angeblich unsicheren Ort der Plantage näherten, erinnerte er sie höflich daran, dass er dem Master Bericht erstatten müsse, wenn sie seine Anweisungen nicht befolgten.
Mehrmals hatten die beiden Frauen ihn zu überlisten versucht, aber immer wenn sie geglaubt hatten, dass es ihnen gelungen wäre, ihm zu entwischen, tauchte er plötzlich wie aus dem Nichts hinter einem Strauch oder einer Hecke auf. Dabei ließ er sich nicht anmerken, ob er enttäuscht oder gar verärgert war, weil sie versucht hatten, ihn abzuschütteln.
«Für seine Treue sollte man ihm glatt einen Orden verleihen», spöttelte Maggie, als er ihnen ein paar Tage später in einiger Entfernung zur Krankenstation folgte.
Als sie die lang gezogene Bretterbude betraten, die gut achthundert Meter von der Villa entfernt lag und eher einer Scheune als einem Hospital glich, zog er es vor, draußen Aufstellung zu nehmen und auf sie zu warten. Anny, eine bereits ergraute, schwarzhäutige Pflegerin, bot sich an, sie ein wenig herumzuführen.
Bereitwillig erklärte sie den beiden Frauen, dass der Arzt alle zwei Wochen vorbeikam, um den Zustand der Insassen zu überprüfen.
«Nur alle zwei Wochen?», fragte Maggie.
«Soweit ich weiß», gab Lena zu bedenken, «betreibt Dr. Lafayette neben seiner Anstellung im Militärhospital in Fort Littleton auch noch eine Privatpraxis. Da bleibt anscheinend nicht viel Zeit.»
Lena und Maggie waren entsetzt über das, was sie im Inneren des Hauses erwartete. Boden und Wände wirkten ungepflegt, das Mobiliar war hoffnungslos veraltet. Es gab keine Betten, sondern nur abgewetzte Strohmatratzen mit grauen Wolldecken, die schon lange keinen Waschbottich mehr gesehen hatten.
Die Luft war stickig, und die anwesenden Patienten schliefen oder starrten lethargisch ins Nichts. Maggie warf Lena einen bedeutungsschwangeren Blick zu. Ob Edward und sein Vater gar nicht wussten, wie schlecht es den Kranken dort erging?, überlegte Lena verdrossen.
Sie wunderte sich, warum Edward ihr so stolz von der Krankenstation und dem behandelnden Arzt erzählt hatte.
«Die meisten der Männer hier vertrauen ohnehin keinem weißen Doktor», erklärte Anny. Was sie anstelle dessen zur Heilung ihrer Leiden bevorzugten, verriet sie allerdings auch nicht.
Mit einem parfümierten Tüchlein vor Mund und Nase schritt Lena die Pritschen der Kranken ab, dicht gefolgt von Maggie, die den Rundgang am liebsten so schnell wie möglich beendet hätte.
«Seltsam, dass bei annähernd tausend Sklaven nur insgesamt vierzehn Männer den Krankensaal bevölkern», wunderte sich Lena.
Einige schienen von der Schwindsucht ergriffen zu sein, weil sie Blut spuckten und stark abgemagert waren. Lena wusste, dass die Krankheit auch bei den Ärmeren auf den Straßen von London und Hamburg auftrat, aber auch längst die Salons der Großstädte erreicht hatte. Es hieß, Licht und Sonne würden die Leiden lindern, was in Anbetracht der Lage, dass sie sich hier auf einer tropischen Insel befanden, wohl nicht zu stimmen schien.
«Die meisten von ihnen haben während der Arbeit an der Zuckermühle Quetschungen erlitten», erklärte Anny mit Bedauern in der Stimme. «Die Heilung ist zu langwierig, um sie anderweitig einzusetzen.»
Lena machte an der Pritsche eines noch jungen, ausgemergelten Sklaven halt, dessen rechte Schulter unter der verfilzten Wolldecke verborgen lag. Er schien sie überhaupt nicht zu bemerken, denn sein fiebriger Blick ging ins Leere. Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
«Was ist mit ihm?», fragte sie Anny besorgt.
«Nichts von Bedeutung, Madame», beeilte sich die Pflegerin zu sagen und drängte Lena weiter.
«Nichts?»
In der untrüglichen Ahnung, dass an der Geschichte was faul sein musste, hob Lena die Decke an. Was sie sah, nahm ihr förmlich den Atem. Dem Mann fehlte der gesamte rechte Arm. Der Verband an seiner Schulter, der auch seine Brust umspannte, war schmutzig und von übel riechenden Sekreten durchtränkt.
«Um Himmels willen!», rief sie und wandte sich entsetzt ab.
Auch Maggie war kaum fähig, ein Würgen zu unterdrücken. «Was ist ihm bloß widerfahren?»
Anny zuckte mit den Schultern. «Er ist vor drei Monaten mit der Hand in die Zuckermühle geraten. Das hat ihm den Arm abgerissen. Der Doktor hat ihn operiert, aber das Fleisch will nicht heilen.»
«Es sieht mir nicht danach aus, als ob er eine anständige medizinische Versorgung bekäme.»
Trotz Übelkeit erwachte Lenas Kampfgeist. Offenbar kümmerten Edward und sein Vater sich nicht besonders um den Zustand der Kranken.
«Der Master sagt, wir dürfen kein weiteres Geld für Arzt oder Medizin ausgeben. Entweder er schafft es von alleine, oder Gott wird ihn zu sich holen.»
«Und bis es so weit ist, soll er leiden wie ein Hund?», stieß Maggie spöttisch hervor.
«Bitte, Madame», flehte Anny und sah Lena mit großen Augen an. «Sagen Sie dem Master nicht, dass ich Sie zu ihm geführt habe. Er wird ihn sonst ganz aus dem Hospital verbannen und mich schwer bestrafen.»
Lena glaubte, sich verhört zu haben.
«Nichts dergleichen wird geschehen!»
Sie kramte in ihrem perlenbesetzten Stoffbeutel, den sie passend zu ihrem hellgrünen Batistkleid trug, und zog ein paar Silbermünzen hervor. Diese drückte sie Anny in die Hand.
«Kaufen Sie dafür so viel Laudanum, Chinin und Verbandmaterial, wie Sie bekommen können. Die Wunden müssen mit heißem Wasser gesäubert werden und benötigen täglich einen frischen Verband. Außerdem muss er viel trinken und frisches Obst essen. Dessen Beschaffung dürfte auf dieser Plantage wohl kaum ein Problem darstellen. Ich werde in zwei Wochen wiederkommen und mich selbst vom Gesundheitszustand dieses Mannes überzeugen.»
Anny nickte verdattert, und auch der Kranke schenkte ihr plötzlich seine, wenn auch zurückhaltende Aufmerksamkeit.
«Woher weißt du so genau, wie man ihm helfen kann?», fragte Maggie verblüfft.
«Ich bin doch in einem Pensionat erzogen worden», erinnerte Lena ihre Freundin. «Eine meiner Lehrerinnen hat während der Napoleonischen Kriege im Lazarett gearbeitet und uns immerzu von der Behandlung der Verletzten erzählt. Es war so schauderhaft, dass ich mir einiges davon gemerkt habe.»
«Gott schütze Sie», stammelte Anny und vollführte eine unbeholfene Verbeugung.
Lena war das Verhalten der Frau unangenehm.
«Es ist unvorstellbar, in welchem Zustand die Kranken vor sich hinsiechen», erklärte sie, bevor sie mit Maggie die Krankenstation verließ. «Wenn ich erst Herrin dieses Hauses bin, wird sich einiges ändern!»
Auf dem Rückweg zum Haupthaus fehlte von Tom Doe merkwürdigerweise jede Spur.
«Vielleicht hat er den Anblick der halbtoten Patienten nicht ertragen können», gab Lena zu bedenken, als Maggie sich nach allen Seiten umsah.
«Kann uns nur recht sein», erwiderte Maggie, wobei ihre dunklen Knopfaugen listig aufleuchteten. «Wir könnten versuchen, unbeobachtet zum Park zu gelangen, wo der Friedhof sein soll. Was hältst du davon?»
«Ach, ich weiß nicht», sagte Lena und setzte ihren Weg Richtung Haupthaus fort. «Was ist, wenn Edward uns erwischt?»
«Der ist, soweit ich weiß, bei der Destille. Vor dem Abendessen wird er wohl nicht zurück sein. Und Lord William besucht einen Abgeordneten auf einer Nachbarplantage.»
«Na gut, wenn du es sagst.» Lena zuckte mit den Schultern. «Dann sollten wir die Gelegenheit beim Schopfe packen, um etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen.»
Zunächst führte ihr Weg hinunter zum Fluss, wobei sie versuchten, im Schutze der Bäume und Büsche zu bleiben, damit sie nicht entdeckt werden konnten. Etwa eine halbe Meile südlich vom Herrenhaus entfernt erreichten sie einen künstlichen Bachlauf, der ein sauber gestutztes Rasenstück umgab. Neugierig traten die beiden Frauen näher. Dahinter verbarg sich ein englischer Park, der von einem kunstvoll geschmiedeten Eisengitter umzäunt war. Um das Areal zu betreten, musste man durch ein Tor.
«Für das Vorhängeschloss brauchen wir einen Schlüssel.» Lena rüttelte vergeblich an der mannshohen Pforte. «Was sich wohl dahinter verbirgt?»
«Wir werden es gleich herausfinden», erklärte Maggie und deutete auf ein paar verbogene Stäbe im Zaun.
Schon waren sie hindurchgeschlüpft und sahen sich um. Nach ein paar Metern kamen sie an eine kleine Lichtung mit mehr als dreißig Grabsteinen.
«Das ist tatsächlich der besagte Friedhof!» Lena staunte nicht schlecht und begann die Inschriften zu lesen. «Die meisten Gräber sind älter als fünfzig Jahre. Hier liegen Männer und Frauen, wahrscheinlich Vorfahren von Lord William.»
Etwas abseits gab es noch eine separate Grabstätte. Sie war durch die tiefhängenden Äste von Trauerweiden und hohe Rhododendronbüsche vor neugierigen Blicken geschützt. Hier befanden sich sieben weitere Grabsteine aus hellem Marmor.
«Ausnahmslos Frauen», murmelte Maggie, während sie versuchte, die Inschriften zu entziffern. «So wie es aussieht, sind sie alle erst in den letzten zwanzig Jahren gestorben.»
Das älteste Grab war ein richtiges Mausoleum. Als Lena näher trat und die goldunterlegten Lettern las, erschauderte sie.
«Lady Anne», hauchte sie. «Hier liegt Edwards Mutter begraben.»
«Da stehen auch noch die Namen Philippa und Alice. Ob das Edwards Schwestern waren? Anscheinend sind sie am gleichen Tag wie ihre Mutter gestorben, was bedeuten könnte, dass es sich um eine missglückte Geburt gehandelt hat.»
Die anderen Grabsteine sahen deutlich weniger pompös aus, obwohl die Namen der Frauen allesamt adelig klangen.
«Eine Lady von Roxburgh ist darunter», las Maggie im Vorbeigehen, «und eine Isabella de Campo, angeblich die Tochter eines Parlamentsabgeordneten aus Spanish Town.»
«Schau, dort! Da steht ein kleiner Obelisk», bemerkte Maggie und deutete auf eine halbhohe, kaum verwitterte Marmorsäule.
«Sieht nicht wie ein Grab aus», erwiderte Lena und kniff die Lider zusammen, um besser sehen zu können.
«Ja, du hast recht», bestätigte Maggie. «Es ist eher eine Art Gedenkstein. Die Inschrift trägt den Namen Lady Henriette MacMelvin. Aber da steht noch etwas, warte …» Sie stockte. Dann sah sie Lena mit weit aufgerissenen Augen an. «In Liebe und ewiger Verbundenheit. Edward?»
Lena runzelte die Stirn. «Was hat das zu bedeuten? Denkst du, Edward war schon einmal verheiratet?»
«Kaum vorstellbar, denn dann hätte sie ja seinen Namen angenommen. Trotzdem stellt sich die Frage, warum er es dir verschwiegen hat.»
«Ja, das stimmt», erwiderte Lena und schüttelte den Kopf. «Außerdem hätten seine Advokaten etwas Derartiges erwähnt. Die Aufzählung eventueller vorheriger Ehen und der möglichen, daraus resultierenden Versorgungsansprüche waren Bestandteil des Vertrages. Mein Vater hätte es mir bestimmt gesagt, wenn Derartiges in Edwards Ehestandsurkunde gestanden hätte.»
Ihr Blick schweifte gedankenverloren über die Gräber.
«Vielleicht war es auch nur eine Verlobte, und es war ihm unangenehm, mir von einer vorangegangenen Liebe zu berichten. Möglicherweise wollte er keine alten Geister wecken. Jedenfalls kann ich keinen Grund erkennen, warum er mir den Tod dieser Frau verschweigen sollte.»
«Dann frag ihn doch danach.»
Lena überlegte. «Dann weiß er ja sofort, dass wir hier waren und gegen seinen Willen spioniert haben. Außerdem besteht ja immer noch die Möglichkeit, dass diese Henriette auch eine von Lord Williams Verlobten gewesen ist, die Edward besonders gemocht hat.»
«Und warum lässt er sich dann auf dem Stein verewigen und nicht sein Vater?» Maggie war skeptisch.
Lena rieb sich nachdenklich die Nase.
«Aber nein», entschied sie schließlich. «Ich will ihn nicht fragen. Entweder er erzählt es mir selbst, oder jemand, der die Familie gut genug kennt, erwähnt es aus freien Stücken.»
«Zum Beispiel seine Patentante?», fragte Maggie, und ihre Augen blitzten wie die eines Spions, der gerade eine wichtige Information bekommen hat. «Sie hat doch ihren Besuch für heute Abend angekündigt, oder etwa nicht?»
Lady Elisabeth Fortesque war eine verwitwete Endvierzigerin, die selbst eine riesige Plantage besaß und sich regelmäßig auf Redfield Hall aufhielt. In erster Linie machte sie durch ihre Beleibtheit und einen unaufhörlichen Redefluss auf sich aufmerksam. Entgegen ihrer sonstigen Schwatzhaftigkeit trug sie bei der abendlichen Tasse Tee, die Lena mit ihr und Maggie allein im Salon einnehmen durfte, aber nicht wirklich zur Aufklärung der Blake’schen Familiengeheimnisse bei.
«Edwards Mutter war meine beste Freundin», erklärte sie schlicht und nahm Lenas schmale Hand in ihre mollige Rechte. «Ist das der Verlobungsring?»
Sie deutete auf den kostbaren Diamantring, den Lena seit ihrer Verlobung mit Edward am linken Ringfinger trug. Lena fiel auf, dass die Lady manchmal ein wenig lispelte, was wohl an ihren Zahnlücken lag.
«Weißt du, woran ich das erkenne?», fragte Elisabeth Fortesque und schaute sie aus wasserblauen, leicht blutunterlaufenen Augen an.
Lena schüttelte überrascht den Kopf.
«Er ist exakt nach dem Verlobungsring von Edwards Mutter gefertigt. Ich will nicht behaupten, dass es der gleiche ist, aber er sieht zumindest genauso aus.»
Diese Erkenntnis überraschte Lena aufs Neue. Warum hatte Edward ihr den gleichen Verlobungsring geschenkt, den seine Mutter getragen hatte? War er so einfallslos, oder hatte das Ganze Methode? Sie hatte plötzlich viele Fragen, aber Lady Elisabeth schien der Sache keine weitere Bedeutung beimessen zu wollen und ging in eine belanglose Unterhaltung über. Allem Anschein nach war sie eine gutmütige, unkonventionelle Person, die Lena und Maggie entgegen der üblichen Sitte sogleich das Du angeboten hatte. Außerdem war sie Edward und seinem Vater sehr zugetan. Etwas, das Lenas Zweifel über die Strenge ihres Schwiegervaters beschwichtigte.
«Ich bin sehr froh, dass William eine so kluge und hübsche Frau für seinen Sohn gefunden hat. Und dass du sogar bereit warst, für ihn deine Heimat aufzugeben, ehrt dich. Die meisten Plantagenbesitzer ziehen es ja vor, in Europa zu leben. Die Blakes sind da anders.»
«Und warum bleiben die Blakes auf der Insel?», fragte Lena neugierig.
«William ist auf der Insel geboren und will die Arbeit seines Vaters fortsetzen, der all das mit sehr viel persönlichem Fleiß und Einsatz aufgebaut hat.»
«Ist sein Vater hier auf der Insel gestorben?»
«Ja, er wurde Opfer eines Überfalls von entlaufenen Sklaven und hat seinem Sohn auf dem Sterbebett das Versprechen abgenommen, die Ländereien niemals im Stich zu lassen.» Sie lächelte milde. «Auch wenn Lord William einen Adelssitz im englischen Lake Distrikt und mittlerweile zahlreiche Pflanzungen in den amerikanischen Südstaaten besitzt, empfindet er Jamaika nach wie vor als seine Heimat. Er würde immer wieder hierher zurückkehren.»
«Und das Gleiche erwartet er auch von seinem Sohn», sagte Lena mehr zu sich selbst.
«Richtig, William würde es niemals gestatten, dass sein Sohn für immer nach England oder in die Staaten von Amerika übersiedelt.»
Maggie, die die Unterhaltung mit Interesse verfolgt hatte, mischte sich neugierig ein:
«Würde Edward es denn vorziehen, in London zu leben?»
«Vielleicht», erwiderte Lady Elisabeth und zuckte mit den Schultern, «aber die Frage stellt sich ja nun nicht mehr, wo er endlich eine passende Frau gefunden hat.»
«Bedeutet das, er hätte mich nicht geheiratet, wenn ich mich einer Übersiedlung in die Karibik verweigert hätte?» Lena spürte, wie sie an Boden verlor.
«Das vermag ich nicht zu beurteilen», antwortete Lady Fortesque diplomatisch und setzte ein undurchsichtiges Lächeln auf. «Aber Lord William war es sehr wichtig, eine Gemahlin für Edward zu finden, die ihm auf die Insel folgen würde. Und man kann sagen, sein Einsatz hat sich gelohnt!»
Lady Fortesque bot an, Lena nach der Hochzeit rasch in die höchsten Kreise der Insel einzuführen. Im Gespräch entpuppte sie sich als eine einflussreiche Plantagenbesitzerin, deren Dinnerpartys unter den reichen Familien Jamaikas sehr begehrt waren.
«Du musst mich so bald wie möglich besuchen kommen», flötete sie und legte Lena in einer vertraulichen Geste die Hand auf die Schulter. «Das Schicksal von Rosenhall wurde seit jeher von Männern bestimmt. Aber nun ist meine Villa ein reiner Frauenhaushalt, wenn man von Candy Jones, meinem persönlichen Butler, einmal absieht, dem die Organisation des Hauspersonals und auch das Wohlergehen der Ladyschaft obliegt.»
Mit einem leicht frivolen Lächeln zwinkerte sie ihrem wesentlich jüngeren Leibdiener zu, der sich unauffällig in eine Ecke des Raums zurückgezogen hatte. Er war ein ausgesprochen groß gewachsener Mulatte mit blendend weißen Zähnen und trug eine eng sitzende, violettfarbene Livree, die keinen Zweifel über seine Vorzüge aufkommen ließ.
«Bevor er in meinen Dienst getreten ist», erklärte Lady Fortesque, «hat er auf der Plantage aus Zuckerrohr Melasse gekocht. Daher sein Name. Candy, von Süßigkeit. Er ist ein wahrhafter Engel. Liest mir jeden Wunsch von den Augen ab. Sogar mein Bett vergisst er nie vorzuwärmen.»
Maggie warf Lena einen irritierten Blick zu, der diese beinahe zu einem unpassenden Grinsen verleitet hätte. Die Miene des jungen Mannes blieb undurchsichtig, doch er schien seiner Herrin tatsächlich zutiefst ergeben. Unterdessen hatte der zufriedene Ausdruck in den Augen der Lady, wenn ihr Blick auf seiner markanten Erscheinung ruhte, etwas von einer Katze, die in einen Rahmtopf gefallen war.
Als Edward sich kurz darauf zu ihnen gesellte, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck zu einer neutralen Miene, die darauf schließen ließ, dass sie ihr süßes Geheimnis nicht mit jedem teilte.
«Und liebe Tante, wie stehen die Geschäfte in Rosenhall?»
«Alles bestens», gab sie mit einem Schulterzucken zu Protokoll.
«Keine Aufstände? Keine entlaufenen Sklaven?», fragte er.
«Gott bewahre!», erwiderte die Lady und fasste sich an ihre ausladende Brust. «Ich habe ein gutes Verhältnis zu meinen Sklaven», beteuerte sie.
«Trotz allem, man sollte sein Vertrauen mit Bedacht vergeben», bemerkte Edward kühl und bedachte Candy Jones mit einem abfälligen Blick. «Es gab in den vergangenen Wochen mehrere Zwischenfälle, die ich nicht näher erläutern möchte, um dich nicht zu erschrecken. Aber wir sollten wachsam sein! Wenn du willst, lasse ich meine Männer auch auf Rosenhall Patrouillen reiten.»
«Nicht nötig», erwiderte Lady Fortesque ein wenig ungehalten. «Ich habe meine eigenen Leute und will keine zusätzliche Unruhe unter meinen Sklaven verbreiten. Aber danke für das großzügige Angebot.»
Edward schien bemerkt zu haben, dass er zu weit gegangen war, und verwickelte sie in eine harmlosere Unterhaltung, in der es um Zuckerpreise und die kostengünstigen Schiffsrouten nach Europa ging. Lena und Maggie zogen sich auf eine Chaiselongue zurück, die etwas abseits stand, um sich bei einem Glas Limonade, das Jeremia ihnen serviert hatte, ungestört zu unterhalten.
«Habe ich das richtig gedeutet?», fragte Maggie und beugte sich zu ihrer Freundin vor. «Sie ist seit zehn Jahren verwitwet und hält sich diesen Candy Jones als Geliebten?»
Ihr Blick verriet Lena, dass sie kurz davor stand, laut loszuprusten. Diese Überlegung war tatsächlich nicht nur abgrundtief skandalös, sondern bei dem Alters- und Standesunterschied der beiden absolut unvorstellbar.
«Vielleicht ist er ihr nur ein treuer Freund?», erwiderte Lena und versuchte zu überspielen, wie schockiert sie war. «Es kommt gar nicht so selten vor, dass die Dienerschaft zum engsten Vertrauten wird. Sieh uns beide an.»
«Aber das ist ein himmelweiter Unterschied», gab Maggie leise, aber entschlossen zurück.
«Vielleicht haben wir ihre Bemerkungen auch nur falsch interpretiert, oder sie hat zu viel Brandy zum Tee getrunken und hat sich versprochen», erklärte sie kaum hörbar. «Sie hat ja auch lediglich gesagt, dass er ihr das Bett vorwärmt …»
Maggie kicherte hell und erntete prompt einen irritierten Blick von Edward, der sich noch immer angeregt mit Lady Elisabeth unterhielt.
«Abgesehen davon, dass eine gusseiserne Pfanne diese Aufgabe weitaus zuverlässiger erledigen würde», murmelte Maggie mit zusammengebissenen Zähnen, «wird es hier wohl kaum kälter als bei uns zu Hause im Hochsommer. Wofür benötigt sie also einen Bettwärmer? Denkst du nicht, da ist etwas faul?»
«Keine Ahnung, aber ich mag sie», fügte Lena flüsternd hinzu. «Immerhin gehört sie als seine Patentante zu Edwards Familie, auch wenn keine direkte Verwandtschaft besteht. Außerdem ist sie weniger steif und verbissen als Lord William.»
«Nun ja», seufzte Maggie und beobachtete, wie sich die Lady mit Edward unterhielt. «Sie scheint jedenfalls kein Kind von Traurigkeit zu sein. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist sie so etwas wie die Princess of Lieven von Jamaika.»
Lena verdrehte die Augen. «Ihr verstorbener Mann war ein Viscount und eng mit Lord William befreundet», erklärte sie. «Nach seinem Tod hat Lady Fortesque eine gigantische Summe geerbt, und obwohl sie spielend nach Europa hätte zurückkehren können, möchte sie wie Lord William auf dieser Insel sterben und neben ihrem Gatten beerdigt werden.»
«Wie romantisch!», entfuhr es Maggie mit einem unterdrückten Kichern, um Edward nicht noch einmal in seiner Unterhaltung zu stören. «Was Lord Fortesque wohl zu Candy Jones sagen würde? Denkst du, er würde sich im Grabe umdrehen?»
«Maggie!» Lena warf ihrer Freundin, deren ungehemmte Neugier sie nur allzu gut kannte, einen warnenden Blick zu. «Lady Elisabeth ist hier, um uns bei den letzten Hochzeitsvorbereitungen zu helfen. Also untersteh dich, ihr bis zur Trauung am nächsten Samstag allzu intime Fragen zu stellen!»
Die Glocken der hauseigenen Kapelle, die unweit des Herrenhauses von Redfield Hall von Edwards Vorfahren erbaut worden war, läuteten Sturm. Gleichzeitig scharten sich immer mehr Gäste anlässlich der unmittelbar bevorstehenden Vermählung von Helena Sophie Huvstedt und Sir Edward William Montgomery Blake um das kleine Gotteshaus.
Draußen war es windig, aber noch schien die Sonne warm vom Himmel herab. Über den hoch aufragenden Blue Mountains bildeten sich bereits die ersten dunklen Gewitterwolken.
Hoffentlich hält das Wetter wenigstens, bis die Hochzeitsgesellschaft in den geschmückten Festsaal des Haupthauses zurückkehrt, dachte Lena. Sie stand am Fenster ihrer Gäste-Suite und inspizierte von ferne den mit weißem Kies ausgestreuten Vorplatz der Kapelle. Aufgeregt beobachtete sie die Ankunft der zahlreichen Gäste. Die Männer erschienen ausnahmslos in Frack und Zylinder. Die Frauen waren in einfarbige Seidenkleider mit ausladenden Ballonärmeln gekleidet, die der neusten europäischen Mode in nichts nachstanden.
Schon seit dem frühen Morgen trug Lena das bauschige, cremefarbene Hochzeitskleid, das ihre Schneiderin in London nach dem letzten Pariser Schick angefertigt hatte. Estrelle und Maggie hatten ihr das hellblonde Haar zu einem dicken Knoten auf dem Kopf aufgetürmt. Darüber fiel in langen Bahnen der eierschalfarbene Schleier, ein Erbstück von Edwards Mutter. Lena hoffte, dass die Haarnadeln, die den Stoff hielten, dem Wind trotzen würden, der bereits die ersten Hüte von den Köpfen der Damen blies.
«Komm, wir müssen gehen», erinnerte sie Maggie und legte letzte Hand an, um die hauchdünne Brüsseler Spitze vor ihrem Gesicht zu drapieren. «Dein zukünftiger Ehemann wartet bereits ungeduldig am Altar auf dich.»
Edward hatte sie an diesem Tag noch nicht zu Gesicht bekommen. In seiner Familie hatte man die Tradition auf den Kopf gestellt. Angeblich brachte es Unglück, wenn die Braut den Bräutigam vor der Kirche erblickte.
«Da ist ja die wichtigste Person des Tages!», rief eine ihr bekannte weibliche Stimme, als Lena sich zusammen mit Maggie auf den Weg zur Kapelle machte.
«Und da rauscht die zweite Brautjungfer heran», vermeldete Maggie mit beißender Ironie.
Lady Elisabeth Fortesque kam aufgeregt hinter ihnen her gewatschelt, wobei ihre pompöse Aufmachung an ein üppiges, frisch dekoriertes Sahnetörtchen erinnerte.
Als erste Brautjungfer war Maggie zwangsläufig in das gleiche rosafarbene Seidenkleid gehüllt worden wie ihre Mitstreiterin, die sich diese Farbe und die vielen Rüschen und Schleifen ausdrücklich gewünscht hatte.
Zu Maggies Bestürzung hatte die Schneiderin, die von Lady Elisabeth mit dem Nähen der Brautjungfernkleider beauftragt worden war, Ballonärmel und Überrock zusätzlich mit Hunderten von Seidenröschen versehen.
«Ich hasse Rosa», hatte Maggie nach der Anprobe in den letzten Tagen stets gejammert. «Und wenn Lady Elisabeth wüsste, dass sie in dem Kleid wie ein aufgeblasenes Marzipanschweinchen aussieht, hätte sie sich für Grün entschieden!»
«Um darin auszusehen, wie ein aufgeblasener Frosch?», hatte Lena lachend erwidert und Maggie damit getröstet, dass ihre eigene schlanke Gestalt ruhig ein bisschen mehr Stoff vertragen konnte.
Dafür, dass die beiden jungen Frauen der rührigen Lady bei der Organisation der Hochzeit alle Freiheiten gelassen hatten, inklusive Auswahl der Brautjungfernkleider, durften sie ab sofort ‹Tante Elisabeth› zu ihr sagen.
«Du siehst bezaubernd aus», schwärmte Lady Elisabeth, während sie die Braut einer eingehenden Betrachtung unterzog. Ein Kompliment, das Lena nicht einmal aus Höflichkeit hätte erwidern können. Die Lady hatte gemäß ihrem offiziellen Alter von fünfunddreißig Jahren, das hinter dem tatsächlichen Alter mindestens fünfzehn Jahre zurücklag, nicht nur auf Rosa für das Kleid bestanden, sondern sich auch noch entsprechend geschminkt. Und während in London seit Jahren jedes Zuviel an Farbe verpönt war, lebte die Lady anscheinend immer noch im ausgehenden Rokoko. Den Mund grellrot bemalt, die Brauen geschwärzt, wippte ihr sorgfältig weiß gepudertes Doppelkinn im Takt ihrer hastigen Bewegungen. In kleinen, abgehackten Schritten defilierte sie an der wartenden Gesellschaft vorbei, mit hocherhobenem Haupt und einem stolzen Blick, als ob es sich um ihre eigene Hochzeit handeln würde.
Lena verkniff sich ein Grinsen, als sie die rosafarbenen Blüten bemerkte, die zu allem Überfluss Tante Elisabeths hellblonde Perücke schmückten, deren Locken über den Ohren zu kunstvollen Schnecken gerollt waren.
«Ach, Kind, es ist jammerschade, dass dein Vater dich nicht so sehen kann», bemerkte sie wenig taktvoll und tätschelte Lenas Wangen.
Schon seit den Morgenstunden kämpfte Lena mit den Tränen, weil sie sich tief in ihrem Innern niemanden sehnlicher herbeiwünschte als ihren Vater.
Lady Elisabeth hingegen sah die ganze Angelegenheit weitaus pragmatischer und zauberte mit einem breiten Lächeln etwas hinter ihrem Rücken hervor.
«Dein Brautstrauß!» Voller Stolz überreichte sie ihr ein beeindruckendes Gebinde aus flammend roten Blüten, in deren Mitte zarte, gelbe Fruchtkelche hervorschauten. Das Ganze war umrahmt von hellgrünen Blättern.
«Daran habe ich überhaupt nicht gedacht», erklärte Lena beinah wie zur Entschuldigung.
«Das ist ja auch nicht deine Aufgabe», erklärte Lady Elisabeth mit mütterlichem Lächeln. «Dein zukünftiger Ehemann hat mich damit beauftragt, dir diesen Blütenreigen zusammenstellen zu lassen.» Liebevoll streichelte sie über die einzelnen Blütenblätter. «Wir nennen diese Blumenart die Flamme von Jamaika. Für die Eingeborenen dieser Insel drückt sie nicht nur Leidenschaft, sondern auch Kraft und Empfindsamkeit aus.»
Lena war gerührt, dass Edward tatsächlich an einen solch hübschen Brautstrauß gedacht hatte. Vielleicht war er doch nicht so gefühlskalt, wie sie in den letzten Wochen manchmal befürchtet hatte. Plötzlich fuhr der Wind kräftig in ihren Schleier, und Maggie half ihr, den Stoff zu bändigen.
Lady Elisabeth reichte Lena die Hand. Wie bereits bei den Proben an den vorangegangenen Tagen nahm sie ungefragt die Rolle der fehlenden Brautmutter ein – eine selbst gestellte Aufgabe, die sie in Ermangelung eigener Kinder sichtlich zu genießen schien.
Weder Edward noch Lord William schienen sich an dem unkonventionellen Verhalten der Lady zu stören. Im Gegenteil, die korpulente Frau brachte auf ihre Weise so etwas wie familiäre Normalität in den Ablauf der Vorbereitungen, die dem eher unpersönlichen Klima auf Redfield Hall eine vorübergehende Leichtigkeit verlieh. Eine solche zwischenmenschliche Nähe hatte Lena seit ihrer Abreise aus London schmerzlich vermisst. Ein Grund, warum sie Lady Elisabeth gerne gewähren ließ, obwohl die Frau zweifelsohne zur Aufdringlichkeit neigte.
Unter den annähernd zweihundert illustren Hochzeitsgästen herrschte eine gelöste Stimmung, als Lena sich in Begleitung ihrer Brautjungfern dem Hauptportal näherte.
Generalgouverneur Somerset Lowry-Corry, der 2. Earl Belmore, hatte höchstpersönlich dafür gesorgt, dass Lord William und seine Familie sich einer passenden musikalischen Untermalung während des Festes erfreuen durften. Die Musikkapelle des 61th Foot Regiments aus Fort Littleton wartete vor der Kapelle mit acht Musikern auf, die sich nicht nur auf Blechhorn und Dudelsack verstanden, sondern auch Geige, Cello und Klavier beherrschten.
Unterdessen sorgte das 84th Rifle Regiment, das ebenfalls in Fort Littleton stationiert war, mit acht Berittenen unter dem Kommando von Captain Peacemaker für den nötigen Schutz der Veranstaltung. Seine Truppe hatte bereits den Gouverneur nebst Gemahlin von Spanish Town aus nach Redfield Hall begleitet.
Juliana Lowry-Corry war in ein langes, bordeauxrotes Kleid mit dazugehöriger kurzer Jacke gekleidet. Dazu trug sie erlesenen Goldschmuck, der mit rauchfarbenen Edelsteinen verziert war, und einen kleinen Federhut, der ihr aufgestecktes, ebenholzfarbenes Haar betonte. Ihr Mann war für sein fortgeschrittenes Alter recht attraktiv mit seinen grau melierten, kurz geschnittenen Haaren und den wachen, braunen Augen. Er trug einen königsblauen Frack, an dessen breitem Revers Dutzende Orden glänzten.
Eine größere Schar von Gästen entstammte dem europäischen Club, wie Lady Elisabeth ihr beiläufig erklärte – eine Versammlung jamaikanischer Honoratioren, die sich die Förderung wirtschaftlicher und politischer Ziele der Kolonie in die Statuten geschrieben hatten. Zutritt zu diesem elitären Kreis hatten ausschließlich vermögende Weiße, die aus Europa stammten und seit mindestens fünf Jahren über eine Residenz in Jamaika verfügten.
Lord William wurde dort als Ehrenmitglied geführt, und es war selbstverständlich, dass eine Abordnung an der Vermählung seines einzigen Sohnes teilnahm.
Vor den Lagerhäusern und Stallungen hatten sich in respektvollem Abstand zur noblen Gästeschar Hunderte einfach gekleideter Sklaven versammelt. Die Aufseher behielten die dunkelhäutigen Männer und Frauen stets im Auge und kontrollierten, dass sie in stummem Einvernehmen blau-weiße Papierfähnchen bereithielten, mit denen sie nach der Messe auf ein Zeichen hin dem Brautpaar zujubeln sollten.
Anlässlich der Hochzeit hatten bis auf die Haussklaven alle Schwarzen einen freien Tag erhalten sowie die Erlaubnis, das Fest auf ihre Weise feiern zu dürfen. Schon früh am Morgen hatten sie in den Strohhütten und benachbarten Dörfern unter lautem Getrommel zu tanzen begonnen. Für den späteren Nachmittag hatte der Lord ihnen eine Extraration Bier und Brot versprochen. Lenas Blick erfasste schmerzlich die Armut, aber auch die Sehnsucht nach einem besseren Leben, die ihr aus den dunklen Augen förmlich entgegensprang. Sie war fest entschlossen, sich um das Wohlergehen all dieser Menschen zu kümmern, sobald sie mit Edward verheiratet war. Wie die eleganten Damen in den Wohltätigkeitsorganisationen ihres Vaters würde sie den Bediensteten ihre Aufwartung machen und Müttern und Kindern kleine Geschenke mitbringen. Außerdem wollte sie dafür sorgen, dass die dringend benötigte medizinische Hilfe noch mehr Arbeitern zuteilwurde.
Während Lady Elisabeth immer noch an Lenas weißem Seidentraum herumzupfte, war Lord William hinzugetreten. Edwards Vater hatte sich selbstverständlich bereit erklärt, seine zukünftige Schwiegertochter in die Kirche zu führen.
Inzwischen hatten sich die Gäste hinter der Braut und Lord William zu einem zweireihigen Spalier aufgestellt. Die Militärmusiker erhoben ihre Instrumente und spielten mit konzentrierter Miene zum Hochzeitsmarsch auf.
Captain Peacemaker, ein hochgewachsener Blondschopf, der eine mit zahlreichen Orden geschmückte, graugrüne Uniform trug, hatte mit seinen Scharfschützen vor dem Eingang der Kirche Aufstellung bezogen. Beim Einmarsch würden seine Männer mit feierlicher Miene ihre Gewehre präsentieren und in einer Zweierreihe einen Durchgang für die Braut und ihr Gefolge bilden.
Plötzlich öffnete sich das Kirchenportal, und Pastor Langley trat zwischen den beiden Flügeltüren heraus. Erst vor wenigen Tagen hatte Lena mit dem asketisch aussehenden Mann die Zeremonie durchgesprochen. Der anglikanische Geistliche, dessen Nickelbrille viel zu weit vorn auf der Nase saß, war gleichzeitig Militärpastor des örtlichen Schutzkommandos und gehörte so gut wie zur Familie.
Milde lächelnd breitete er seine dürren Arme wie eine hölzerne Christusfigur aus, um sie in Empfang zu nehmen.
In ungeahnter Anspannung umklammerte Lena den angewinkelten Unterarm ihres zukünftigen Schwiegervaters und trat durch das Spalier der Soldaten.
Das kleine Gotteshaus verfügte über sechs mannshohe Glasfenster, und drei der Gärtner, die sich üblicherweise um die Parkanlagen von Redfield Hall kümmerten, hatten bereits am Tage zuvor einen üppigen Blumenschmuck aus bunten, einheimischen Blüten im Innern der Kapelle aufgestellt.
Aus dem Innern des Gotteshauses erhob sich nun laute Orgelmusik, die gleiche Melodie von Felix Mendelssohn Bartholdy, die sich mit den Bläsern des Militärkorps für einen Moment auf unschöne Weise vermischte. Es dauerte eine Weile, bis beide Seiten zu einer einvernehmlichen Harmonie fanden. Edward hatte die Noten dazu in London erstanden, und Nelson Willowbie, ein Organist aus Port Maria, hatte die Melodie tagelang einstudieren müssen, weil nach seinem eigenen Bekunden Hochzeitsmelodien im Moment nicht sehr gefragt waren.
Lena war mulmig zumute. Edward zuliebe hatte sie sogar ihren Glauben gewechselt. Mit dem Tag ihrer Vermählung trat sie zur anglikanischen Kirche über. Doch nicht nur das beängstigte sie. Ihre Knie wurden weich bei dem Gedanken, dass sie heute Abend endgültig die Frau eines Mannes sein würde, den sie noch immer nicht richtig einschätzen konnte. Ob der Preis für ihr Glück vielleicht doch zu hoch ausfiel? Würden ihre Gefühle füreinander ausreichen, um ein ganzes Leben miteinander bestreiten zu können?
Beinahe erleichtert registrierte Lena, dass Lord William mit festem Griff ihren rechten Ellbogen erfasste und sie Richtung Altar dirigierte. Maggie und Lady Elisabeth folgten ihnen und sorgten dafür, dass sich die drei Meter lange Schleppe nicht irgendwo im seitlichen Gestühl verhedderte.
Vor ihnen hatte sich ein Dutzend niedlich anzusehender Blumenmädchen aufgereiht, die einer benachbarten, deutschen Lutheranersiedlung entstammten. Sie steckten in himmelblauen Seidenkleidchen und trugen mit Blattgold verzierte Weidenkörbchen, aus denen sie Hyazinthen-, Hibiskus- und Jasminblüten auf den Weg zum Altar streuten. Lady Elisabeth hatte wirklich nichts dem Zufall überlassen.
Mit gewichtigen Schritten führte Lord William Lena zum Altar, wo Edward mit seinem Trauzeugen, Trevor Hanson, bereits auf sie wartete. Lena überraschte der Anblick des gekämmten und gewaschenen Aufsehers, der in einem für ihn unpassend vornehmen Anzug steckte. Aber seine ungewohnte Erscheinung war nichts gegen Edward, der in ihren Augen aussah wie ein griechischer Gott. Augenblicklich wusste sie wieder, warum sie sich auf das Abenteuer mit ihm eingelassen hatte.
Er trug einen französischen Anzug mit heller Hose und nussbraunem Jackett, dazu einen steifen, cremefarbenen Kragen, der farblich perfekt zu ihrem Kleid passte und seine vornehme Haltung betonte. Das markante Gesicht war glatt rasiert, die kurzen, dunklen Haare mit Pomade zurückgekämmt. Seine dunkelblauen Augen schimmerten voller Stolz, als sein Vater ihm Lenas zitternde Hand übergab. Es war, als ob er sagen wollte: Seht her, was für eine junge, schöne Frau mir das Jawort gibt!
Lena war bemüht, seinen Blick mit einem hingebungsvollen Augenaufschlag zu erwidern. Pastor Langley schien ihre Nervosität nicht zu bemerken. Er bat Edward und Lena, nebeneinander auf zwei rot gepolsterten Hockern Platz zu nehmen, und hob die Hände zum Gebet.
Der Innenraum der Kapelle hatte sich bis auf den letzten Platz gefüllt. Einige der geladenen Männer fanden keine Sitzmöglichkeit mehr und drängten sich in den Kirchentüren, sodass niemand mehr hinein- oder hinausgelangen konnte. Zum Weglaufen war es nun eh zu spät, dachte Lena und faltete sittsam die Hände, den Blick starr geradeaus auf den Altar gerichtet.
Die nun folgenden Worte des Pastors rauschten beinahe ungehört an ihr vorbei, bis Langley ihr mit beiden Händen den Schleier zurückschlug und das Brautpaar bat, sich gemeinsam zu erheben. Schüchtern ergriff sie Edwards dargebotene Hand, bemüht, den weiteren Ausführungen des Pastors mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
«Willst du, Edward William Montgomery Blake, die von Gott dir anvertraute Helena Sophie Huvstedt als deine Ehefrau lieben und ehren und die Ehe mit ihr nach Gottes Gebot und Verheißung führen in guten und in bösen Tagen, bis der Tod euch scheidet, so antworte: Ja, mit Gottes Hilfe.»
Edward zögerte keinen Moment.
«Ja, mit Gottes Hilfe!» Mit tiefer, sonorer Stimme sprach er die Worte mit geradezu einschüchternder Autorität.
Nun wandte sich der Pastor mit der gleichen Frage an Lena. Während er sprach, glaubte sie mit einem Mal neben sich zu stehen. In Edwards Augen loderte unterdessen unbändiges Verlangen, doch loderte darin auch das Feuer ewiger Verbundenheit? Bei seinem siegessicheren Lächeln brachen erneute Zweifel an seiner Liebe in ihr auf.
Eine innere Stimme riet ihr schon länger zur Vorsicht, was Edwards wahre Gefühle für sie betraf. Es erschreckte sie selbst, dass sie sich bis vor kurzem hauptsächlich nach seinem attraktiven Körper und seinen heißen Küssen gesehnt hatte. Die Herzenswärme war dabei entschieden zu kurz gekommen, und doch sehnte sie sich nun vor allem nach seiner Liebe. Dabei war Lena noch nicht einmal klar, wann sie sich dessen bewusst geworden war. Als Edward bereits bei ihrer Ankunft mit seiner Abwesenheit geglänzt hatte? Oder weil er so nachlässig mit seinen Sklaven umging? Oder lag es daran, weil sie das Gefühl nicht loswurde, dass er sie offenbar mehr mit dem Körper als mit dem Herzen begehrte?
Du verlangst zu viel, mahnte eine innere Stimme. Er ist bereit, alles für dich zu tun, sein Leben und seinen Reichtum mit dir zu teilen. Liebe kann man nicht erzwingen, sie muss wachsen, und das wird sie auch.
Vielleicht aber waren ihre Zweifel auch nur den Anstrengungen der vergangenen Wochen und den aufwendigen Hochzeitsvorbereitungen geschuldet.
Lena hatte schon viel zu lange mit einer Antwort gezögert, als Pastor Langley sich unvermittelt räusperte.
Ein hastiger Blick zur Seite versicherte ihr, dass die Armee von Hochzeitsgästen in ihrem Nacken ihr keine Chance ließ, das Ruder im letzten Augenblick noch herumzureißen. Sie durfte nicht einmal ansatzweise dem Versuch erliegen, ihre wahren Gefühle preiszugeben.
«Ja, mit Gottes Hilfe», wiederholte sie willenlos die Vorlage des Pastors, doch die Worte fühlten sich seltsam hohl an.
«Der allmächtige Gott segne eure Verbindung!», verkündete Langley mit salbungsvoller Stimme und vollführte den Segen. «Getreu dem Motto: Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, und wo man dich begräbt, will auch ich begraben werden.» Dann wandte er sich mit einem feierlichen Nicken an Edward. «Zum Zeichen der ehelichen Treue und Liebe darfst du, Edward William Montgomery Blake, der Braut nun den Ring anstecken.»
Für einen Moment erlag Lena der Vorstellung, was wohl geschehen würde, wenn sie die Hand zurückzog, bevor Edward den goldenen Ehering neben ihrem hochkarätigen Diamantring platzieren konnte, den er ihr anlässlich ihrer Verlobung in London geschenkt hatte. Aus Furcht, ihre Hand könnte sich plötzlich verselbständigen, machte sie sich stocksteif und ließ die Zeremonie wortlos über sich ergehen.
Mit erhobenem Haupt richtete sich Langley nun an die gesamte Gästeschar. «Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.» Dann senkte er den Blick auf das vor ihm stehende Paar.
«Hiermit erkläre ich euch kraft meines von Gott gegebenen Amtes zu Mann und Frau. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.»
In Edwards Kuss bestätigte sich sein unbotmäßiges Verlangen, das fern jedweder Romantik lag und ihre Bedenken nachträglich verstärkte. Eisern kniff sie die Lippen zusammen, als sie spürte, wie seine Zunge vor allen Leuten nach Einlass verlangte.
«Amen!», erscholl es aus gut zweihundert Kehlen.
Sogleich setzte der Organist an und spielte zur Ehre des englischen Königs die Nationalhymne. Die Gäste erhoben sich und sangen lauthals mit.
Währenddessen beugte sich Edward vor und flüsterte ihr triumphierend ins Ohr:
«Heute Nacht ist es vorbei mit all der Prüderie. Dann gehörst du deinem Ehemann, mit Haut und Haaren. So, wie du es vor Gott versprochen hast.»
Obwohl sie eigentlich glücklich sein sollte, brachte Lena nur ein gequältes Lächeln zustande. Bei Lichte betrachtet hatte sie genau das erhalten, was sie sich in London so sehnlich gewünscht hatte: einen blendend aussehenden, vermögenden Kerl, dem es, was die körperlichen Bedürfnisse von Frauen betraf, weiß Gott nicht an Erfahrung mangelte.
Die anschließende Feier in der großen Halle des Haupthauses bot alles, was man von der prominentesten Hochzeit des Jahres erwarten durfte. Auf einem unendlich langen, französischen Buffet hatten die besten Köche Jamaikas ausgesuchte Köstlichkeiten aufgetürmt: frischer Hummer, Fisch in allen Variationen, Fruchtcocktails mit allem, was die Insel zu bieten hatte, Roastbeef mit gerösteten Rosmarinkartoffeln, Schwein in Aspik, bunte Kuchen, Pasteten und allerlei Süßspeisen von Pudding bis zu kandierten Früchten. Dazu wurde erlesener Wein aus Frankreich kredenzt und Kaffee von den besten Plantagen der Insel. Nicht zu vergessen die riesigen Kristallschüsseln mit Sangaree, einem äußerst beliebten Getränk aus Wein, Saft und frisch geschnittenen Früchten, das mit Rum, Wasser und Zucker angereichert eine nicht zu unterschätzende Versuchung darstellte. Lena hatte vor einiger Zeit einmal davon gekostet. Man bemerkte gar nicht, wie rasend schnell man einen Schwips bekam.
«Eine solche Hochzeit findet auf Jamaika nicht alle Tage statt», bekannte Lady Elisabeth gegenüber ihrer Bekannten, Lady Rossburne, während sie in Gesellschaft der frischgebackenen Braut ihren Begrüßungschampagner schlürften.
«Da haben sich Williams Bemühungen in Europa ja gelohnt», bestätigte diese und bedachte Lena mit einem wohlwollenden Lächeln.
Nachdem Lady Rossburne zu ihrem Gatten zurückgekehrt war, warf Lena Lady Elisabeth einen irritierten Blick zu.
«Wie meint sie das?»
«Hm …» Nach einer Weile fügte Lady Elisabeth zögernd hinzu: «Er hat es sich wohl einiges kosten lassen, ein Mädchen wie dich für Edward zu finden.»
«Was soll das heißen?»
«Nun, dass du heute hier stehst, meine Liebste, in einem wunderbaren Brautkleid mit einem überaus kostbaren Ring am Finger, zeugt doch davon, dass sein finanzieller Einsatz zur Anbahnung dieser Ehe offensichtlich von Erfolg gekrönt war.»
«Moment mal!» Lena wurde heiß und kalt. «Heißt das, er hat irgendjemanden bezahlt, um mich auszusuchen?»
Lady Elisabeth entging der Unmut in Lenas Blick keinesfalls.
«Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst, Schätzchen», flötete sie scheinbar unbeschwert. «In den Kreisen, in denen wir uns bewegen, geht nichts ohne Beziehungen. Und wenn dein Vater nicht selbst auf der Suche nach einem passablen Ehemann für dich gewesen wäre, hättest du Edwards Einladung zum Debütantinnenball wohl kaum angenommen.»
Bevor Lena darauf etwas erwidern konnte, spielte das kleine Militär-Orchester, das nunmehr in den Festsaal umgezogen war, einen Tusch. Die Männer hatten nicht nur ihre Instrumente gewechselt, sondern auch ihre Uniformen. Anstatt in Rot spielten sie nun in dezenten schwarzen Abendanzügen.
Aus einem Pulk von Gästen löste sich Edward, kam zu ihr und zog sie an sich, um den Eröffnungstanz zu beginnen. Lena ließ sich wie in Trance aufs Parkett führen. Zu viele Dinge gingen ihr durch den Kopf, und sie war froh, dass Edward von all dem anscheinend nichts bemerkte. In gewohnter Souveränität absolvierte er mit ihr einen Wiener Walzer.
Erst als weitere Paare zu tanzen begannen, nahm Lena all ihren Mut zusammen und fragte: «Hat dein Vater jemanden dafür bezahlt, dass ich bei Almack’s deine Tanzpartnerin wurde?»
Edward tat überrascht. «Die Princess of Lieven hat zehntausend Pfund von meinem Vater erhalten, damit sie uns eine passende Kandidatin nennt. Ich dachte, du wüsstest das?» Seine Antwort war so ehrlich wie grausam.
«Ich fasse es nicht», zischte Lena und ließ sich willenlos in die nächste Drehung führen. Mittlerweile waren etliche Paare auf der Tanzfläche, aber niemand schien sich für ihr verärgertes Stirnrunzeln zu interessieren. «Die Princess hat mich also verkauft?»
«Ich weiß gar nicht, warum du so einen Unsinn redest», erwiderte Edward und hob eine Augenbraue. «Dein Vater war mit dem gleichen Anliegen an ihren Mann herangetreten. Außerdem war es doch genau das, was du wolltest. Oder habe ich dich etwa zwingen müssen, mich im Keller von Almack’s zu küssen und dich letztendlich mit mir zu verloben?»
«Nein», flüsterte sie mit zusammengepressten Lippen, «aber ich dachte, du hättest mich aus Liebe geheiratet. Und nun muss ich erfahren, dass das alles ein abgekarteter Plan war, weil dein Vater unbedingt eine passable Ehefrau für dich wollte, die bereit war, nach Jamaika überzusiedeln.»
Edward brach in überraschtes Gelächter aus, was bei den tanzenden Gästen den Eindruck gelöster Heiterkeit erwecken musste. Lena hingegen war überhaupt nicht zum Lachen zumute. Was, wenn Edward sie in Wahrheit gar nicht aus freien Stücken erwählt hatte, sondern nur, um seinem Vater zu gehorchen?
«Sei nicht albern, meine Teuerste», versuchte er sie zu besänftigen und blieb dabei ohne Mühe im Takt. «Was ist schon Liebe?» Sein Oberschenkel drückte sich bei der Drehung fordernd in ihren Schritt. «Du kannst es doch kaum erwarten, endlich zur Frau gemacht zu werden. Am besten von einem erfahrenen Hengst wie mir, der weiß, wo es langgeht. Dass du dir bisher aufgrund deiner strengen Erziehung selbst ein wenig im Wege gestanden hast, macht die Sache für mich nicht weniger reizvoll.»
«Edward!», rief Lena empört, doch ihr Protest verhallte mit der Musik, die nun wegen einer unvermittelt einsetzenden Polka lauter geworden war.
Dafür rutschte Edwards Hand jetzt bis auf ihren Po hinab und presste ihren Unterleib an seine spürbare Härte.
«Du bist eine junge, äußerst schöne Zuchtstute aus einem vorzeigbaren Gestüt. Und um meinen Vater zufrieden zu stellen, müssen wir beide nichts weiter tun, als dafür zu sorgen, dass schon bald in deinem gesegneten Leib ein munteres, kleines Fohlen heranwächst.»
Als die Musik abebbte, zog er sie mit einem gierigen Lächeln an sich und küsste sie hart auf den Mund, was den Gästen laute Beifallsbekundungen entlockte.
«Ich kann es kaum erwarten, heute Nacht endlich bei dir zu liegen», flüsterte er ihr ins Ohr, noch bevor Lena sich losreißen konnte.
Ihr wurde vor Empörung ganz schwindlig. Verzweifelt sah sie sich nach Maggie um, der sie am liebsten sogleich von Edwards Unverschämtheiten erzählt hätte. Doch Maggie war verschwunden.
Edward fasste sie mit eiserner Kraft am Handgelenk und zog sie zu einer Gruppe von Gästen, die sich um den Gouverneur geschart hatte.
«Darf ich Ihnen meine Braut vorstellen?», erklärte Edward mit einem einnehmenden Lächeln und schob Lena ohne weiteres in die Runde von Brandy trinkenden Plantagenbesitzern, die den Gouverneur umringten.
«Madame, es ist mir eine Ehre, Sie in der Gesellschaft Jamaikas willkommen zu heißen», begann der Gouverneur und verbeugte sich formvollendet für einen angedeuteten Handkuss. «Lord Somerset Lowry-Corry, 2. Earl of Belmore, zu Ihren Diensten. Ihr Vater ist, wie ich hörte, erfolgreicher Großhändler für die Erzeugnisse unserer schönen Insel.» Mit anerkennendem Blick sah er in die Runde. «Da ist er doch sicher hocherfreut, einen so erfahrenen Schwiegersohn in seiner Familie begrüßen zu können!»
Die Umstehenden lachten zustimmend. Edward schien sich über die Bemerkung unbotmäßig zu amüsieren. Lena glaubte in seinem schmutzigen Grinsen eine ebenso schmutzige Andeutung zu erkennen. Doch sie wollte sich von derartigen Unverschämtheiten nicht unterkriegen lassen!
«Gewiss», erwiderte sie in lupenreinem Oxfordenglisch und strich sich eine Locke aus der Stirn, die sich im Eifer des Gefechts aus ihrem zurückgelegten Schleier gelöst hatte.
«Er kann es kaum erwarten, mich in meiner neuen Heimat zu besuchen, um sich von meinem Glück höchstpersönlich überzeugen zu können.» Dann werde ich ihn zur Rede stellen, nahm sie sich stillschweigend vor. Denn ihr Vater war offenbar nicht ganz unschuldig daran, dass sie sich auf diesen fragwürdigen Ehemann eingelassen hatte.
Plötzlich spielte die Musik einen Tusch, und alle drehten sich zu Lord William um, der einen kleinen Notizzettel in der Hand hielt. Allem Anschein nach wollte er eine Rede auf das Brautpaar halten. Mit langen Schritten durchquerte er die Halle, vorbei an den hohen Terrassenfenstern, die man wegen der stickigen Luft und der vielen Menschen weit geöffnet hatte.
Von draußen drang der Geruch nahenden Regens herein. Dem frischen Wind des Vormittags würde bald ein kräftiger Schauer folgen. Schon jetzt tanzten die Wipfel der Palmen wild hin und her, weil der Sturm an Kraft zugenommen hatte. Im Saal wurde es dagegen still, und alle starrten wie gebannt auf das Podium, das William Blake mit einem triumphierenden Blick in die Runde bestiegen hatte.
«Heute ist für mich ein ganz besonderer Tag», begann er feierlich, «denn mit Stolz blicke ich auf meinen einzigen Sohn, der eine ganz besondere Frau zum Traualtar geführt hat. Eine Frau, die den weiten Weg übers Meer nicht gescheut hat, um als zukünftige Herrin von Redfield Hall diese traditionsreiche Plantage zu führen. Und wie ich hoffe», ergänzte er grinsend, «sie mit vielen gesunden Nachkommen zu segnen.»
Ein Raunen ging durch die Menge. Hier und da entschlüpfte einer männlichen Kehle ein unanständiges Lachen. Während Lena am liebsten im Boden versunken wäre, schien Edward mit den Worten seines Vaters durchaus einverstanden zu sein. Besitzergreifend hielt er ihre schmale Taille umklammert. Plötzlich blitzte und donnerte es heftig, sodass Lord William für einen Moment seine Rede unterbrechen musste. Der Sturm brandete heftiger auf, und der Himmel verdüsterte sich.
Als der Schrecken der Gäste sich gelegt hatte, hob Lord William von neuem an und fuhr mit seiner Laudatio fort. Doch unvermittelt ging ein weiterer Aufschrei durch die Gästeschar. Lord William schaute irritiert auf. Es hatte keinen weiteren Donnerschlag gegeben, aber Lena sah, wie sich abrupt ein schwarzer Schatten aus dem Nichts herausschälte und vor das Podium trat. Die Gestalt hielt ein flatterndes Etwas in ihrer erhobenen Hand und schien damit ihren Schwiegervater zu bedrohen.
«Ich verfluche dich, William Blake, und deinen vermaledeiten Sohn!», ertönte die schrille Stimme einer alten Frau in gebrochenem Englisch. «Der Leib seiner Frau soll eher verfaulen, als dass er Früchte hervorbringt. Und sollte der Teufel ein Einsehen haben und ihren Körper mit seiner Brut segnen, so soll sie eines grässlichen Todes sterben, noch bevor sie niedergekommen ist!»
Alle Gäste standen wie angewurzelt an ihrem Platz. Keiner sagte ein Wort, geschweige, dass sich jemand bewegte. Alle schienen wie verhext. Lena stockte der Atem. Dann hob die Alte plötzlich eine Machete und schlug auf das immer noch flatternde Tier ein, ein Hahn, wie Lena nun unschwer erkennen konnte. Anschließend schleuderte sie den leblosen Kadaver in hohem Bogen durch die Luft und traf Lord William damit so hart am Kopf, dass dieser zunächst rückwärtswankte und dann mit voller Wucht in die Orchesterstühle stürzte.
Mit einem Mal war überall Blut. Williams Gesicht und sein Anzug samt Kragen waren überströmt, und auf dem Boden bildete sich ein kleiner roter See. Es sah aus, als ob dem Lord selbst jemand die Kehle durchschnitten hätte. Erneut ging ein Aufschrei durch die Menge, und es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die ersten Männer aufsprangen, um zumindest den toten Hahn vom Boden aufzuheben. Das Tier war zwischen Lord Willams ausgestreckten Beinen gelandet, was – so wie es auf den ersten Blick aussah – zu keinen zusätzlichen Blessuren geführt hatte.
Erst als Edward sich von ihr löste und zu seinem Vater rannte, erwachte auch Lena aus ihrer Schockstarre. Andere Gäste, darunter einige Soldaten, machten sich daran, hinaus in den Regen zu rennen, um die Täterin zu fassen. Doch die Frau war längst durch die offen stehenden Terrassentüren entkommen. Ein hektisches Durcheinander entstand, weil die meisten Gäste nun ebenfalls nach draußen eilten.
Der Gouverneur rief Captain Peacemaker im Vorbeieilen ein paar eindeutige Befehle zu, in denen die Worte «Tot oder lebendig!» vorkamen. Lena ließ den Blick schweifen, um Maggie in dem Trubel auszumachen.
«Nur keine Aufregung», sagte da eine vertraute Stimme neben ihr, und schon spürte sie Lady Elisabeths mollige Hand auf der Schulter. «Sie werden diese Verrückte schon schnappen.»
«Wer in Gottes Namen war das?», stieß Maggie hervor, die sich durch die Menge gekämpft hatte und sich nun ebenfalls zu ihnen stellte.
Ihr war die Verwirrung über dieses plötzliche Ereignis deutlich anzusehen.
Lady Elisabeth sammelte sich als Erste.
«Mit Sicherheit war das keine geplante Hochzeitsüberraschung. Der Sprache nach könnte es eine Sklavin gewesen sein.»
«Eine Sklavin?» Lena sah sie entrüstet an. «Warum sollte sie so etwas Niederträchtiges über mich sagen? Sie kennt mich doch gar nicht!»
«Vielleicht hat es etwas mit den Aufständen zu tun, die Edward in letzter Zeit des Öfteren erwähnt hat?», überlegte Maggie, nur um sich gleich darauf selbst die Antwort zu geben. «Wobei es in seinen Schauergeschichten immer nur um entlaufene Sklaven und brennende Plantagen ging. Von fliegenden Hühnern war nie die Rede.»
Mit einem Seufzer deutete sie auf das tote Tier, das nun unweit des Orchesters am Boden lag und auf Befehl des Gouverneurs einer eingehenden Untersuchung unterzogen werden sollte.
«Kopflose fliegende Hühner, wohlgemerkt», fügte Maggie tonlos hinzu.
«Allem Anschein nach ist es ein Hahn», fügte Lady Elisabeth nüchtern hinzu.
«Hat das irgendeine Bedeutung?» Maggie sah sie neugierig an.
«Keine Ahnung», gab Elisabeth nachdenklich zurück. «Ich weiß nur, dass die Neger solche Opfergaben manchmal für etwas benutzen, das sie Obeah-Zauber nennen.»
«Ich glaube nicht an Zauberei», erklärte Lena unmissverständlich und wandte sich suchend um. «Wo ist Edward überhaupt?»
Sie hatte noch gesehen, wie er seinem Vater auf die Füße geholfen und sich von seiner Unversehrtheit überzeugt hatte. Danach musste er nach draußen gerannt sein. Er würde vielleicht am ehesten eine Ahnung haben, was hier soeben geschehen war.
«Wahrscheinlich gibt er Mr. Hanson und seinen Leuten Anweisungen, um nach der Übeltäterin zu suchen», vermutete Lady Elisabeth.
Unter den noch anwesenden Gästen rumorte es unterdessen, als ob man in ein Hornissennest gestochen hätte. Die Frauen zogen sich ängstlich in den hinteren Teil des Saales zurück, während die Männer zu Degen und Pistolen griffen, sofern sie welche mit sich führten.
«Aber ganz gleich, was noch folgt», beschied Lady Elisabeth und blickte auf das verwaiste Buffet. «Eine solche Aufregung macht hungrig.»
Ohne Skrupel begab sie sich zu den ganz in Weiß gekleideten Haussklaven, die ratlos und verunsichert umherschauten, und verlangte die Herausgabe jeglicher Köstlichkeiten, die ihre angespannten Nerven beruhigen würden. Lena hingegen war der Appetit gründlich vergangen. Sie sah, wie Lord William gegen seinen Willen auf eine Chaiselongue gebettet wurde, damit Dr. Lafayette ihn untersuchen konnte. Kurz entschlossen ging sie zu den beiden hin. Lord Williams Gesundheit erschien ihr inzwischen stabil genug, um ihm ein paar Fragen zu stellen.