Читать книгу Zukunft? - Mary Specter - Страница 6
Zur gleichen Zeit in Chemnitz
ОглавлениеGraue Nebelschwaden legen sich wie Leichentücher über die geschundene Stadt. In einer Siedlung aus alten Wohnwagen, ausrangierten Bussen und Wellblechhütten bewegt sich die schwarze Gestalt im Schutz der Dunkelheit.
Aus einem kleinen weißen Wohnwagen dringt leise Musik. Der Anstrich kann den Rost nicht verbergen, der sich durch die Karosserie frisst.
„PROST auf mich!“ Mit einem Lächeln steht Helene vor dem einzigen Spiegel in der spärlichen Behausung. Sie ist heute 46! Noch jung und doch allein! Ihre ältere Schwester hat sich vor elf Jahren das Leben genommen.
Die Bank kündigt den Kredit und der Versicherungsvertreter erledigt den Rest. Falsche Beratung führt zum Ruin des kleinen Geschäftes.
Die Ehe musste an den Sorgen und Streitereien zerbrechen. Nur ein halbes Jahr später stirbt die Mutter. Wie es heißt: an gebrochenem Herzen. Durch die Revolten überall im Land verliert Helene ihren Vater aus den Augen. Er ist der warmherzigste Mensch, den sie kennt.
Helene hält sich also allein über Wasser. Im einzigen noch gebliebenen Städtischen Krankenhaus ist sie das Mädchen für alles. Von Putzen bis Sterbehilfe tut sie alles für einen Hungerlohn. Sie beschwert sich nie. Das Elend, welches sie täglich erlebt, macht ihr bewusst, wie gut sie es dennoch hat: Dach über dem Kopf, Essen, noch relativ jung – es ist viel, was sie in dieser schrecklichen Zeit noch besitzt.
Im Radio beginnen die Nachrichten.
Draußen nähert sich die schwarze Gestalt dem Wohnwagen. Die Stimmen und das Licht lassen sie vermuten, dass sich mehrere Personen im Wagen aufhalten. So nimmt sie die Wellblechhütte einige Meter weiter ins Visier. Die Tür ist mit einem Strick am Haken notdürftig verschlossen. Die Gestalt lächelt und löst den Strick mit wenigen Handgriffen.