Читать книгу Flamme von Jamaika - Martina Andre - Страница 11
Kapitel 3
ОглавлениеAugust 1831 // Jamaika // Paradiesgarten
Hafen in Sicht», brüllte der Matrose vom Rabennest herunter und versetzte damit das gesamte Dreimastvollschiff in Aufruhr.
Die Mary-Lynn war ein schneller Segler mit hundertfünfzig Mann Besatzung und ebenso vielen Passagieren, die sich die vier Etagen je nach Herkunft mit mehr oder weniger schmackhaftem Proviant und einem reichhaltigen Angebot an kostbarer Fracht teilten: Stoffe und Kosmetikartikel aus Paris, Wein aus Deutschland, Werkzeug und Möbel aus Wales und Whisky aus Schottland, alles sicher in Kisten verpackt. Dazu kam ein Heer blinder Passagiere, die jegliche Anlandung genutzt hatten, um unbemerkt an Bord schleichen zu können – Ratten und Kakerlaken. In jedem Hafen wurden es mehr, wie Dr. Beacon, der Schiffsarzt, Lena nur allzu bereitwillig erklärte.
Die Ratten waren der Hauptgrund, warum Lena darauf verzichtete, aus ihrer Luxuskajüte, direkt unter dem Oberdeck und neben der Offiziersmesse, allzu weit in den Bauch des Schiffes vorzudringen. Ein anderer war Maggie, deren Gesundheitszustand sich zunehmend verschlechterte, was Lenas durchgehende Anwesenheit erforderte.
«Wa… wa… was», stammelte Maggie, bleich wie der Tod und mit neu hinzugekommenen, schwarzen Schatten unter den Augen, die sie beängstigend krank aussehen ließen.
Lena legte ihr beruhigend die Hand auf die Stirn, die sich trotz der fürchterlichen Hitze kalt und trocken anfühlte. Dass sie nicht schwitzte, lag daran, dass ihr ausgedörrter Leib nicht bereit war, auch nur einen weiteren Tropfen Wasser zu erübrigen. Und während das Schiff unentwegt in den Wellen stampfte und rollte, ergriff Maggie ein erneuter Würgereiz, der wie seine Vorgänger ins Leere verlief, weil ihr Magen seit Tagen keinerlei Inhalt mehr vorweisen konnte.
«Sie muss unbedingt trinken», hatte Dr. Beacon mit einer gewissen Dringlichkeit im Blick empfohlen, bevor er nach der morgendlichen Visite ihre Kajüte verlassen und in Richtung Achterdeck davongeeilt war.
Dort wartete eine Handvoll Deutsch-Lutheraner, die sich ebenfalls auf der Überfahrt nach Jamaika befanden und dringlich seiner Zuwendung bedurften. In der vergangenen Woche waren zwei der Lutheraner-Kinder am Sumpf-Fieber erkrankt und drohten zu sterben. Die Männer und Frauen in ihrer züchtigen, einfachen Aufmachung hofften darauf, in der Karibik endlich ihr Glück zu machen. Als Lena zufällig von der Krankheit der Kinder erfuhr, hatte sie mit den Frauen Tee, Zucker, getrocknetes Obst und Zwieback geteilt, das sie auf Anraten ihres Vaters vorsichtshalber in einer eigenen Proviantkiste mit sich führte.
Zu Beginn der Schiffsreise hatte die Bordküche für die gehobene Klasse noch einen gewissen Luxus aufbieten können, was die Speisen betraf, aber schon nach einer Woche ging die Qualität der Mahlzeiten drastisch zurück. Ab der dritten Woche war die Versorgung mit frischen Lebensmitteln zunehmend schwieriger geworden, wenn man vom täglich gefangenen Fisch einmal absah. Erst auf der Rückfahrt würde die Mary-Lynn wieder mit Kaffee und Zuckermelasse, Apfelsinen, Mangos und Ananas beladen sein, die dann im halb reifen Zustand ihren Weg nach Europa antraten.
Lena griff nach der emaillierten Schnabeltasse, die Dr. Beacon ihr bereitwillig überlassen hatte, und versuchte erneut ihrer Begleiterin, die wie tot in ihrer Koje lag, den längst kalt gewordenen Kamillentee einzuflößen.
«Du musst endlich mehr trinken», herrschte Lena ihre Freundin mit verhaltener Stimme an, als diese auf ihre Bemühungen nicht reagierte. Sie stellte die Tasse auf den Boden und trommelte sachte mit den Fingern auf Maggies eingefallene Wangen. «Es kann nicht mehr lange dauern, bis wir den sicheren Hafen von Falmouth erreichen. Edward wird uns sogleich in unser neues Zuhause bringen. Dort wirst du wieder ganz gesund werden, das verspreche ich dir!»
Maggie brabbelte irgendetwas Unverständliches als Antwort, und Lena ging erneut dazu über, ihr einen Schwamm, getränkt mit einer Lösung aus Wasser, Honig und Zitronensaft, vorsichtig an die Lippen zu pressen.
Beinahe vier Wochen waren sie nun unterwegs, obwohl das Schiff als eines der schnellsten seiner Klasse galt. Aber wer hätte wissen können, dass die Wirbelsturm-Saison dieses Jahr so heftig ausfiel und sie permanent in schwere Stürme gerieten. Außerdem hatte nichts darauf hingedeutet, dass Maggie keine Schiffsreisen vertrug. Immerhin hatte sie auf der Überfahrt von Hamburg nach London keine entsprechenden Symptome gezeigt und auch sonst hatte sie nichts dergleichen erwähnt. Möglicherweise war Maggies innere Abwehr gegen dieses Unternehmen daran schuld, dass ihr Magen nun so empfindlich reagierte. Im Grunde wollte sie Lenas bevorstehende Ehe mit Sir Edward Blake nicht gutheißen.
«Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich der Richtige für dich ist», hatte Maggie überraschend nach einem Abend im Royal-Theater verlauten lassen, den sie gemeinsam mit Edward und seinem Vater in einer teuren Privatloge verbracht hatten. «Ich habe ihn beobachtet. Bei dem Stück heute Abend hat er einige Male an den falschen Stellen gelacht. Meist dann, wenn jemandem Böses widerfahren ist. Überhaupt finde ich, dass sein Blick verschlagen ist. Seine Augen stehen viel zu eng beieinander. Und erst die seines Vaters! Wenn er eine Frau anschaut, wirkt er wie ein reißender Wolf, der sich einem Lamm nähert. Wenn ich ehrlich bin, habe ich ein wenig Angst vor den beiden», mahnte sie weiter.
Maggie war eifersüchtig, gar keine Frage. Aber um sie nicht zu verlieren, hatte Lena schließlich mildere Töne angestimmt und sie am Ende davon überzeugt, ihr trotz aller Vorbehalte in die Karibik zu folgen, und sei es nur, um sie vor dem von ihr prophezeiten Untergang zu erretten.
Auch ihr Vater, der sie wegen dringender Geschäfte nicht selbst nach Jamaika eskortieren konnte, war ihr beruhigter erschienen, als sie ihm bestätigte, dass Maggie sie in die Fremde begleiten würde.
Als die Stimmen an Deck lauter wurden, beschloss Lena, nach oben zu gehen, um zu sehen, wie sie endlich in den lang ersehnten Hafen einliefen. An der Reling hatten sich bereits jede Menge Schaulustige eingefunden, die in der gleißenden Sonne standen und staunten, wie blau das Meer rund um Jamaika war. Die Luft draußen war warm und feucht, aber längst nicht so stickig wie in den Kabinen. In der Ferne kündigten dunkle Wolken ein Gewitter an, und Lena hoffte, dass sie vorüberziehen würden.
«Wie geht es Ihrer Freundin?», sprach Dr. Beacon sie unvermittelt von der Seite an.
Im Vergleich zu seinem unscheinbaren Äußeren – Halbglatze, grauer Backenbart, Brille und schmächtige Statur – war seine Stimme gewaltig, was wahrscheinlich von seiner Zeit als Militärarzt in der Armee herrührte.
«Gut», antwortete sie hastig und schüttelte gleich darauf den Kopf. «Nein, nein, was rede ich da – es geht ihr nicht gut. Jedenfalls nicht wirklich. Sie trinkt nicht, und es fällt mir schwer, sie wach zu halten.» Lena seufzte leise. «Ich frage mich ernsthaft, wie sie den Transport nach Redfield Hall überstehen soll.»
«Notfalls bringen wir sie in die Krankenstation von Falmouth», versuchte er sie zu beruhigen. «Allerdings sind die Krankenzimmer dort meist überfüllt, und ich bin mir nicht sicher, ob sie in einer Seuchenstation richtig aufgehoben ist. Aus meiner Sicht leidet sie lediglich an einer nicht zu unterschätzenden Reisekrankheit. Das ist nichts Ansteckendes. Ich gebe Ihnen noch ein paar von meinen Tinkturen mit», versprach er und lächelte freundlich. «Ihr Verlobter wird Sie doch sicherlich am Hafen abholen?»
«Ich bin mir nicht sicher, obwohl ich es hoffe», gestand Lena ein wenig ratlos. «Schließlich laufen wir eine Woche später als angekündigt im Hafen ein. Woher soll er wissen, dass wir angekommen sind?»
«Gewöhnlich schickt der Hafenmeister Boten zu den Plantagen, sobald ein Schiff gesichtet wird», beruhigte er sie. «Auf keinen Fall sollten Sie sich aber allein auf die Reise begeben. Lieber nehmen Sie ein Zimmer in einem der Hotels in der Innenstadt. Die sind ordentlich geführt und sauber und entsenden auf Wunsch einen Boten, der Ihren Verlobten informiert.»
«Warum sollte ich uns keine Kutsche mieten? Oder ist das Personal nicht seriös?»
«Nun, die Kutscher sind in der Regel Schwarze, und es gab hier in den letzten Monaten einige Sklavenaufstände. Es heißt, Rebellen wiegeln die schwarze Bevölkerung auf. In der Vergangenheit kam es sogar zu Überfällen auf Reisende. Aber ich will Sie nicht verunsichern», beeilte er sich zu sagen. «Ihr Verlobter weiß ganz sicher darum. Und deshalb sollten Sie auf ihn und seine Eskorte warten.»
Lena runzelte die Stirn. Wenn Edward um die Gefahren auf der Insel wusste, warum hatte er sie nicht ausreichend darüber aufgeklärt? Die Strecke vom Hafen bis zur Plantage war mit einem Wagen in wenigen Stunden zu bewältigen, das wusste sie bereits. Der Löwenanteil an Ländereien erstreckte sich zwar im südlich gelegenen Parish St. Thomas, aber das Herrenhaus der Plantage lag an der Grenze des Parish St. Ann zum Parish St. Mary. Insgesamt musste man von Falmouth bis Redfield Hall noch eine Strecke von knapp vierzig Meilen zurücklegen. Edward hatte ihr geschrieben, dass der Weg zu den Blakes über die mittlerweile ausgebaute Küstenstraße bis zur Mündung des White River führte und von dort aus nach Süden. Dabei war keine Rede davon gewesen, dass unterwegs eventuelle Unannehmlichkeiten lauerten.
Lena wusste nicht, ob sie enttäuscht oder entsetzt sein sollte, dass er ihr in den Briefen zuvor nicht geraten hatte, auf jeden Fall auf ihn zu warten.
«Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Doktor», erwiderte sie, ohne sich ihre Zweifel anmerken zu lassen, und schaute aufs Wasser.
Lautlos glitt das Schiff über meergrüne Wellen in Richtung Falmouth. Es roch nach Fisch und Tang. Aus der Ferne wehte der Geruch verbrannten Holzes, vermischt mit einem merkwürdig süßlichen Duft, zu ihnen herüber.
«Wonach riecht es hier, Doktor?»
«Rum», erklärte Dr. Beacon. «In der Nähe gibt es eine Schnapsbrennerei. Falmouth ist ein wichtiger Handelshafen für alles, was mit Zucker zu tun hat, aber auch Tabak und Kaffee werden hier verschifft, wissen Sie?»
Lena zuckte mit den Schultern. Sie wusste nicht allzu viel über Jamaika, nur das, was Edward ihr über das Land und die Lage der Plantage in seinen Briefen geschrieben hatte. Ein Grund, warum sie die Mary-Lynn für die Überfahrt gewählt hatten, deren direktes Ziel Falmouth und nicht Kingston oder Montego Bay gewesen war.
In der halbmondförmigen Hafenbucht konnte Lena eine ganze Armada von Dreimastschonern ausmachen, die allem Anschein nach geduldig auf die Abfertigung warteten. Die meisten von ihnen hatten gut eine Viertelmeile vor dem Hafenbecken festgemacht. Nur ein einzelnes Schiff wurde an einer der beiden Anlegestellen mit Säcken beladen. Wie eine Ameisenarmee trugen dunkelhäutige Männer die Fracht auf ihren Schultern und luden sie einer nach dem anderen auf der Ladefläche eines Holzkrans ab, dessen Flaschenzug von einem im Kreis laufenden Muli in Bewegung gesetzt wurde. Fasziniert beobachtete Lena, wie die Lasten von dort aus hinunter in den Bauch des Schiffes gehievt wurden.
Eine zweite Anlegestelle in tieferem Wasser schien in erster Linie den Passagierschiffen vorbehalten. Jedenfalls steuerte der Kapitän der Mary-Lynn direkt darauf zu.
Lenas Blick glitt wohlwollend über die weißen Sandstrände, die kristallklaren Buchten und die bunte Stadt, deren Straßenzüge schachbrettartig angeordnet waren. Die meisten Fassaden der Häuser waren in Pastelltönen bemalt. Allerdings blätterte bei einigen Häusern bereits die Farbe ab, manche wirkten regelrecht verfallen. In den umgebenden Gärten wuchsen hohe Palmen und halbhohe Laubbäume. Überall waren niedrige Sträucher zu sehen, deren grünes Blattwerk von roten und weißen Blütentupfern durchbrochen wurde. Das Hinterland erstreckte sich in eine langgezogene Ebene, die von weiter entfernten, dunkelgrün und blau schimmernden Berggipfeln begrenzt wurde.
Ein wahres Paradies, schoss es Lena in den Sinn. Wenn Maggie sich doch nur auch daran erfreuen könnte!
Bevor jemand von Bord gehen durfte, entsandte der Hafenmeister einen Arzt auf die Mary-Lynn, der sich kurz mit Dr. Beacon unterhielt, um sicherzustellen, dass es keine Seuchen an Bord gab. Als endlich das Seil von einem der Matrosen gelöst wurde und die Passagiere das Schiff verlassen konnten, hoffte Lena inständig, dass Edward bereits unten an der Anlegestelle auf sie wartete.
Während die Seeleute noch mit dem Vertäuen des Schiffs beschäftig waren, wankte sie zusammen mit etlichen Passagieren über die schmale Brücke. Nach Wochen auf schwankendem Grund dauerte es eine Weile, bis sie sich an festen Boden unter den Füßen gewöhnte.
Auf die exotische Umgebung, die fremden Stimmen und Gerüche, die auf sie einströmten, konnte sie kaum achten. Vielmehr konzentrierte sie sich darauf, in dem Meer von weißen und schwarzen Menschen Edward zu finden. Jedoch war von ihm weit und breit nichts zu sehen.
Mit aufgespanntem Sonnenschirm machte sich Lena schließlich auf ins Büro des Hafenmeisters. Dr. Beacon hatte ihr empfohlen, dort nach aufgegebenen Nachrichten zu fragen. Auf dem Weg zu den blau gestrichenen Hafengebäuden nahm die Anzahl von Negern kontinuierlich zu. Von überall her strömten sie zum Hafen. Manche trugen schwere Lasten auf dem Kopf; andere trieben Maulesel mit vierrädrigen Karren vor sich her, auf denen großes Gepäck geladen war. Die meisten der Männer gingen mit gebeugtem Rücken und schauten missmutig drein, wenn sie ihren Blicken begegnete.
Lena erschrak, als plötzlich neben ihr eine Peitsche knallte und einen der Arbeiter mitten ins Gesicht traf. Wortlos taumelte der Mann zurück, gab aber keinen Laut von sich, obwohl ihm das Blut die Wange hinunterlief. Ein Weißer mit einem breitkrempigen Hut brüllte ihn an, er solle rascher arbeiten. Schnell trat Lena zur Seite, als der Peiniger sich fluchend seinen Weg an ihr vorbei bahnte, offenbar in der Absicht, seine Knute erneut einzusetzen. Am liebsten hätte sie lauthals protestiert, doch was sollte sie tun, falls der rüde Kerl auf sie losgehen würde?
Ach, wenn Edward doch hier wäre!, flehte sie stumm und wandte sich eilig der halb offen stehenden Tür des Hafenkontors zu.
«Tut mir leid, Mylady», erklärte der rundliche Mann hinter der Theke, der trotz der drückenden Hitze eine dunkelblaue Uniform und eine gleichfarbige Kappe trug. «Von Lord Blake oder seinem Sohn liegt mir nichts vor.»
Noch einmal sah er durch die abgegriffene Zettelwirtschaft, die er in einer kleinen Holzkiste aufbewahrte. Sein Schweißgeruch drang Lena unangenehm in die Nase, doch sie hielt es für unhöflich, ihr parfümiertes Taschentuch zu zücken, und zog es deshalb vor, ein wenig auf Abstand zu gehen.
«Aber ich weiß, dass Sir Edward Blake vor knapp einer Woche einen Aufseher zum Hafen geschickt hat», erklärte der Mann nachdenklich. «Trevor Hanson war sein Name. Er fragte mich, wann die Mary-Lynn einlaufen würde, und erklärte, dass er notgedrungen noch mal wiederkommen würde, wenn das Schiff vor Anker liegt.»
Lena fühlte sich ziemlich hilflos und verlassen, als sie wieder nach draußen trat. Wieso sollte Edward irgendeinen Kerl schicken, um sie abzuholen? Sie wäre ziemlich enttäuscht, wenn er diese Aufgabe nicht selbst übernähme, nachdem sie sich so lange nicht gesehen hatten. Kaum dass sie von der Veranda in den sandigen Vorhof getreten war, wurde sie im Schatten eines großen Akazienbaumes von zwei Negern angesprochen. Die Männer waren allem Anschein nach betrunken. Lallend boten sie ihre Dienste an.
Lena konnte sie kaum verstehen, weil ihr Englisch alles andere als perfekt war. Sie unterdrückte die Übelkeit, die in ihr hochstieg, als einer der beiden näher herantrat. Der Gestank nach Urin und Schweiß, der von ihm ausging, war noch weitaus widerwärtiger als der Geruch des Hafenmeisters. Diesmal half sogar der Einsatz ihres parfümierten Tüchleins nichts, das sie schützend vor Mund und Nase hielt.
Plötzlich sauste abermals eine Peitsche an ihr vorbei. Sofort wichen die Schwarzen zurück. Ihr aufgeschreckter Blick ging zu einem älteren, weißen Kerl, der ebenfalls einen Hut trug, wie sie aus dem Augenwinkel erkennen konnte. Er näherte sich den beiden Männern mit erhobener Peitsche und spuckte einem von ihnen einen Kautabakpfriem ins Gesicht. In Panik rannten beide davon.
«Seht, dass ihr abhaut, verdammtes Gesindel!», brüllte er ihnen hinterher, wobei er denselben seltsamen Dialekt benutzte wie die Flüchtenden. «Oder ich binde euch an den nächsten Baum und versohle euch vor den Augen der Lady den nackten Hintern!»
Lena wandte sich irritiert in seine Richtung, um gegen sein unverfrorenes Vorgehen zu protestieren. Doch als sie seine feiste, grauhaarige Gestalt erblickte, die der eines alt gewordenen Boxers glich, wie sie manchmal auf den Plakaten in London zu sehen waren, zog sie es vor zu schweigen.
Der Mann trug ein schmutziges, beigefarbenes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und darüber eine speckige Lederweste, aus deren kleiner Brusttasche eine erkaltete, ausgebrannte Zigarre hervorlugte.
«Trevor Hanson, Ma’am», grunzte er und streckte ihr völlig ungeniert seine behaarte Pranke entgegen. «Oder sollte ich mich getäuscht haben, und Sie sind nicht die Verlobte unseres ehrenwerten Sir Edward?»
Nun war Lena endgültig verwirrt und vergaß dabei ganz, seinen Gruß zu erwidern. Was in aller Welt hatte dieser ekelerregende Kerl mit ihrem Edward zu tun? Aber halt! Hatte der Hafenmeister nicht seinen Namen erwähnt? Dieser grobschlächtige Kerl sollte der Aufseher von Redfield Hall sein? Hastig schaute sie sich um und hoffte, Edward irgendwo zu entdecken.
«Der Master hat mich geschickt, um Sie und Ihre Zofe vom Schiff abzuholen. Wir haben erst gestern vom Leuchtturmwärter von Port Antonio vom Einlaufen der Mary-Lynn erfahren.»
Dann war Edward also bereits gestern über ihre Ankunft informiert? In Lenas Kopf überschlugen sich die Gedanken.
«Und wieso kommt Sir Edward nicht selbst?»
«Dringende Geschäfte, Mylady», erwiderte Hanson und grinste frech. «Die Ernte ist in vollem Gange, und eine der Sklavinnen ist gerade dabei, ihren Wurm zur Welt zu bringen.»
«Ihren Wurm?»
«Einen Säugling», verbesserte er sich und rümpfte die Nase.
«Und was um Himmels willen hat mein Verlobter mit der Geburt dieses Kindes zu tun?», brachte Lena ihre Verwirrung zum Ausdruck.
«Sir Edward ist ein guter Master», erklärte der Aufseher in einem süffisanten Tonfall. «Er kümmert sich eben um seine Sklaven. Und ich soll mich jetzt um Sie kümmern.» Als Lena keine Anstalten machte, ihm zu folgen, fügte er noch hinzu: «Ich bin seit mehr als zwanzig Jahren der erste Vorarbeiter auf Redfield Hall, und niemandem vertrauen die Blakes mehr als mir. Ich bin sozusagen die rechte Hand Gottes.»
Sein Grinsen wurde von Mal zu Mal überheblicher, und Lena verzichtete darauf, seine blasphemischen Vergleiche näher zu hinterfragen.
«Nun gut, Mr. Hanson», begann sie mit einer gehörigen Portion Unmut in der Stimme. «Wären Sie dann also so freundlich, dafür Sorge zu tragen, dass meine Gesellschafterin liegend das Schiff verlassen kann und wir gemeinsam mit unserem Gepäck schnellstens in das Haus meines Verlobten gelangen? Wir benötigen dringend ein Bad und ärztliche Hilfe.»
Hanson sah sie mit einer Spur Panik in den Augen an.
«Nichts Ansteckendes», vermeldete sie vorsorglich. «Sie ist seekrank.»
Hanson atmete sichtbar auf und sah sich suchend um. Dann brüllte er ein paar Befehle, die Lena abermals zusammenfahren ließen. Allem Anschein nach war er nicht alleine zum Hafen gekommen, sondern hatte sein eigenes Gefolge mitgebracht. Mehrere junge, vergleichsweise hellhäutige Neger näherten sich mit einem flachen Karren, der von zwei kräftigen Shire-Horses gezogen wurde. Hanson befahl den muskulösen, halbnackten Männern, sich um Lenas Gepäck zu kümmern.
Während drei von ihnen die mannshohen Kisten mit Kleidung und Aussteuer von Bord holten, entschloss sich Hanson, in der Hafenkneipe direkt neben dem Haus des Hafenmeisters zu warten. Bei einem großen Glas Rum wollte er sich von der anstrengenden Fahrt erholen.
Wenig später beobachtete Lena, wie die schweren Kisten vorsichtig auf den Karren verladen wurden. Dann trugen zwei weitere Männer Maggie auf einer Trage von Bord zu einer bereitstehenden Kutsche. Dr. Beacon folgte ihnen und half, die junge Frau auf die lederbezogene Bank im Inneren der Kutsche zu betten.
«Hier, nehmen Sie das», sagte er und drückte Lena ein Päckchen in die Hand. «Das sind die Medikamente, die sie benötigt. Geben Sie ihr stündlich fünf Tropfen davon auf die Zunge.»
Lena verabschiedete sich dankbar von ihm und beschloss, Hanson zu suchen, damit sie so schnell wie möglich aufbrechen konnten.
Mit äußerstem Widerwillen betrat sie die Kneipe, um Hanson zu informieren, dass sie abmarschbereit waren. Der Aufseher saß auf einem Barhocker an einem langen Tresen und zechte mit einer Reihe von ähnlich grobschlächtigen Kerlen. Ausnahmslos Weiße. Sie debattierten aufgebracht über irgendetwas, das ihre Gemüter zunehmend in Wallung zu bringen schien. Als sie näher kam, ahnte sie zu ihrem Entsetzen, dass Hanson ziemlich betrunken sein musste, weil er unverhohlen lallte.
«Mr. Hanson!», rief Lena bemüht unerschrocken, um das Stimmengewirr im Schankraum zu übertönen. «Wir wären so weit.»
Die Gespräche der Männer verstummten, und alle blickten sich zu ihr um.
«Darf ich vorstellen», nuschelte Hanson mit einem hämischen Grinsen, «das ist die neue Herrin von Redfield Hall.»
Die Männer zogen ihre Hüte und gaben ein anerkennendes Pfeifkonzert von sich. Lena fühlte sich unangenehm berührt und verspürte mit einem Mal eine unbestimmte Angst vor all diesen gierigen Blicken.
«Wir warten auf Sie», sagte sie so streng wie möglich in Hansons Richtung.
Dann ging sie rasch nach draußen, wo es nicht weniger heiß war, und atmete auf. Hier war die Luft wenigstens nicht so stickig und alkoholgeschwängert, auch wenn sich das Problem damit noch lange nicht erledigt hatte. Genau genommen fing es gerade erst an.
Sie war stinkwütend. Wie konnte Edward ihr Schicksal nur in die Hände dieses betrunkenen Scheusals legen? Der Mann wäre doch gar nicht mehr fähig, sie vor Wegelagerern oder rebellierenden Sklaven zu schützen! Ihr war zwar nicht entgangen, dass Hanson eine Pistole trug und auf dem Kutschbock des Vierspänners zwei Gewehre parat lagen, aber sie traute dem Kerl nicht. Was wäre, wenn er aus reinem Übermut um sich zu schießen begann?
Wenig später holperte sie in einem zwar durchaus luxuriösen Gefährt, aber umgeben von mehr als fragwürdigen Gestalten durch eine exotische Wildnis, deren atemberaubende Schönheit Lena keinesfalls sorglos genießen konnte. Der Weg in ihr neues Zuhause führte vorbei an schneeweißen Stränden und Buchten mit kristallblauem Wasser. Die Küste war gesäumt von blühenden Büschen. Deren feuerrote, orangefarbene und rosarote Blütenkelche hatte sie bisher allenfalls auf Gemälden oder im Botanischen Garten in Hamburg gesehen. Um die Blüten herum schwirrten kleine, bunte Vögel, die mit ihren langen Schnäbeln in das Innere der Blumenkelche eintauchten.
Unterwegs überholten sie immer wieder Gespanne, die von nachtschwarzen Menschen geführt wurden. Auf den Ladeflächen stapelten sich exotische Früchte. Das Obst erinnerte Lena an den Präsentkorb, den Edward ihr in London gesandt hatte. Damals hatte sie beileibe nicht ahnen können, in der von ihr so herbeigesehnten Fremde auf einen derart unangenehmen Zeitgenossen wie Trevor Hanson zu stoßen. Trotz seines angetrunkenen Zustandes ließ dieser es sich nicht nehmen, die Kutsche persönlich zu lenken. Dabei sang er in völlig falschen Tönen irgendwelche irischen Trinklieder.
Lena saß schwitzend im Innern und beobachtete mit Sorge den Gesundheitszustand von Maggie. Zusammengekrümmt lag ihre Freundin auf der zweiten Sitzbank und verschlief die Einkehr ins vermeintliche Paradies. Ein wenig war Lena sogar erleichtert, dass ihre Gesellschafterin nicht munter genug war, um ihre Ängste und Zweifel zu bemerken. Nicht auszudenken, wenn Maggie aus dem Auftritt von Mr. Hanson die gleichen Rückschlüsse gezogen hätte wie sie selbst! So blieb nur zu hoffen, dass ihre Ankunft in Redfield Hall sie von diesem Albtraum erlöste und Edward sie mit der gleichen Zuneigung und Fürsorge empfing, mit der er sie in London zurückgelassen hatte. Das von ihm beschriebene prunkvolle Anwesen würde sein Übriges tun, um nicht nur Maggie, sondern auch ihr eigenes Gemüt vollends zu besänftigen. Sicher war ein lebenswichtiges Erfordernis dafür verantwortlich, dass Edward nicht selbst zum Hafen gekommen war. Eines, das weit über die verworrene Erklärung des Aufsehers hinausging. Sobald Maggie sich besser fühlte, würden sie gemeinsam über ihre katastrophale Anreise lachen können.