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Kapitel 4
ОглавлениеAugust 1831 // Jamaika // Redfield Hall
Es war mitten in der Nacht, als Lena nach mehr als acht Stunden Fahrt und einem Pferdewechsel in St. Ann ihr neues Zuhause erreichte. Im fahlen Mondlicht war bereits von weitem das strahlende Weiß des mehrstöckigen Herrenhauses zu erkennen. Über einen breiten, mit Kies ausgestreuten Weg ging es entlang haushoher Palmen zu einer geschwungenen Auffahrt. Der Prachtbau stand in krassem Kontrast zu den ärmlichen Hütten, die Lena auf dem Weg gesehen hatte, und den schlichten Lagerhäusern und Stallungen ringsumher.
Das Herz von Redfield Hall lag auf einer Anhöhe und wurde von zahlreichen Feuerkörben und Fackeln erleuchtet. Als die Kutsche sich näherte, entpuppte sich das Gebäude als beeindruckender Marmorpalast mit griechischen Säulen entlang der gesamten Vorderfront, die eine breite Überdachung vor dem Haupteingangsportal stützten. Ein unübersehbarer Vorteil, denn so war es anfahrenden Kutschen möglich, ihre Gäste unbehelligt von Regen und Sturm ein- und aussteigen zu lassen.
Nachdem die Pferde mit einem müden ‹Ho-ho!› von Mr. Hanson zum Stehen gekommen waren, schrak Lena auf ihrer Bank zurück, als die Tür der Kutsche unvermittelt von außen aufgerissen wurde und einzig ein paar weiße Handschuhe und eine helle Zahnreihe die Düsternis im Wagen durchbrachen. Erst als sich ihre Augen an die Umgebung gewöhnt hatten, sah sie den durch und durch schwarzen Mann, der ihr lächelnd seine weiß behandschuhte Rechte zum Aussteigen bot.
Vom langen Fahren und der Anspannung ganz steif, kletterte Lena aus dem Wagen. In seiner Linken trug der Butler eine Fackel, mit der er ihr den Weg zum Treppenaufgang leuchtete.
«Herzlich willkommen auf Redfield Hall, Mylady. Mein Name ist Jeremia», erklärte der Mann mit gesenktem Blick und einer tiefen, sonoren Stimme.
Sein Englisch war vom einheimischen Dialekt gefärbt, aber nicht so unverständlich wie das der Neger in Falmouth. «Ich bin Lord Williams Butler und stehe der Dienerschaft vor. Darf ich bitten?»
Er verbeugte sich noch tiefer und deutete zum Anwesen. Die dunkle Livree, die er trug, unterschied sich in der Farbe kaum von seiner Haut. Als Lena noch nicht reagierte, fiel sein Blick auf Maggie, die im Innern der Kutsche langsam zu sich kam.
«Wir sind bereits über den Zustand Ihrer Gesellschafterin informiert», erklärte Jeremia. «Man wird sie in ihr Zimmer tragen. Es befindet sich direkt neben der Suite Ihrer Ladyschaft im zweiten Obergeschoss.»
«Wo sind wir?», wisperte Maggie mit matter Stimme.
Offenbar war sie durch die plötzliche Kühle und das einsetzende Stimmengewirr vor der Kutsche erwacht. Auch das Zirpen der Zikaden erfüllte die samtweiche Luft.
«Am Ziel», erwiderte Lena leicht unsicher. Dann wandte sie sich an den Butler. «Miss Blumenroth benötigt dringend die Zuwendung einer Zofe», erklärte sie dem schwarzen, älteren Mann. «Jemand muss mir helfen, sie zu entkleiden und bettfertig zu machen.»
Der Butler nickte ergeben. «Sehr wohl, Mylady, ich werde alles zu Ihrer Zufriedenheit veranlassen.» Mit wackeligen Beinen schritt Lena die Treppe zum Haus hinauf. Inzwischen hatte eine Schar schwarzer, beinahe unsichtbarer Geister mehrere Fackeln entlang der breiten Marmortreppe aufgestellt, die von der Auffahrt zum Hauptportal führte.
Dass Edward nicht wenigstens hier das Empfangskomitee verstärkte, stürzte Lena in abgrundtiefe Enttäuschung. Ihre Hoffnung, dass er jeden Augenblick aus dem hell erleuchteten Portal heraustreten und ihr entgegeneilen könnte, verflüchtigte sich vollends, als ihr lediglich eine rabenschwarze Hausdame entgegentrat. Ihr kurzes, krauses Haar war bereits leicht ergraut, wohingegen ihr dunkelblaues, eng anliegendes Kleid den immer noch jugendlich wirkenden, schlanken Körper betonte.
«Willkommen in Redfield Hall, Mylady», sagte sie und vollführte einen Hofknicks. «Mein Name ist Estrelle. Ich bin hier für den Haushalt zuständig und werde Sie bei allem unterstützen, was Sie für notwendig erachten.»
Ihr Akzent war nicht weniger stark als der des Butlers, doch im Gegensatz zu ihm ließ ihre Miene nicht die geringste Gefühlsregung erkennen.
Lena konzentrierte sich auf ihr dringendstes Anliegen. «Miss Blumenroth benötigt umgehend den Beistand eines Arztes. Gibt es jemanden auf der Plantage, der ihr helfen könnte?»
«Unser Hausarzt sitzt in Fort Littleton», erwiderte Estrelle unbeeindruckt. «Das ist zehn Meilen entfernt. Wir könnten sofort einen Boten schicken, wenn Sie das wünschen. Aber es wird eine Weile dauern, bis er mit dem Doktor zurückkehrt.»
«Ich wünsche es. Je eher er losreitet, umso besser.» Lena war erleichtert, dass das Personal offenbar bereit war, ihre Befehle ohne Rückversicherung bei Edward oder seinem Vater zu befolgen. Wobei es sie brennend interessierte, warum die beiden nicht vor Ort waren. «Darf ich fragen, wo sich der Herr des Hauses aufhält? Ich hatte gehofft, ihn bei meiner Ankunft hier vorzufinden.»
«Es tut mir leid, Mylady», antwortete Estrelle kühl. «Master Edward hat die Plantage heute Nachmittag wegen dringender Geschäfte verlassen, und sein Vater befindet sich zu Verhandlungen in Kingston, wo er den Gouverneur trifft.»
«Oh», sagte Lena, bemüht, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Doch Estrelle besaß offensichtlich einen scharfen Blick und ahnte wohl, was in ihrem Kopf vorging.
«Da Ihr Schiff Verspätung hatte und niemand wusste, wann es genau eintreffen wird», hob sie erklärend an, «sind Lord William und sein Sohn ihren Verpflichtungen nachgegangen. Ich nehme an, dass zumindest Master Edward bis spätestens morgen wieder zurück sein wird.»
Lena verstand natürlich, dass Edward und sein Vater viel beschäftigte Männer waren, die nicht tagelang in Falmouth auf ein einlaufendes Schiff warten konnten. Während sie noch grübelte, hörte sie die polternde Stimme des Aufsehers, der seinen Männern in einer unverständlichen Sprache Anweisungen gab, das Gepäck abzuladen und ins Haus zu bringen. Dr. Beacon hatte Lena von einer jamaikanischen Sprache der Einheimischen erzählt. Es handelte sich um eine eigene Form des Englischen, gemischt mit Afrikanisch, die kaum ein Weißer verstand. Sie war erstaunt, dass Mr. Hanson sich ihrer so sicher bediente, als hätte er sie mit der Muttermilch aufgesogen. Wahrscheinlich war es seinem langen Aufenthalt auf dieser Insel geschuldet, dachte sie schließlich.
Nun sah sie, wie Maggie von vier kräftigen Negern auf einer Trage die Treppe hinauftransportiert wurde. Wobei Jeremia die Männer mit Argusaugen beobachtete, damit sie auch ja pfleglich mit ihrer kostbaren Fracht umgingen.
«Master Edward hat mich angehalten, Sie nach Ihrer Ankunft unverzüglich in die Gegebenheiten von Redfield Hall einzuweisen», unterbrach Estrelle ihre Gedanken. «Er meinte, Sie seien nicht allzu vertraut mit den Sitten und Gebräuchen auf einer karibischen Plantage.»
«Nun», erwiderte Lena, während sie der Negerin in die große Empfangshalle folgte, «ich vermute, da muss ich ihm recht geben. Da, wo ich herkomme, beschäftigt man keine Sklaven. Und ehrlich gesagt», fuhr Lena, ohne zu überlegen, fort, «bin ich mir noch nicht sicher, was ich davon halten soll.»
Sie blieb am Fuß der breiten Marmortreppe stehen, wo ihre Aufmerksamkeit von den mannshohen Ölgemälden gefesselt wurde, die den gesamten Aufgang schmückten. Unvermittelt hob Estrelle den Leuchter und deutete auf zwei der Frauenporträts.
«Das war Master Edwards Mutter», erklärte sie mit tonloser Stimme.
Eine schlanke, vielleicht dreißigjährige Frau lächelte gütig auf die Betrachter herab. Sie trug ein vanillegelbes Kleid und hielt einen filigranen, spanischen Fächer in der Hand, dessen Saum mit kleinen weißen Daunen geschmückt war.
«Sie war eine gute Herrin. Leider ist sie viel zu früh von uns gegangen. Sie starb bei der Geburt ihrer Zwillinge. Mädchen. Aber auch sie haben die Geburt nicht überlebt.»
«Wie schrecklich», sagte Lena. «Und die Frau dort oben?»
Sie deutete auf das Bild einer rotblonden, höchstens fünfundzwanzigjährigen Schönheit, deren Haar streng zum Knoten frisiert war und deren tief ausgeschnittenes himbeerfarbenes Kleid ihre milchfarbenen Brüste betonte. Ihr Blick wirkte irgendwie traurig.
«Das war Lord Williams zweite Frau. Auch sie ist noch während der ersten Schwangerschaft an einem Fieber gestorben. Gott, der Herr, sei ihnen gnädig», schob Estrelle rasch hinterher und bekreuzigte sich.
Lena spürte, wie leichtes Entsetzen in ihr aufstieg. Edward hatte ihr zwar erzählt, dass sein Vater Witwer war, aber von einer zweiten verstorbenen Frau und von toten Geschwistern hatte er nichts erwähnt.
Im zweiten Stock angekommen, stieß Lena einen leichten Seufzer aus, als ihr Blick auf den langen, persischen Läufer im Korridor und auf die vielen Mahagonitüren fiel, von denen nur eine geöffnet war.
Wie prächtig hier alles war! Hinter Estrelle betrat sie das Gemach, in dem Maggie soeben auf ein ausladendes Bett aus dunklem Ebenholz mit einem rosafarbenen Baldachin und seidenen Seitenschabracken gelegt wurde. Wieder staunte sie über den Luxus, den sie in dieser Abgeschiedenheit so nicht erwartet hatte: Auch hier glänzte ein blank polierter Mahagonifußboden und dicke orientalische Teppiche sorgten für eine gediegene Gemütlichkeit. Dazu elegante Schränke mit gedrechselten Verzierungen und gläsernen Buntfenstern, hinter denen sich kostbares Porzellan und Kristall verbargen. Ein filigraner Sekretär und ein rundes Tischchen mit zwei französischen Stühlen komplettierten die luxuriöse Suite. Unter dem Bett stand ein silberner Nachttopf in der Form eines schlafenden Schwans. Und hinter einem reich verzierten Paravent lockte ein ausladender Kupferzuber mit einem kunstvoll vergoldeten Ablaufhahn zu einem entspannenden Bad.
Estrelle schickte sich sogleich an, ein Fenster zu öffnen, sodass der kräftige Abendwind die schweren Samtgardinen in Wallung brachte.
Nur mühsam vermochte Lena ein Gähnen zu unterdrücken. «Ich schlage vor, Sie helfen mir dabei, Maggie ein Nachthemd anzuziehen», erklärte sie. «Dann möchte ich mich ebenfalls gerne zurückziehen. Ich will ausgeruht und frisch sein, wenn ich morgen auf meinen Verlobten treffe.»
«Sehr wohl, Mylady», erwiderte Estrelle und stellte die Kerze auf einem Nachtschränkchen ab. «Ihr Gemach ist gleich nebenan.» Sie deutete auf eine hohe Flügeltür. «Für die Zeit nach Ihrer Vermählung hat Master Edward ein gemeinsames Ehezimmer im dritten Stock einrichten lassen.»
Lena hob eine Braue. Also auch hier hielt man sich an Moral und Sitte; Maggie wäre entzückt, wenn sie das hörte. Doch ihre Gesellschafterin lag noch immer bleich und halb ohnmächtig auf dem seidenen Lager und stöhnte nur leise.
«Ihr könnt gehen», befahl Estrelle den jungen Sklaven. «Und schickt mir Larcy herauf.»
Wenig später betrat ein mageres, schwarzes Mädchen mit kurz geschorenem Kraushaar den Raum. Sie trug ein graues Sackkleid und lief barfuß. In einer Hand hielt sie eine gläserne Karaffe mit Zitronenlimonade, in der anderen einen Teller mit frisch geschnittenem, exotischem Obst.
Estrelle wies sie mit barscher Stimme an, die Sachen auf dem Nachttisch abzustellen und ihr beim Entkleiden der Lady zu helfen.
Lena hielt sich zurück. Erst beim Öffnen des Mieders kam sie Larcy zu Hilfe, die darin offenbar nicht geübt war. Mit vereinten Kräften zogen sie Maggie das Kleid vom Körper und hüllten sie in ein seidenes Nachthemd, das auf einem Stuhl bereitgelegen hatte.
Estrelle schob Maggie noch zwei dicke Daunenkissen hinter den Rücken, dann entnahm sie dem Vitrinenschrank ein Kelchglas, schenkte etwas Limonade ein und hob Maggies Kopf an.
Lena setzte sich derweil auf die andere Seite ans Ende des Bettes und beobachtete die Bemühungen der schwarzen Hausangestellten. Sie hoffte, dass ihre Freundin die Limonade bei sich behalten würde. Als Estrelle das Glas absetzte, drehte Maggie den Kopf zur Seite und sah Lena aus halb geschlossenen Lidern an.
«Ich sterbe», murmelte sie.
«So schnell stirbt man nicht», erwiderte Lena mit aller Entschlossenheit. «Oder denkst du wirklich, du kannst mich hier so einfach alleine lassen?» Als sie sah, dass Maggie sich um ein schwaches Lächeln bemühte, fügte sie noch hinzu: «Jetzt haben wir es schon bis nach Redfield Hall geschafft, da wollen wir das Paradies auch gemeinsam erkunden. Oder willst du etwa kneifen?»
«Nein», antwortete Maggie mit brüchiger Stimme.
Lena warf den beiden Negerinnen einen verunsicherten Blick zu. «Estrelle, würden Sie und Larcy uns jetzt bitte allein lassen? Ich komme im Moment auch so zurecht, und meine Gesellschafterin benötigt dringend Ruhe.»
Als sie endlich unter sich waren, stieß Lena einen verhaltenen Seufzer aus und gab ihrer Freundin noch etwas zu trinken. Trotz ihres erbärmlichen Zustands begriff Maggie recht schnell, dass die Dinge sich nicht so entwickelt hatten, wie sie sollten.
«Du weißt, dass ich nicht besonders viel von deinem Zukünftigen halte», schimpfte sie mit heiserer Stimme. «Er ist zu schön, zu glatt und wahrscheinlich auch zu unzuverlässig. Bin gespannt, wie er sich aus der Sache herausredet.»
«Denkst du, es hilft mir, wenn du Wasser auf die Mühlen gießt?», konterte Lena leicht ungehalten. «Bisher hat er nichts getan, was mich an ihm zweifeln ließe. Vielleicht gibt es ja wirklich einen guten Grund, warum er heute nicht hier sein konnte.»
«Ja», stöhnte Maggie, «tut mir leid, ich wollte dich nicht noch mehr verunsichern.»
Lena strich ihr eine schwarze Locke aus der Stirn. «Die letzten Tage und Wochen waren sehr anstrengend für dich, schlaf jetzt.»
Sie stand auf und ging mit dem Kerzenleuchter ins Nachbarzimmer, das sie bis zur Hochzeit bewohnen sollte. Der große Raum unterschied sich kaum von Maggies Suite. Und irgendwie behagte Lena der Gedanke nicht, allein in so einem monströsen Bett schlafen zu müssen. Mit einem beklommenen Gefühl in der Brust kehrte sie um und ging zu Maggie zurück. «Kann ich bei dir schlafen?»
«Klar, warum nicht.» Maggie rückte ein wenig zur Seite, was ihr sichtlich schwerfiel, weil sie so kraftlos war, und half Lena mit zitternden Händen, die Verschnürung des braunen Reisekleides zu öffnen, das am Saum schon ganz verstaubt war. Lena schlüpfte aus den Stiefeln und den Strümpfen und wusch sich im weißen Unterkleid notdürftig in einer Schüssel auf der Kommode. Anschließend kroch sie erschöpft unter das dünne Laken. Bevor sie die Kerze löschte, trank sie selbst noch ein großes Glas Limonade und flößte auch Maggie noch etwas davon ein.
«Danke», sagte die Freundin.
«Schlaf wohl», erwiderte Lena. «Morgen wird es uns bestimmt schon besser ergehen.»
Wenige Atemzüge später war Maggies leises Schnarchen zu hören. Lenas letzte Gedanken galten ihrem Vater. Wenn er doch nur hier wäre, um zu beurteilen, ob sie sich richtig entschieden hatte! So kämpften Gefühl und Verstand einen aussichtslosen Kampf in ihrer Brust. Hoffentlich war es kein böser Fehler gewesen, diese Verbindung in Gegenwart ihres Vaters so vorbehaltlos voranzutreiben.
In ihrer Erinnerung kehrte sie zu jenem Abend bei Almack’s zurück, an dem Edward sie so heftig umgarnt hatte. Kein Zweifel, dass er ein Mann mit Erfahrung war, was den Umgang mit Frauen betraf. Immerhin war er schon über dreißig, und sicher hatte er bereits vor ihr einige Liebschaften gehabt. Doch er hatte nie darüber gesprochen. Plötzlich kam ihr ein übler Gedanke. Was wäre, wenn es auf der Insel noch andere Frauen gab, die an ihm interessiert waren, und er sie schon vor der Ehe betrog? Denn wenn sie es recht bedachte, hatte er ihr gegenüber bisher weder von Liebe noch von Treue gesprochen. Andererseits waren das Hirngespinste, die jedes Beweises entbehrten. Hätte er ihr sonst so romantische Briefe geschrieben? Aber irgendetwas hatte ihn schließlich davon abgehalten, sie persönlich am Hafen abzuholen oder wenigstens im Herrenhaus auf ihre Ankunft zu warten. Und wusste der Himmel, warum, Lena fürchtete, dass dieser Grund kein angenehmer sein würde.
Der Sklavenaufstand in Pigeon Town, gut einen halben Tagesritt südwestlich von Redfield Hall entfernt, war nicht so harmlos verlaufen, wie Edward Blake und seine Verbündeten zunächst angenommen hatten. Ein paar verrückte schwarze Baptistenprediger, aber auch einige ihrer weißen Kollegen hatten bereits vor Wochen unter der schwarzen Bevölkerung das Gerücht verbreitet, die Sklaverei sei im Königreich von Großbritannien und seinen Kolonien längst verboten worden. Ferner hieß es, dass die weißen Pflanzer auf Jamaika den in London beschlossenen Abolition Act, der die Freiheit der Sklaven für alle Zeiten garantierte, mit Wissen des Gouverneurs in Spanish Town unterschlagen hätten und so die Gesetzgebung des britischen Parlaments und damit des Königs ignorierten. Daraufhin hatten rebellische Sklaven zahlreiche Pflanzungen in Brand gesteckt und weiße Aufseher angegriffen. Diejenigen, die halbwegs friedlich geblieben waren, hatten unerlaubt ihre Arbeit niedergelegt und sich in ihren Hütten verschanzt.
Noch am selben Tag war Edwards Vater nach Kingston gereist, um sich als offizieller Vertreter des Parish St. Mary und St. Thomas-in-the-Vale in Fort Charles mit dem Gouverneur und seinen Truppen über die weitere Vorgehensweise zu beraten. Edward hatte sich unterdessen an die Spitze einer kurzerhand zusammengestellten Heimat-Miliz gestellt und mit einer Truppe von aufgebrachten Pflanzern und Aufsehern die Jagd nach den Schuldigen begonnen. Mit fünfzig Mann und ebenso vielen Bluthunden hatten sie das Sklavendorf Pigeon Town jenseits des Magno Rivers gestürmt und alle unwilligen Arbeiter aus ihren Hütten getrieben. Danach hatten sie mit den Bluthunden die Umgebung durchkämmt und die eigentlichen Aufrührer jenseits der abgebrannten Felder aufgespürt.
Im unruhigen Schein der Fackeln betrachtete Edward nun die blutüberströmten Leiber der erhängten Aufrührer, die leblos an den dicken Ästen der Bäume baumelten. Ihr grausamer Tod sollte den Sklaven eine Warnung sein, damit der Aufstand nicht unvermittelt Zuwachs bekam. Zu diesem Zweck hatte man sie vor den Augen ihrer schwarzen Brüder und Schwestern fast zu Tode gepeitscht und am Ende gehängt.
Es waren nur zwei, aber auch das erschien Edward schon teuer genug, um ein Exempel zu statuieren, denn immerhin kostete ein einzelner, junger Sklave gut und gerne 140 Pfund. Nach dem offiziellen Verbot des Sklavenhandels im britischen Empire im Jahr 1807 erzielten sie auf dem Sklavenmarkt von Kingston mitunter sogar Preise von bis zu 250 Pfund pro Stück, denn es war schwieriger geworden, so gute Ware von außerhalb der Insel zu bekommen.
«Von denen wird keiner mehr die Hand gegen seinen weißen Herrn erheben», brummte einer der Aufseher von Rosenhall, der Edward mit seinen Männern zu Hilfe geeilt war. «Geschweige denn eine Faust oder eine Machete.»
Robert Gunn, ein Pflanzer aus dem Parish St. Thomas-in-the-Vale, und zehn seiner Männer hatten ganz nebenbei noch eine weitere interessante Entdeckung gemacht: drei junge, kräftige Neger, die bereits vor einigen Tagen in St. James geflüchtet waren.
«Wir haben sie unten am Rio Pedro aufgespürt», erklärte Robert, nachdem er von seinem Rappen abgesessen war. Aus seiner Westentasche zückte er einen abgegriffenen Zettel. «Ich hatte zufällig noch den Steckbrief in der Tasche. Schau hier, Edward!» Triumphierend hielt er ihm das Papier unter die Nase und deutete auf die drei am Boden kauernden Schwarzen. «Die Beschreibung passt genau. Sie gehören Richard Linton, dem Besitzer von Linton Hall.»
Edward machte ein nachdenkliches Gesicht und umrundete die drei zitternden Gestalten mit dem lauernden Blick eines Raubvogels.
«Aber das ist noch nicht alles», fuhr Robert emsig fort und vergewisserte sich mit einem raschen Rundumblick der Zustimmung seiner Leute. «Sie waren offenbar nicht allein. Sie wurden von Ortskundigen geführt. Es waren zwei, aber leider sind sie uns entwischt. Offenbar kannten sie sich sehr gut im Gelände aus.»
«Habt ihr die drei Flüchtlinge schon befragt, um wen es sich dabei handelt?» Edward zog eine Braue hoch.
«Keine Chance», brummte Robert. «Wir haben ihnen ordentlich mit der Peitsche eingeheizt, aber keiner wollte das Maul aufmachen. Na, wenigstens wissen wir, wem sie gehören. Richard wird ihnen sicher zeigen, was es heißt, seinem Herrn davonzulaufen.»
«Wir können sie nicht einfach zu ihrem Besitzer zurückschicken», erklärte Edward mit einem Stirnrunzeln. «Selbst wenn die Lintons nicht glücklich darüber sein werden, drei so stattliche Burschen zu verlieren, ist das ein Fall für den Gouverneur und seinen obersten Richter. Die drei Flüchtlinge müssen zwingend einer richterlichen Vernehmung zugeführt werden, die nötigenfalls unter Anwendung der Folter herausfindet, bei wem diese Burschen Unterstützung gefunden haben. Was ist, wenn zum Beispiel die Flamme von Jamaika dahintersteckt?»
Zur Unterstreichung seiner Worte fügte Edward die eigentlich unnötige Erklärung hinzu: «Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, dass sich unter diesem Namen eine neue Widerstandsbewegung formiert hat, die sich in der Tradition der früheren Maroon-Rebellen sieht und entlaufenen Sklaven zur Flucht verhilft. Versteh doch, Robert, irgendwo da draußen sitzt jemand, der unsere verdammten Sklaven zur Flucht anstiftet, indem er ihnen ein sicheres Versteck garantiert. Das können wir ebenso wenig durchgehen lassen wie einen Aufstand. Ist dir das klar?»
Robert nickte betreten.
«Ich übernehme das», verkündete Edward kurzerhand. «Ich nehme die drei mit nach Redfield Hall, und Trevor kann sie dann mit seinen Leuten nach Spanish Town zum Gouverneur bringen. Ich bin sicher, dass man sie dort einsperren und ihnen anschließend am Obersten Gerichtshof den Prozess machen wird. Wegen Flucht und Aufwiegelei.»
«Aufwiegelei?» Robert Gunn schaute ihn begriffsstutzig an. «Wieso das?»
«Weil du sie im Zusammenhang mit der Niederschlagung eines Aufstandes gefangen hast. Man wird sie hängen, nachdem das Gericht das zu erwartende Todesurteil gesprochen hat», erklärte Edward mit einem Schulterzucken. «Und das wiederum wird solche Vergeltungsschläge, wie wir sie heute unternommen haben, für die Zukunft eindeutig legitimieren.»
Angesichts der Brisanz dieses Falles war Edward froh, die Dinge selbst in die Hand genommen zu haben. Dass sie die übrigen Sklaven gleich vor Ort gehängt hatten, grenzte an Selbstjustiz. Wenn sie die drei Aufständischen dem Gericht zuführten, würden sie nach außen den Weg der Gerechtigkeit einhalten. Wenn das Gericht dann zu dem gleichen Schluss kam, dass Aufständische gehängt werden mussten, würde niemand mehr ihr vorschnelles Handeln hinterfragen.
Mit einem Pfiff rief er einen der weißen Aufseher heran, die eine Fackel trugen, und machte ihn mit einem Nicken auf ein paar ärmliche Hütten aufmerksam. «Leuchte mir mal, Alister, ich will sehen, ob wir da drin nicht ein bisschen Spaß haben können, bevor es wieder nach Hause geht.»
Der Mann setzte sein schmutzigstes Grinsen auf und verschwand mit der Fackel in einer der armseligen Behausungen. Edward folgte ihm und fand im Innern eine Gruppe von jungen, verängstigten Frauen, die sich für das, was sie mit ihnen vorhatten, hervorragend eigneten.
Als Edward längst fertig war, mühte sich der Aufseher immer noch ab, in eines der Mädchen einzudringen.
«Wenn dein Schwanz die Aufregung nicht verträgt», riet Edward ihm, «musst du ihn ordentlich mit Spucke einseifen. Ich würde dir aber nicht raten, ihn dafür dem Weib in den Mund zu stecken», er lachte höhnisch, «man weiß nie, ob die Biester bissig sind.»
Das Mädchen stieß einen erstickten Schrei aus, als der Aufseher noch eine Spur brutaler zu Werke ging.
Edward weidete sich an den ängstlichen Gesichtern der Frauen, als plötzlich einer von seinen Leuten hereinstürmte.
«Du störst, O’Brady», knurrte er ungehalten. «Es sei denn, du willst bei unserem kleinen Vergnügen mitmachen.»
«Trevor schickt mich», erklärte der junge Mann atemlos und sah sich neugierig um.
«Ich denke, der sitzt in Falmouth und wartet auf meine Fracht.»
«Die … Fracht ist offenbar angekommen», erwiderte der Junge. «Jedenfalls soll ich Ihnen ausrichten, dass Ihre Braut gestern Abend wohlbehalten in Redfield Hall eingezogen ist.»