Читать книгу Wünsch dich ins Wunder-Weihnachtsland Band 9 - Martina Meier - Страница 12
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Jacks erster Flug
„Heute Abend geht es wieder los“, sagte die Rentierdame Betty, die das Rudel vor dem Schlitten anführte. „Wir werden zehnmal fliegen, um die Geschenke zu verteilen. Wer wann fliegt, steht auf der Liste, die vor der großen Halle ausgehängt wurde.“
Die kleinen Rentiere rannten sofort los, auch Jack. Denn jeder wünschte sich, endlich mitfliegen zu dürfen. Es war der erste Schritt, dass man nicht mehr zu den Kleinsten gezählt wurde. Aber die Aussicht, einen der begehrten Plätze zu ergattern, war gering. Denn pro Schlitten war nur ein junges Rentier erlaubt.
Als Jack am Aushang angekommen war, liefen einige Rentiere, mit denen er das Ziehen eines Schlittens zusammen gelernt hatte, mit traurigen Gesichtern wieder weg. Jack drängelte sich nach vorne und überflog die Liste: Pico, Dalia, Amigo, Jack, Luna, Elliot ... Jack? Er starrte auf seinen Namen, und als er realisierte, was das bedeutete, bildete sich ein Lächeln auf seinen Lippen.
Als er kurz vor Mitternacht in die große Halle kam, war der Schlitten bereits fertig beladen. Ein paar Rentiere waren schon da, und als alle vollzählig waren, legten die Engel den Rentieren die Zügel an. Jack trat von einem Bein aufs andere und beobachtete die anderen Rentiere, die sich konzentrierten. Als Betty die Zügel umhatte, liefen sie langsam los.
Der Schlitten war schwerer als bei den Übungen und Jack musste seine ganze Kraft einsetzen, um vorwärtszukommen. Als sie ins Freie traten, leuchtete die Startbahn und über ihnen die Sterne. Wie lange hatte er auf diesen Moment gewartet? Wie oft hatte er den Start in den letzten Jahren geübt? Und so sehr er sich auch freute, genauso viel Angst hatte er. Denn sein Lehrer hatte sie immer wieder daran erinnert, dass der Fehler eines Einzelnen gefährlich und teuer werden kann. Im Rudel muss sich jeder auf den anderen verlassen können.
„Mein Rudel, ich wünsche uns einen guten Flug“, ertönte die Stimme des Nikolaus. „Und Jack, zeig uns, was du in den letzten Jahren gelernt hast.“
Jack versteifte sich augenblicklich. Er war sich seiner Aufgabe zwar bewusst. Aber der Nikolaus persönlich hatte ihn für sein Rudel ausgewählt. Das bedeutete, der Nikolaus war davon überzeugt, dass Jack seine Aufgabe gut machen würde. Aber wenn er versagte, würden nicht nur die Kinder keine Geschenke bekommen und das Vertrauen in den Nikolaus verlieren, sondern Jack würde auch das Vertrauen des Nikolaus verlieren. Er würde nie wieder einen Schlitten ziehen dürfen.
„Los geht’s!“, rief Betty an der Spitze des Rudels. Alle rannten los und je schneller sie wurden, umso leichter wurde der Schlitten. Kurz vor Ende der Startbahn erhoben sie sich in die Lüfte und sofort zog die Last des Schlittens wieder an seinem Körper. Doch Jack nahm seine ganze Kraft zusammen und zog den Schlitten hinauf. Als sie die Flughöhe erreicht hatten, atmete er erleichtert auf.
„Gar nicht so einfach, was?“, fragte das Rentier neben ihm und Jack schüttelte den Kopf.
Als er sein Gleichgewicht gefunden hatte, wagte er einen Blick nach unten. Gerade flogen sie noch über einen Wald, aber sie näherten sich dem Leuchten der Stadt. Und Jack konnte seinen Blick nicht mehr davon wenden. In den Übungsstunden waren sie meistens bei Tag geflogen und dann auch immer nur über Felder und Wälder.
„Jack, konzentriere dich aufs Fliegen“, ermahnte ihn das Rentier neben ihm.
Jack zuckte zusammen, als sein Name fiel, nickte aber.
Mittlerweile hatten sie den Wald hinter sich gelassen und Jack spitzte immer wieder kurz nach unten. Wenn man den Laternen folgte, konnte man genau sehen, wo die Straßen verliefen. Kurz darauf flogen sie eine Kurve und Jack erblickte ein noch helleres Licht als die Straßenlaternen.
Ein Tannenbaum, über und über behangen mit Lichtern, die die Nacht erhellten. Auf der Spitze blinkte ein Stern in verschiedenen Farben ...
„JACK!“
Jack versuchte sich den Schrecken nicht anmerken zu lassen und sah wieder nach vorne, wo Betty gerade das Kommando für eine Rechtskurve gab. Die Rentiere legten sich in die Kurve und für einen Moment verschwanden die Lichter vollkommen aus seinem Blickfeld. Als sie wieder geradeaus flogen, fiel Jacks Blick sofort auf den Stern. Doch im nächsten Moment stieß er mit zwei Rentieren zusammen, und als er begriff, dass sie bereits die nächste Kurve flogen, war es schon zu spät: Er spürte einen Ruck an seinem Geschirr und versuchte verzweifelt nach links zu ziehen, aber die anderen Rentiere hatten bereits das Gleichgewicht verloren. Der Schlitten schwankte von links nach rechts und die Last des Schlittens zog ihn nach unten. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen, aber aus dem Augenwinkel sah er, dass einige Geschenke aus dem Schlitten fielen.
Was hatte er nur getan?
Wieso hatte er sich nicht auf seine Aufgabe konzentriert?
„Geradeaus!“, rief der Nikolaus und augenblicklich zogen die Rentiere die Zügel stramm.
Jacks Herz raste, aber er spürte, dass der Schlitten wieder ins Gleichgewicht gekommen war. Doch er traute sich nicht, irgendjemanden anzusehen. Er wusste, dass er riesen Ärger bekommen würde. Und dass sein erster Flug auch sein letzter sein würde. Wieso hatte er sich nur so ablenken lassen?
„Wir landen auf dem Markt“, erklärte der Nikolaus nüchtern. „Wir müssen dort ein paar Geschenke einsammeln.“
Jack entging nicht, wie die anderen Rentiere ihn ansahen. Aber er reagierte nicht, sondern folgte Bettys Anweisungen, die das Rudel in mehreren Kurven hinunter lotste, bis sie schließlich auf dem Markt landeten.
Der Nikolaus stieg aus dem Schlitten und sammelte die Geschenke ein.
„Was hast du dir nur dabei gedacht?“, fragte das Rentier neben ihm.
„Es tut mir leid“, nuschelte Jack und sah zu Boden.
„Weiter geht’s“, sagte der Nikolaus energisch und Jack war irritiert.
Wieso schimpfte der Nikolaus nicht mit ihm? Oder wartete er nur, bis die Arbeit erledigt war?
Für den Rest des Fluges konzentrierte er sich voll und ganz auf das Fliegen und die Anweisungen von Betty und dem Nikolaus. Sie landeten auf mehreren Dächern und der Nikolaus verschwand immer wieder in den Schornsteinen.
Als sie alle Geschenke verteilt hatten, flogen sie zurück zum Nikolausdorf. Jack hätte sich am liebsten davongeschlichen, aber der Nikolaus hielt ihn zurück.
„Es tut mir leid, Nikolaus“, versicherte Jack sofort.
„Das glaube ich dir. Aber vielleicht verstehst du nun, wieso ich so lange zögere, euch vor den Schlitten zu lassen. Ich habe dich ausgewählt, weil du kräftig und schlau bist. Aber wie es scheint, bist du noch nicht erwachsen genug, um Vergnügen von Arbeit zu trennen. Und auch wenn ich verstehe, dass der Anblick der Stadt ein wunderbarer ist, darf das nicht dazu führen, dass du deine Aufgabe vergisst.“
„Das heißt, ich darf nie wieder fliegen?“, fragte Jack traurig.
„Das kann ich heute nicht entscheiden. Aber ich hoffe, dass dir dieser Flug und deine Unachtsamkeit eine Lehre sind. Zur Strafe verordne ich dir erneute Übungsstunden. Außerdem bist du für die nächsten zwei Jahre gesperrt. Aber wenn du fleißig und artig bist, hast du im dritten Jahr die Chance, wieder dabei zu sein.“
Jack lächelte. Zwar hatte er sich gefreut, als er die Übungsstunden endlich abgeschlossen hatte. Aber er hatte mit diesem Flug Erfahrungen sammeln können, die ihm keiner mehr nehmen konnte. Und er würde alles dafür tun, um vom Nikolaus eine zweite Chance zu erhalten – auch weitere Übungsstunden. Und wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass es keine richtige Strafe war – sondern nur eine Chance, sich zu verbessern.
Christina Emmerling wurde 1992 in Würzburg geboren, wo sie auch heute noch lebt. Bereits während der Schulzeit und später neben der Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten begeisterte sie das Schreiben. Neben Kurzgeschichten schreibt sie Fantasyromane und arbeitet derzeit an einer Trilogie. Ihre erste Kurzgeschichte wurde 2013 in einer Anthologie veröffentlicht.