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b) Aufgabenentzug oder organisatorische Ingerenzen bzgl aller Gemeinden
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Die Gewährleistungen des Art. 28 II 1 GG beziehen sich auf alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft (Grundsatz der Universalität oder Allzuständigkeit des kommunalen Wirkungskreises). Dies wird regelmäßig einfachgesetzlich bekräftigt, indem etwa bestimmt wird, die Gemeinden seien „in ihrem Gebiet die ausschließlichen Träger der gesamten öffentlichen Aufgaben, soweit Rechtsvorschriften nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmen“ (vgl § 2 II NKomVG; s. auch § 2 GO NRW, Art. 6 I bay.GO).
aa) Entscheidender Anknüpfungspunkt ist dabei die räumliche Komponente: Der Schutz gilt solchen Bedürfnissen und Interessen, „die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben, die also den Gemeindeeinwohnern gerade als solchen gemeinsam sind, indem sie das Zusammenleben und -wohnen der Menschen in der Gemeinde betreffen; auf die Verwaltungskraft der Gemeinde kommt es hierfür nicht an“[17]. Erfasst sind damit nur die eigenen gemeindlichen Angelegenheiten, nicht aber übertragene, genuin staatliche Aufgaben. Nun ist aber nicht zu verkennen, dass im Zuge zunehmender Forderungen nach Gleichwertigkeit resp. Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse (vgl Art. 72 II, 106 III 4 Nr 2 GG), gesteigerten Umweltbewusstseins, fortschreitender Motorisierung und Mobilität der Einwohner[18] Wanderungsprozesse stattgefunden haben und stattfinden, die das Verständnis dessen, was zu den kommunalen Agenden zu zählen ist, in der zeitlichen Entwicklung durchaus beeinflusst haben. Die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft bilden damit keinen ein für alle Mal feststehenden Aufgabenkreis[19]; können mithin nicht enumerativ für alle Zeit bestimmt werden.
Bei der Einschätzung der örtlichen Bezüge einer Aufgabe und ihres Gewichts kommt dem Gesetzgeber angesichts der konstatierten Vielzahl maßgeblicher Faktoren ein Einschätzungsspielraum zu. Er darf dabei auch typisieren, d.h. „er braucht nicht jeder einzelnen Gemeinde und grundsätzlich auch nicht jeder insgesamt gesehen unbedeutenden Gruppe von Gemeinden Rechnung zu tragen“[20].
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bb) Gleichwohl besteht Anlass zu betonen, dass der örtliche Bezug auch für gesetzgeberische Maßnahmen nach wie vor den dominanten Beurteilungsfaktor darstellt[21], der in der Gegenwart namentlich unter dem Stichwort der gemeindlichen Verbandskompetenz thematisiert wird. Insbesondere bei der Hochzonung von Verwaltungsaufgaben von der Gemeinde- auf die Kreisebene hat der Gesetzgeber „den verfassungsgewollten prinzipiellen Vorrang einer dezentralen, also gemeindlichen, vor einer zentral und damit staatlich determinierten Aufgabenwahrnehmung zu berücksichtigen“[22]. Bemerkenswert ist dabei die auf die Entstehungsgeschichte gegründete Bekräftigung seitens des BVerfG im Rastede-Beschluss, dass die gemeindlichen Aufgaben nicht über den herkömmlich gesicherten Bestand hinausgehen[23], eine Einsicht, die namentlich bei der aktuellen Diskussion um die Grenzen der Kommunalwirtschaft nicht aus dem Blickfeld geraten sollte, wenn – notwendige – Dynamisierungen Gefahren nicht nur für traditionelle privatwirtschaftliche Aktionsfelder, sondern auch für die essenzielle Rückbindung an die örtliche Dominanz der Aufgabenstellung heraufbeschwören.
Zwar hat das BVerfG in einer frühen Entscheidung die Aussage getroffen, die Gemeinde sei als hoheitlich handelnde Gebietskörperschaft darauf beschränkt, sich mit Angelegenheiten des örtlichen Wirkungskreises zu befassen[24]. Es würde allerdings einen Fehlschluss bedeuten, daraus zu folgern, außerhalb hoheitlich zu bewältigender Agenden, namentlich auf dem Wirtschaftssektor, dürfte eine Gemeinde räumlich unlimitiert agieren[25]. Seinerzeit ging es allein um die Problematik, inwieweit es einer kommunalen Körperschaft gestattet wäre, Stellungnahmen zu verteidigungspolitischen Fragen, deren Lösung in der Kompetenz des Bundes lag und liegt, abzugeben, was unter Verweis auf die Überörtlichkeit der Aufgabe grundsätzlich verneint wurde. Die gemeindliche Verbandskompetenz ist durch Art. 28 II GG, also nicht nur bei hoheitlichen Aufgaben, sondern insgesamt auf das örtliche Wirkungsfeld beschränkt, soweit nicht in befugter Weise überörtliche staatliche Angelegenheiten zur Wahrnehmung vor Ort zugewiesen worden sind[26]. So hat der VerfGH Rh.-Pf. im Zusammenhang mit novellierten Vorschriften des Kommunalwirtschaftsrechts deutlich herausgestellt:
„Aus der Sicht der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie ist kommunales Wirtschaftsengagement niemals privatautonomes Handeln, sondern zweckgebundene Verwaltungstätigkeit. Die öffentliche (kommunale) Verwaltung bleibt auch dann Verwaltung, wenn sie wirtschaftet.“[27]
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cc) Soweit es um Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft geht, was also jeweils sorgfältiger Prüfung bedarf[28], ist den Gemeinden das Recht zuerkannt, diese „in eigener Verantwortung“ (Art. 28 I 1 GG) zu regeln. Ihnen ist damit verbrieft, für die Aufgabenbewältigung nach ihrem eigenen Ermessen sachliche und zeitliche Prioritäten festzulegen. Zu beachten ist jedoch, dass dieser Ermessensspielraum bei pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben (Rn 200) auf die konkrete Art der Durchführung (das „Wie“) beschränkt ist.
Die zentralen Bereiche der gemeindlichen Eigenverantwortlichkeit wurden herkömmlicherweise durch ein Bündel sog. Gemeindehoheiten gekennzeichnet, das sich in der Übersicht wie folgt darstellt:
Übersicht 1:
Die sog. Kommunalhoheiten
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Im Einzelnen geht es dabei um folgende Gewährleistungsgehalte, die sich jedoch nicht immer trennscharf voneinander abgrenzen lassen:
– | Gebietshoheit ist die Befugnis, im Gemeindegebiet gegenüber jeder Person und jeder Sache, die sich in diesem befindet, rechtserhebliche Handlungen vorzunehmen und Hoheitsgewalt auszuüben[29], |
– | Organisationshoheit ist die Befugnis zur Ausgestaltung der internen Organisation, genauer: die Befugnis, für die Aufgabenwahrnehmung Abläufe und Entscheidungszuständigkeiten festzulegen (s. u. Rn 70)[30], aber auch die Organisation nach außen, also die Möglichkeit, gemeinsam mit anderen Kommunen Selbstverwaltungsaufgaben zu bewältigen (Unterfall der „Kooperationshoheit“)[31], |
– | Personalhoheit bezeichnet die Befugnis zur Auswahl, Anstellung, Beförderung und Entlassung der Angestellten und Beamten[32] der Gemeinde[33], |
– | Satzungshoheit bezeichnet die Befugnis, die eigenen Angelegenheiten durch (orts-)rechtliche Bestimmungen mit Wirkung für die Gemeindeeinwohner verbindlich zu regeln (vgl Art. 28 II 1 GG: „… in eigener Verantwortung zu regeln“, hierzu u. Rn 217 ff)[34]. |
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– | Finanzhoheit meint das Recht auf eigenverantwortliche Einnahmen- und Ausgabenwirtschaft im Rahmen eines geordneten Haushaltswesens[35], Soweit Art. 28 II 3 GG klarstellt, dass die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung von der Gewährleistung der Selbstverwaltung umfasst sind, wird den Gemeinden nicht ausdrücklich ein verfassungsunmittelbarer Anspruch auf eine aufgabenangemessene kommunale Finanzausstattung zuerkannt.[36] Allerdings lässt die Wendung zumindest die Einsicht erkennen, dass das Recht auf Selbstverwaltung nur dann effektiv wahrgenommen werden kann, wenn den Gemeinden eine auf ihre Selbstverwaltungsaufgaben bezogene Finanzausstattung zur Verfügung steht.[37] Das BVerfG hat das Bestehen eines solchen Anspruchs bislang ausdrücklich offen gelassen,[38] doch haben bereits mehrere Landesverfassungsgerichte im Rahmen der ihnen zustehenden Kompetenz zur Auslegung der Gewährleistungen der kommunalen Selbstverwaltung im Landesverfassungsrecht einen solchen Anspruch auf aufgabenangemessene Finanzausstattung anerkannt.[39] Das BVerwG[40] und die Literatur stimmen diesem Ergebnis weitgehend zu.[41] Auch in Ansehung eines Vorbehalts der Leistungsfähigkeit des jeweiligen Landes[42] gehört als unterste Grenze zum unantastbaren Kernbereich (u. Rn 63) eine finanzielle Mindestausstattung, welche die einzelne Gemeinde in die Lage versetzt, alle ihr zugewiesenen (staatlichen) Pflichtaufgaben und ein Mindestmaß an freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben zu erfüllen.[43] Eine „Steuerhoheit“ der Gemeinden besteht in Ansehung der grundgesetzlichen Finanzverfassung (vgl Art. 104a ff GG) allenfalls noch in rudimentärer Form (s. Rn 92 ff). Auch Art. 28 II 3 GG garantiert den Gemeinden kein originäres Steuererfindungsrecht[44], wohl aber gehört zu den bereits erwähnten Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung eine den Gemeinden mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle (Art. 28 II 3, 2. HS GG, s. auch Rn 92, 96). Bei den örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern – Beispiele: Vergnügungs-, Betten-, Zweitwohnungs- oder Hundesteuer – stehen den Kommunen nur von den Ländern abgeleitete Befugnisse zu (vgl Art. 105 IIa, 106 VI 1 GG). |
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– | Planungshoheit schließlich meint die Befugnis, über die Ordnung und Gestaltung der Bodenentwicklung im Gemeindegebiet, namentlich in Ansehung der baulichen Nutzung, eigenverantwortlich entscheiden zu können[45]. Gegen eine ihr Gebiet betreffende überörtliche Planung kann sich eine Gemeinde daher unter Berufung auf die Planungshoheit wehren, wenn eine eigene hinreichend konkrete, nicht notwendig verbindliche Planung hierdurch gestört wird und diese Störung nachhaltig ist oder wesentliche Teile des Gemeindegebiets einer durchsetzbaren Planung der Gemeinde entzieht[46]. Dem Schutzbereich der kommunalen Selbstverwaltung ist als Teil der kommunalen Planungshoheit nicht etwa nur die Bauleitplanung zuzuordnen, sondern auch die Landschaftsplanung. Die Vorschriften über den Braunkohlenplan im Landesplanungsgesetz NRW genügen aber den an entsprechende normative Eingriffe (vgl dazu noch unten Rn 62) zu stellenden Anforderungen[47]. |
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dd) In dieser Auflistung (Rn 55 ff) nicht angesprochen, für die kommunale Eigenverantwortlichkeit aber ebenfalls von besonderem Gewicht, ist die gemeindliche Betätigung in der Daseinsvorsorge[48] und auf dem wirtschaftlichen Sektor. Bei dem auf Forsthoff[49] zurückgehenden Begriff der Daseinsvorsorge handelt es sich freilich um eine eher deskriptive, soziologisch grundierte Formel zur Beschreibung öffentlicher Leistungsverwaltung (s. auch Rn 195)[50], die nur geringe Konturenschärfe besitzt und darum auch als wenig tauglich zur trennscharfen Abgrenzung des kommunalen Betätigungsfeldes von privatwirtschaftlichen Aktionsbereichen erscheint.
Im Blick sind dabei zB Kommunikation, Verkehrsdienstleistungen, Gas-, Wasser- und Stromversorgung, Abfall- und Abwasserentsorgung, stationäre Krankenversorgung, Sparkassen (vgl Rn 330), Bildungs- und Kultureinrichtungen. Im Rahmen der gesetzlichen Neuordnung des Eisenbahnwesens bestimmt § 1 I des Gesetzes zur Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs[51] ausdrücklich: „Die Sicherstellung einer ausreichenden Bedienung der Bevölkerung mit Verkehrsleistungen im öffentlichen Personennahverkehr ist eine Aufgabe der Daseinsvorsorge.“ So denn auch § 1 I des Regionalisierungsgesetzes NRW[52], das in § 3 für die Planung, Organisation und Ausgestaltung des ÖPNV im Grundsatz die Kreise und kreisfreien Städte als Aufgabenträger bestimmt und dabei die Aufgabendurchführung im Wesentlichen als freiwillige Selbstverwaltungsaufgabe bezeichnet.
Schließlich hat das BVerfG die Wahrnehmung kommunaler Versorgungsfunktionen in öffentlich-rechtlicher Form bereits einmal als „wirtschaftliche Betätigung“ im weiteren Sinne bezeichnet und diesbezügliche normative Regelungen dem Kompetenztitel „Recht der Wirtschaft“ (Art. 74 I Nr 11 GG) zugeordnet[53].
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Als vorentscheidend für die hier zu diskutierende verfassungsrechtliche Absicherung kommunaler Tätigkeitsfelder dürfte sich darum die spezifische Eigenart und Qualität der jeweiligen Aufgabe erweisen, um die es geht.
Erbitterte Auseinandersetzungen wurden mancherorts um die Zuständigkeiten für die Durchführung der Energieversorgung über Strom- und Gasnetze auf örtlicher Ebene geführt (Stichwort: Re-Kommunalisierung)[54]. Nach BVerwGE 98, 273 (275 f) – „MEAG“ – gehört die Entscheidung über die Durchführung der örtlichen Energieversorgung zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft. Die Durchführung dieser Versorgung selbst ist hingegen seit jeher „durch ein plurales Nebeneinander von privaten, kommunalen und gemischtwirtschaftlichen Unternehmensformen“ (zu ihnen noch Rn 304 ff) gekennzeichnet (so BVerwG, aaO). Das für die Sachmaterie auf nationaler Ebene maßgebliche Energiewirtschaftsgesetz gilt schließlich unterschiedslos für alle Energieversorgungsunternehmen ohne Rücksicht auf Rechtsformen und Eigentumsverhältnisse (vgl die Legaldefinition in § 3 Nr 18 EnWG[55]). Meinungsunterschiede hatte es so naheliegenderweise nach der deutschen Einheit auch mit Blick auf die Stromversorgungsstruktur in den neuen Ländern (Streit um die Gründung von Stadtwerken)[56] gegeben.
Eine gemeindliche Wasserversorgung[57] ist laut Hess.VGH, RdE 1993, 143 (144) nur dann erforderlich, wenn der Bedarf der Einwohner nicht bereits auf andere Weise – nämlich durch Wasserlieferung bereits bestehender fremder, dh nicht von der Gemeinde eingerichteter Versorgungsunternehmen – befriedigt wird; s. aber auch unten Rn 239 u. Rn 242 zu einem weiten kommunalpolitischen Ermessen. Im Krankenhauswesen etwa umfasst für die Kommunen die Aufgabe der Versorgung ihrer Bevölkerung mit leistungsfähigen Krankenhäusern zum einen die – subsidiäre – Vorhaltung eigener Krankenhäuser und zum anderen die Mitwirkung an der Krankenhausfinanzierung[58].
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Traditionell nicht zu den Angelegenheiten des durch Art. 28 II GG geschützten Wirkungskreises zählte die Einrichtung von Fernmeldelinien – so BVerwGE 77, 128 (132) –, die gemäß § 1 des Telegraphenwegegesetzes aus dem Jahre 1899 seit jeher Aufgabe der Post war. Nichtsdestoweniger reklamierten die Gemeinden für Telekommunikationsleitungen trotz nach der Postprivatisierung erfolgter Fortschreibung der kostenlosen Wegenutzung (vgl §§ 68 ff TKG) eigene Gestaltungsbefugnisse[59], blieben aber vor dem BVerfG erfolglos[60]. §§ 68, 69 TKG, die allein die Wegenutzung regeln, entziehen jedenfalls den Gemeinden keine Aufgaben mit relevantem örtlichen Charakter.
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Die Selbstverwaltungsgarantie schützt die Kommunen auf dem Feld der Daseinsvorsorge – soweit nicht eine Monopolisierung durch Anschluss- und Benutzungszwang zulässig ist – nicht vor privater Konkurrenz[61] (dazu noch unten Rn 313 ff).
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ee) Einschränkungen des eigenverantwortlich zu führenden kommunalen Aktionsfeldes sind nicht völlig ausgeschlossen, bedürfen aber der gesetzlichen Grundlage („im Rahmen der Gesetze“ in Art. 28 II GG).
Gesetze in diesem Sinne sind alle Außenrechtsnormen, also Bundes- und Landesgesetze, aber auch Rechtsverordnungen, soweit sie auf einer mit den Anforderungen des Art. 80 I 2 GG oder entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Regelungen in Einklang stehenden gesetzlichen Ermächtigung beruhen. Begrifflich umfasst ist auch das EU-Primärrecht sowie das Sekundärrecht, wenn es, wie bei EU-Verordnungen, selbst unmittelbare Geltung beansprucht[62].
Der Gesetzesvorbehalt umfasst dabei nicht nur die Art und Weise der Erledigung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, sondern ebenso die gemeindliche Zuständigkeit für diese Angelegenheiten[63]. Es wäre jedoch mit dem Gewicht der verfassungskräftigen Selbstverwaltungsgarantie unvereinbar, wollte man diese gewissermaßen zur Disposition des einfachen Gesetzgebers stellen. So hatte bereits der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich im Jahre 1929 (zu Art. 127 WRV) bekräftigt, die Landesgesetzgebung dürfe dieses Recht weder aufheben noch die Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten auf Staatsbehörden übertragen, und weiter:
„Sie darf die Selbstverwaltung auch nicht derart einschränken, dass sie innerlich ausgehöhlt wird, die Gelegenheit zu kraftvoller Betätigung verliert und nur noch ein Schattendasein führen kann“ (RGZ 126, Anh. S. 14 ff [22]), eine Formulierung, die sich das Bundesverfassungsgericht in seiner ersten Stellungnahme zur Reichweite des Art. 28 II GG zu Eigen gemacht hat (BVerfGE 1, 167 [174 f]).
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ff) In konsequenter Fortführung dieses Grundgedankens sah die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung stets einen „Kernbereich“ der gemeindlichen Selbstverwaltung als verfassungsfest und vor jeglicher gesetzlicher Einwirkung gesichert an[64]. Gewährleistet war den Gemeinden damit entsprechend traditioneller Sichtweise (vgl Rn 49) ein Bestand typischer, als essenziell erkannter Aufgaben. Maßgebliche Leitlinie für die Bewertung ist danach das charakteristische Erscheinungsbild der deutschen Gemeinde. Aufschluss darüber, welche Aufgaben hierzu gehören, kann zunächst eine historische Betrachtung (oben Rn 5) mit Blick auf den traditionellen gemeindlichen Aufgabenbestand geben. Aber auch jüngere, den Gemeinden nach der Gesetzeslage zugewachsene oder von ihnen auf Grund eigenen Entschlusses übernommene Angelegenheiten können inzwischen zu diesem zentralen Aktionsfeld gehören.
Ein Beispiel hierfür bildet die bereits angesprochene Planungshoheit in Gestalt satzungsmäßiger Festlegungen hinsichtlich der Bodennutzung durch Bebauungspläne, die heute durchweg zu den essenziellen gemeindlichen Agenden gezählt wird, in dieser Form aber erst 1960 durch den Erlass des BBauG seine konkrete Ausprägung gefunden hat[65].
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Hierauf hat das BVerfG wieder zurückgegriffen, als es den Gesetzgeber für gebunden erachtete, „die überkommenen identitätsbestimmenden Merkmale – den sog. Wesensgehalt – der gemeindlichen Selbstverwaltung zu beachten; was herkömmlich das Bild der gemeindlichen Selbstverwaltung in ihren verschiedenen historischen und regionalen Erscheinungsformen durchlaufend und entscheidend prägt, darf weder faktisch noch rechtlich beseitigt werden“[66].
Zu diesem Kernbereich oder Wesensgehalt der gemeindlichen Selbstverwaltung gehört nach der Rspr des BVerfG freilich „kein gegenständlich bestimmter oder nach feststehenden Merkmalen bestimmbarer Aufgabenkatalog, wohl aber die Befugnis, sich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, die nicht durch Gesetz bereits anderen Trägern öffentlicher Verwaltung übertragen sind, ohne besonderen Kompetenztitel anzunehmen“[67]. Damit wird nicht mehr an der traditionellen Sichtweise festgehalten werden, der zufolge unantastbare örtliche Handlungszuständigkeiten immer schon dann anzunehmen waren, wenn entsprechende „Gemeindehoheiten“ tangiert waren. Solche Hoheiten (vgl Rn 55 ff) dürften damit nicht mehr kompetenzkonstituierend wirken, sondern lediglich indiziellen Charakter besitzen[68].
Da aber andererseits Art. 28 II 1 GG, wie gezeigt, keine status-quo-Garantie enthält, die gegen alle „Hochzonungen“ von Aufgaben hin zu den Kreisen oder staatlichen Verwaltungsträgern abschirmen könnte, leuchtet ein, welche Schwierigkeiten es den Verfassungsgerichten – vor allem mit Blick auf in der Realität zu konstatierenden Wanderungsprozesse und Gemengelagen[69] – bereiten muss, hier zu überzeugenden Grenzziehungen zu kommen. Nur äußerst selten wurde bislang jedenfalls gesetzlichen Bestimmungen wegen einer Verletzung des Kernbereichs gemeindlicher Selbstverwaltung Verfassungswidrigkeit attestiert[70].
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gg) Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich in der Literatur die Stimmen mehrten, die der traditionellen Dogmatik vorwarfen, sie sei ungeeignet, Diskrepanzen zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit zu beseitigen und kommunalen Substanzverlusten entgegenzuwirken.
– | Das sog. funktionale Selbstverwaltungsverständnis[71] wollte an die Stelle eigenverantwortlicher gemeindlicher Entscheidungen lediglich eine gesicherte Mitwirkung an höherstufigen Entscheidungsprozessen treten lassen. Dies sind Überlegungen, die bereits mit dem Wortlaut des Art. 28 II 1 GG (eigenverantwortliche Regelung aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft) nicht in Einklang zu bringen sind, geschweige denn mit seiner Ratio. Ein solches Mitwirkungspostulat kann richtigerweise lediglich Ergänzungs-, nicht aber Substitutionsfunktionen erfüllen. |
– | J. Burmeister[72] sah in der kommunalen Selbstverwaltung lediglich ein staatsorganisatorisches Aufbauprinzip und die Gemeinden als unterste Vollzugsinstanz aller staatlichen Aufgaben, ohne dass ihnen eine Kompetenz- bzw Funktionsgarantie zustünde. Schon daraus wird ersichtlich, dass es sich bei seinen Überlegungen, wie auch der Titel der Schrift klarlegt, um eine verfassungstheoretische Neukonzeption handelt, bei der verfassungsexegetische Elemente nur eine Nebenrolle spielen[73]. |
– | Weil sich diese primär in den siebziger Jahren entwickelten Konzeptionen gegenüber der traditionellen Dogmatik aber letztlich nicht haben durchsetzen können, will ein neuer Ansatz von A. Engels nunmehr mittels einer prinzipientheoretischen Betrachtung zu einer „dogmatischen Rekonstruktion“ des kommunalen Selbstverwaltungsrechts kommen[74]. |
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hh) Neben diesen Kernbereichsschutz tritt das auch bei Eingriffen in die Selbstverwaltungssphäre stets zu beachtende, auf dem Rechtsstaatsprinzip gründende Übermaßverbot mit seinen Komponenten der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit ieS, durch dessen Heranziehung seit Ende der 70er-Jahre die Verfassungsgerichte der Länder sich bemühten, den Rechtsschutz der Kommunen gegen Aufgabenentziehung und organisatorische Einwirkungen zu dynamisieren[75].
Das Bundesverfassungsgericht hat diese Ansätze in der Sache aufgegriffen und spricht mittlerweile von einem aus Art. 28 II 1 GG zu folgernden, auch außerhalb des Kernbereichs wirkenden verfassungsrechtlichen Aufgabenverteilungsprinzip[76] hinsichtlich der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zu Gunsten der Gemeinde, die der zuständigkeitsverteilende Gesetzgeber bei der Wahrnehmung seiner „Gestaltungs- und Abgrenzungsbefugnis“[77] zu berücksichtigen habe; ein Prinzip, das zu Gunsten kreisangehöriger Gemeinden auch gegenüber den Kreisen gelte[78].
Auf die gemeindliche Aufgabenwahrnehmung bezogene inhaltliche Vorgaben bedürfen damit eines rechtfertigenden Grundes, etwa um eine ordnungsgemäße Erledigung sicherzustellen, und müssen beschränkt bleiben „auf dasjenige, was der Gesetzgeber zur Wahrung des jeweiligen Gemeinwohlbelangs für erforderlich halten kann, wobei er angesichts der unterschiedlichen Ausdehnung, Einwohnerzahl und Struktur der Gemeinden typisieren darf und auch im Übrigen einen weiten Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum hat“[79].
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Art. 28 II 1 GG gewährt den Gemeinden damit verfassungsrechtlichen Schutz gegenüber staatlichen Eingriffen auch, soweit kommunalinterne Maßnahmen, etwa Aufgabenverlagerungen auf die Kreisebene, verfügt werden. Leistungsfähige kreisangehörige Gemeinden haben einen verfassungskräftig geschützten Anspruch darauf, dass ihrer Eigenaktivität nicht durch Zugriff oder Vorgriff des Kreises der Boden entzogen wird. Der Gesetzgeber darf den Gemeinden danach eine Aufgabe mit relevantem örtlichen Charakter nur aus Gründen des Gemeininteresses, vor allem also etwa dann entziehen, wenn anders die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung nicht sicherzustellen wäre, und wenn die den Aufgabenentzug tragenden Gründe gegenüber dem aus Art. 28 II 1 GG abgeleiteten verfassungsrechtlichen Aufgabenverteilungsprinzip überwiegen. Die Sätze 1 und 2 des Art. 28 II GG enthalten so zugleich kommunalintern kompetenzverteilende und nach außen hin kompetenzabgrenzende Komponenten[80].
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ii) Sie entfalten so auch Wirkung im Verhältnis zwischen Nachbargemeinden[81].
Wie weit die Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers bei der „Hochzonung“ bisheriger Gemeindeaufgaben reichen, ist allerdings im Einzelnen nach wie vor umstritten. BVerwGE 67, 321 ging in Sachen „Rastede“ im Wesentlichen noch von einer Gleichrangigkeit von Gemeinden und Gemeindeverbänden aus. Der Gesetzgeber sei daher bei einer kommunalinternen Aufgabenverlagerung lediglich an Gemeinwohl und Übermaßverbot gebunden. Dagegen wurde überwiegend[82] der Gedanke der subsidiären Verbandszuständigkeit vertreten, dh originär sind die Gemeinden für alle örtlichen Aufgaben zuständig. Erst wenn deren Leistungsfähigkeit zur Erfüllung bestimmter Aufgaben nicht mehr ausreicht, dürfen diese Gemeindeverbänden übertragen werden. Für diese Ansicht konnte bereits der Wortlaut des Art. 28 II GG angeführt werden, der den Gemeinden originäre Aufgaben zuweist, während die Gemeindeverbände lediglich über einen abgeleiteten, „gesetzlichen Aufgabenbereich“ verfügen. Das BVerfG wies in Sachen „Rastede“, wo es um die auf nds. Gesetzgebung beruhende Verlagerung der Aufgabenzuständigkeit für die Beseitigung privater Abfälle von den kreisangehörigen Gemeinden auf die Landkreise ging, trotz des konstatierten Vorrangs der Gemeindeebene vor der Kreisebene die kommunale Verfassungsbeschwerde im Ergebnis zurück, da der Gesetzgeber seine Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Bewertung der örtlichen Bezüge der betreffenden Aufgabe und ihres Gewichts in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise genutzt habe. Gründe des Umweltschutzes, der Seuchenabwehr und der Landschaftspflege lassen sich im Spannungsverhältnis zwischen Verwaltungseffizienz und Bürgernähe durchaus für eine Hochzonung der gesamten Abfallentsorgung anführen, weshalb in Nds. die kreisangehörigen Gemeinden dem entsorgungspflichtigen Landkreis lediglich (gegen Kostenerstattung) Verwaltungshilfe leisten, vgl § 6 I NAbfG. Anders in NRW, wo das Einsammeln und Befördern der Abfälle in der Hand der Gemeinden blieb, vgl § 5 VI AbfG NRW.
Grafisch lässt sich die Überlegung der Rastede-Entscheidung wie folgt darstellen:
Übersicht 2:
Die Rastede-Entscheidung
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Die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte orientiert sich dabei stark an der verwaltungsrechtlichen Abwägungsfehlerlehre (u. Rn 1012 ff), wie sie etwa zum Bauplanungsrecht entwickelt wurde. Auf der Grundlage dieser Judikatur des Bundesverfassungsgerichts kommt es für eine verfassungsrechtliche Bewertung jeweils auf die Besonderheiten des betreffenden Aufgabenfeldes, seine Dimensionen und seine Relevanz für staatlicherseits zu schützende Belange unter Würdigung der Einzelheiten der Reichweite und der Intensität des gesetzgeberischen Eingriffs an[83].
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jj) Zur kommunalen Organisationshoheit hat das BVerfG[84] festgestellt, die Selbstverwaltungsgarantie umfasse traditionell auch kommunale Organisationsbefugnisse, allerdings nicht im Sinne eines Prinzips der Eigenorganisation der Gemeinde, demgegenüber jede staatliche Vorgabe einer spezifischen Rechtfertigung bedürfe. Dem Gesetzgeber sind freilich bei der Ausgestaltung der gemeindlichen Organisation in doppelter Hinsicht Grenzen gesetzt:
– | die Gewährleistung des Kernbereichs verbietet Regelungen, die eine eigenständige organisatorische Gestaltungsfähigkeit der Kommunen im Ergebnis ersticken würden. Aber: „Insbesondere die Entscheidung über die äußeren Grundstrukturen der Gemeinde wurde in allen Ländern stets als Sache des Gesetzgebers angesehen. Die Festlegung und Konturierung der Gemeindeverfassungstypen, wie etwa der Magistrats, Bürgermeister, süddeutschen oder norddeutschen Ratsverfassung … sind ebenso wie die Entscheidung über plebiszitäre Beteiligungsmöglichkeiten der Gemeindebürger vom Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie nicht erfasst“[85]. |
– | Im Vorfeld der Kernbereichssicherung hat der Gesetzgeber den Gemeinden einen hinreichenden organisatorischen Spielraum bei der Wahrnehmung der jeweils einzelnen Aufgabenbereiche offen zu halten. Bei der Bewertung der gesetzlichen Verpflichtung, eine Gleichstellungsbeauftragte zu bestellen, wird etwa darauf verwiesen, es handele sich um eine in sich begrenzte Organisationsmaßnahme, die sich von sonstigen im deutschen Kommunalrecht bekannten Vorgaben wie der Verpflichtung zur Einrichtung eines Rechnungsprüfungsamtes, eines Ausländerbeirats oder zur Bestellung des Hauptausschusses nicht grundlegend unterscheide[86]. |
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Lösungshinweise zu Fall 2 (Rn 45):
Im Ausgangsfall ist im Rahmen der Begründetheit zunächst zu prüfen, ob der Kernbereich der Selbstverwaltung der Gemeinde G durch die Regelung des § 5 II GO NRW berührt wird. Angesichts der vorstehend zitierten Rspr des BVerfG, das einen vergleichbaren Fall zur schleswig-holsteinischen Gemeindeordnung zu entscheiden hatte, wird dies zu verneinen sein. Legislativen Maßnahmen sind nichtsdestoweniger insofern zusätzlich Grenzen gesetzt, als – auch im Vorfeld der Kernbereichssicherung – den Gemeinden eine Mitverantwortung für die organisatorische Bewältigung ihrer Aufgaben einzuräumen ist. Auch diese Maßgabe dürfte jedoch durch die Verpflichtung zur Einrichtung der Stelle einer Gleichstellungsbeauftragten nicht verletzt sein. Bezüglich der Modalitäten (Zuordnung im Einzelnen, personelle und sachliche Ausstattung, Einbindung in die Arbeit der entscheidungsbefugten Stellen der Gemeindeverwaltung) verbleibt – so das BVerfG – ein hinreichender organisatorischer Spielraum.
Bei einer kleinen kreisangehörigen Gemeinde mit weniger als 20 000 Einwohnern stellt sich insbesondere die vom Nds.StGH (DÖV 1996, 657) unter dem Blickwinkel des Verhältnismäßigkeitsprinzips erörterte Frage nach der Notwendigkeit einer Ausnahmeregelung. Die in § 5 II GO NRW normierte Pflicht zur Bestellung hauptamtlicher Gleichstellungsbeauftragter beschränkt sich aber auf den Ausschluss einer ehrenamtlichen Aufgabenwahrnehmung, ohne zugleich Vorgaben in Bezug auf den Tätigkeitsumfang der hauptamtlichen Gleichstellungsbeauftragten zu machen. Insbesondere setzt das Erfordernis der Hauptamtlichkeit nicht voraus, dass das Amt der Gleichstellungsbeauftragten mit mindestens 50% der regelmäßigen Arbeitszeit ausgefüllt wird. Eine solche Regelung wahrt die Grenzen, die das Übermaßverbot einer staatlichen Reglementierung der kommunalen Organisationshoheit zieht.[87]