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Das Familienfest

Da war ich also erstmals zur Weihnachtszeit fernab meiner Heimat. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich den Heiligen Abend nicht mit meinen Eltern, meiner Schwester und Nichte feiern. Das schmerzte. Selbst mein sonniger Aufenthaltsort, eine der Kanarischen Inseln, konnte mein Leid nicht lindern. Ich hatte große Angst vor dem Weihnachtsabend – so viel bedeutete es mir, diesen mit meiner Familie gemeinsam zu verbringen – aber ich wollte stark sein.

Auch in Spanien ist Weihnachten ein traditionelles Familienfest. Innerhalb weniger Stunden schloss ein Supermarkt nach dem anderen und auch mehr und mehr Kaffeehäuser. Mit nahezu einem Schlag entsprach nichts mehr meinen Gewohnheiten und es riss mich jäh aus meinem bewährten Tagesablauf. Verstört und einsam stolperte ich in der einsetzenden Dämmerung verzweifelt durch die fast schon menschenleeren Straßen, auf der Suche nach irgendetwas, das mir Halt geben konnte. Zufällig kam ich an einem kleinen Supermarkt vorbei, der noch geöffnet hatte. Instinktiv betrat ich ihn. Dort roch ich die frisch aufgebackenen Brötchen und griff zielstrebig nach einem. Der noch heiße Teig erwärmte mich auf meinem Heimweg von innen und gab mir Trost. Dass dieser Weihnachtsabend alleine so schmerzlich werden würde, hätte ich nicht erwartet. Das warme Brötchen half mir auf meinem Weg ins Hotel zurück.

Traurig saß ich in meinem Zimmer und dachte sehnsuchtsvoll an meine Familie. Mir war so weh ums Herz, dass sich ein kummervolles Tränchen aus meinen bereits sehr feuchten Augen löste und über meine Wange kullerte. Es blieb an meinem Kinn hängen und begann, mich zu kitzeln. Doch, was war das? Ich hatte den Eindruck, die Träne begann zu wachsen, anstatt zu verdunsten. Ich blickte nach unten und sah auf eine große glänzende Kugel. Verdutzt sah ich wieder auf und fand mich im elterlichen Wohnzimmer wieder. Offensichtlich hatte sich mein Körper aus der Träne in eine goldene Christbaumkugel verwandelt. Nun hing ich auf einem Ast des Weihnachtsbaums meiner Eltern. Ich konnte mein Glück kaum fassen – durfte ich diesen Abend nun doch bei meinen Liebsten verbringen – sodass ich mir über meine märchenhafte Verwandlung keine weiteren Gedanken machte.

Es roch herrlich nach frischen Nadeln, Kaffee und Weihnachtsgebäck. Darauf musste ich diesmal verzichten, aber das störte mich nicht. Dafür, dass ich Weihnachten unerwartet mit meiner Familie verbringen durfte, tat ich das gerne.

Unter mir lagen viele Geschenke, liebevoll in dekoratives Weihnachtspapier verpackt. Ob auch für mich eines dabei war? Meine Mutter hatte bei ihren Weihnachtseinkäufen bestimmt an mich gedacht, aber vielleicht lag mein Geschenk noch nicht unter dem Baum. Meine Eltern, meine Schwester und ihre Tochter saßen um den Wohnzimmertisch und spielten Karten. Gerne hätte ich mitgespielt, aber auch das war heuer nicht möglich.

Ob sie mich sehen konnten? War ich eine neue Kugel am Baum oder in eine geschlüpft, die schon vorher an diesem gehangen war? Ich war aufgeregt, in dieser unvermuteten und mir neuen Beobachterposition. Was, wenn sich meine Familie über mich unterhielt? Oder sie sich über etwas austauschten, das nicht für meine Ohren bestimmt war? Ohren? Hatte ich welche? Eine Weihnachtskugel mit Augen und Ohren? Immerhin konnte ich sehen und hören.

Ich vernahm die Unterhaltung meiner Familie beim Spielen, hörte meine Nichte manchmal verärgert aufschreien und dann wieder lachen. Es war so schön, wieder bei meinen Liebsten zu sein! Unmittelbar nach dem Spiel sprang meine Nichte in neugieriger Vorfreude auf die Geschenke auf und drängte auf die Bescherung. Langsam wurde es draußen dämmrig, und so ließen sich die Erwachsenen dazu überreden. In gewohnter Familientradition sollten davor die Kerzen am Christbaum angezündet und ein paar Weihnachtslieder gesungen werden. Meine Nichte rief sofort, dass sie die Kerzen alleine anzünden wollte. Mit ihren zwölf Jahren glaubte sie längst nicht mehr an das Christkind. Vorbei waren die Zeiten, als einer von den Erwachsenen mit ihr in einem anderen Zimmer des Hauses aus dem Fenster sah, um nach dem Christkind Ausschau zu halten. Irgendwann müsste es ja vorbeifliegen. In der Zwischenzeit hatten die anderen Gelegenheit, die Geschenke unter den Baum zu legen. Als dann das Glöckchen aus dem Wohnzimmer läutete, liefen wir aufgeregt zurück, um festzustellen, dass das Christkind schon da gewesen sein musste, weil es viele Geschenke gebracht hatte.

Beim Anzünden der Kerzen kam mir meine Nichte sehr nahe und ich roch ihren vertrauten Geruch. Am liebsten hätte ich die Gelegenheit genutzt und sie umarmt – hatte ich überhaupt Arme und Hände? – aber ich wollte sie keinesfalls erschrecken und bewegte mich nicht. Über meine passive Rolle war ich mehr als dankbar, ich wollte keine Unruhe in die familiäre Weihnachtsidylle bringen.

Jetzt standen sie alle um den Baum und bewunderten ihn. Als stünden sie um mich herum. Ich genoss es so sehr, in ihrer Mitte sein zu dürfen. Sollte ich sie ansprechen? Ich verwarf auch diesen Gedanken schnell wieder. Außerdem schien meine Nichte viel zu aufgeregt, um aufgehalten werden zu wollen. Sie nahm ihre Gitarre und stimmte das erste Weihnachtslied an. In den letzten Jahren hatte sie große Fortschritte beim Musizieren gemacht. Es war ein Vergnügen, ihrem fröhlichen Gitarrenspiel und ihrer hellen Kinderstimme zuzuhören.

Mein Vater blieb stehen und nahm eine straffe, fast förmliche Haltung ein, als er in das Lied einstimmte. Meine Schwester setzte sich hingegen zu ihrer Tochter an den Tisch und sang ebenfalls mit. Verhalten und unsicher kamen die Töne aus dem Mund meiner Mutter. Hätte sie mehr Mut und Überzeugung von ihrer Musikalität gehabt, wäre ihr Gesang auch viel runder und virtuoser gewesen.

Meine Stimme fehlte, dessen war ich mir sicher, aber ich blieb stumm, um nicht aufzufallen. Nach einigen Liedern legte meine Nichte ihre Gitarre zur Seite und stürzte auf die Pakete, um die Namenskärtchen zu lesen und die Geschenke entsprechend weiterzureichen. Die meisten aber waren freilich für sie bestimmt. Aufgeregt riss sie das Weihnachtspapier von den ersten Päckchen. Mein Vater und meine Schwester sahen ihr dabei zu, während meine Mutter zum Baum ging und ängstlich nach dem Stand der brennenden Kerzen sah.

Bildete ich es mir ein oder bedachte sie auch mich eines besorgten Blicks? Kurz wurde mir heiß. War etwa eine Kerze unter mir oder ein Wachstropfen von einer Kerze über mir auf mich gefallen? Nein, das dürfte wohl nur meine Aufregung gewesen sein.

Nach einer Weile drängte meine Mutter zum Löschen der Kerzen und wieder ließ es sich meine Nichte nicht nehmen, alle alleine auszublasen. Dabei kam sie mir abermals sehr nahe. Wie gerne hätte ich sie zumindest leicht berührt. Manchmal beugte sie sich so weit zu mir, dass ich hoffte, sie würde mich streifen. Aber leider war sie zu achtsam, um nur ja keine Kugel vom Baum zu stoßen. Der Rauch der Kerzen brannte in meiner Lunge und meinen Augen. Hoffentlich musste ich nicht husten.

Als hätte er meine Gedanken gehört, öffnete mein Vater zum Lüften die Terrassentür. Das Brennen in meinen Augen verstärkte sich trotzdem. Ich blinzelte und Tränchen liefen ... über meine Wangen.

Wangen? Verwundert blickte ich nach unten und fand mich in meinem Körper im Hotelzimmer sitzend vor. Mein weihnachtlicher Ausflug in meine Heimat war offensichtlich beendet. Zutiefst erfüllt und glücklich hing ich meinen Erinnerungen an diesen wundervollen Weihnachtsabend nach. Wem hatte ich dieses großartigste Geschenk aller Zeiten zu verdanken? Meiner unerfüllten, schmerzlichen Sehnsucht nach meiner Familie? Oder den liebevollen Gedanken meiner Liebsten an mich?

Bibi Bellinda, geboren 1965 in Wien, Studium der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (einige Fachpublikationen, darunter ihre Dissertation), lebt in Niederösterreich. Zahlreiche Publikationen in Anthologien und Literaturzeitschriften, u. a. in „Bodenhaftung“ zum Forum Land Literaturpreis 2014 (Wien) und im Kulturmagazin „Reibeisen“ des Europa-Literaturkreis Kapfenberg, 2015.

Wünsch dich ins Wunder-Weihnachtsland Band 9

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