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Büroalltag

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In den kommenden Tagen arbeiteten sich Fabian und Wolfram nach und nach in ihr neues Thema ein. Sie werteten Datenbanken aus, sichteten Statistiken und Veröffentlichungen. Erstaunlich war, dass annährend der gesamte Öl- und Gasbedarf des Landes seit wenigen Jahren aus heimischen Quellen gedeckt wurde. Größte Anstrengungen waren unternommen worden, Deutschland aus der Abhängigkeit globaler Lieferengpässe zu befreien. Neuartige Fracking-Technologien hatten es möglich gemacht, Öl und Gas auch noch aus Gesteinen zu gewinnen, in denen diese fossilen Brennstoffe nur in geringen Konzentrationen enthalten und zudem fest eingeschlossen waren. In weiten Teilen des Landes gab es im Untergrund Gesteine, die ausgebeutet werden konnten, an vielen Orten waren riesige Energieplantagen entstanden, die Fracking betrieben. Öl und Gas im eigenen Land zu fördern war alternativlos geworden. Der Ausbau regenerativer Energien war in den vergangenen Jahrzehnten zu spät und zu zögerlich in Gang gekommen, die Elektromobilität hatte sich wider Erwarten nicht durchgesetzt, noch immer dominierte der Verbrennungsmotor. Angesichts des drohenden Mobilitätsverlusts waren Kritiker, die der neuen Fördertechnologie wegen Umweltrisiken zunächst kritisch gegenüberstanden, weitgehend verstummt. Gelegentlich kam es tatsächlich zu Havarien, mussten Trinkwasserbrunnen aufgegeben werden, weil durch die Ölförderung Grundwasser verseucht wurde. In einem regen- und wasserreichen Land konnte jedoch auf andere Trinkwasservorkommen ausgewichen werden, betroffene Wasserwerke wurden entschädigt und stillgelegt. Die Energieförderung erfolgte durch private Frackinggesellschaften, die ihre Konzessionen vom Staat ersteigerten. Es ging dabei um hohe Milliardenbeträge, die sich die Unternehmen jedoch problemlos am Kapitalmarkt beschaffen konnten. Seit der Banken- und Finanzkrise im Jahr 2008 hatte sich das Zinsniveau nicht mehr erholt, rund um den Erdball suchten Kapitalanleger nach Geldanlagemöglichkeiten. Ein Engagement in deutsche Energieplantagen und in Fracking bescherte den internationalen Investoren attraktive Renditen. Alles hing mit allem zusammen.

„Ich denke, dass wir uns einen guten Überblick verschafft haben“, Wolfram saß an seinem Schreibtisch und legte ein Dokument zur Seite. Fabian stand in der Tür, um ihn zum gemeinsamen Mittagessen im Bistro abzuholen.

„Die Quellen beginnen sich zu wiederholen, und irgendwie hat man das Gefühl, alles schon einmal in der Zeitung gelesen oder im Fernsehen gesehen zu haben“, fuhr er fort.

„Mir geht es ähnlich“, erwiderte Fabian, „für unsere Reportage benötigen wir Informationen, die neu sind, am besten Insiderwissen. Aus meiner früheren Geologentätigkeit habe ich noch Kontakt zu einigen ehemaligen Kollegen, vielleicht kann ich etwas Wissenswertes in Erfahrung bringen.“ Mittlerweile hatten sie das Bistro erreicht, als Tagesgericht gab es hausgemachte Maultaschen, garniert mit Röstzwiebeln, dazu warmen Kartoffelsalat.

„Gut, dass es in dieser schnelllebigen Zeit wenigstes einige unverrückbare Dinge gibt, zum Beispiel die schwäbische Küche und den Trollinger“, freute sich Wolfram.

„Ja, hoffen wir, dass keiner auf die Idee kommt, Maultaschen zu erfinden, die man an jeder Ecke über das Smartphone am 3D-Drucker ausdrucken kann. Das würde auch noch den traditionellen Restaurants den Todesstoß versetzen“, gab Fabian augenzwinkernd zu bedenken.

„Ein interessantes Geschäftsmodell“, fand Wolfram, „aber ich habe mein Smartphone letzte Woche verloren. Bevor ich mir die Maultaschen-App runterladen kann, muss ich mir erst ein neues Gerät kaufen.“

„Glückwunsch, kannst meines haben“, bot Fabian großzügig an. „Als ich es nach dem Urlaub wieder einschaltete, hatte sich das Ding während meiner Abwesenheit 165 Mails eingefangen, es ist und bleibt eine Plage mit diesen Geräten.“ Sie lachten und stießen mit einem Trollinger der Lage „Untertürkheimer Gips“ an.

„Eigentlich sollte ich keinen Alkohol trinken. Meine Stimmtherapeutin meinte, das sei nicht gut für die Stimme“, erinnerte sich Fabian an die Worte von Frau Schneider.

„Du spinnst“, knurrte Wolfram, „pass bloß auf, dass sie dich nicht auch noch zum Vegetarier mutiert. Ich glaube, ich muss mit dieser Dame ein ernstes Wort reden.“

Es war Freitag, ab 12:00 Uhr stand es ihnen frei, das Wochenende anzutreten. Beide hatten genügend Überstunden, und das gerade begonnene Projekt erlaubte noch einige Mußestunden. Den restlichen Nachmittag verbrachten sie zusammen im Bistro und überließen die Arbeit sich selbst. Sie pflegten ein gemeinsames Hobby, das ihnen half, Stress abzubauen: Es bereitete ihnen manch heimliches Vergnügen, die Körpersprache ihrer Mitmenschen zu beobachten und zu deuten. Im Internet gab es hierzu auf YouTube allerhand Lehrvideos, mit deren Hilfe sie bemerkenswerte Kenntnisse erworben hatten. In der Mittagspause war das gut besuchte Bistro regelmäßig ihr Trainingscamp, um das theoretisch erworbene Wissen in der Praxis zu überprüfen. Einigen Gästen, die das Bistro ebenfalls regelmäßig besuchten, hatten sie Spitznamen gegeben. „Obelix“ war ein Herr mit mächtiger Leibesfülle, die „Schmerzensfrau“ hatte auffällige Piercings, die beim Stechen zweifellos erhebliche Schmerzen verursacht haben mussten und „der Fraßgierige“ fiel durch außergewöhnlichen Appetit und schlechte Tischmanieren auf.

Sie bestellten weiteren Trollinger, weil Wolfram die Sorge geäußert hatte, aller Trollinger werde bald nach Berlin exportiert. Dort erfreute sich dieser leichte, an Himbeersaft erinnernde Wein als gut gekühlter Drink seit einiger Zeit steigender Beliebtheit. Am späten Nachmittag verabschiedeten sie sich. Fabian stieg auf sein Mountainbike und fuhr nach Hause. Conny begrüßte ihn mit einem flüchtigen Kuss und gespielt tadelnden Worten: „Du riechst nach Alkohol!“

„Stimmt, ich war mit Wolfram im Bistro und …“

„Aha, dann hast du deine Tagesdosis ja gehabt, und ich muss das Freitagabendfläschchen wahrscheinlich alleine trinken oder hilfst du mir trotzdem ein wenig?“, wollte sie wissen. „Vorbeugend wäre es vielleicht kein Fehler“, ergänzte sie, „stell dir vor, ich habe heute Nacht erstmals hier zuhause den Brummton gehört.“

Sie saßen im Dämmerlicht auf der Veranda, genossen ihr Abendessen und bekämpften den aufziehenden Brummton mit Hilfe des Fläschchens.

Während des Wochenendes dachte Fabian an die Fracking-Reportage, seine neue Aufgabe trieb ihn um, er konnte nicht richtig abschalten. Das Thema, das er im Büro bearbeitete, betraf ihn auch persönlich, eine klare Trennung zwischen Beruflichem und Privatem war unmöglich. Eine intakte Umwelt war ihm wichtig, aber als Konsument verbrauchte er Öl und Gas. Der Stimmungswandel und die stillschweigende Zustimmung großer Teile der Gesellschaft zur neuen Energiewirtschaft und den neuen Fördertechnologien waren ihm unheimlich. Sein modernisiertes Haus erfüllte zwar moderne Energiestandards, wurde aber mit Erdgas beheizt, weil umweltfreundlichere Alternativen nicht mehr staatlich gefördert wurden und vom Markt verschwunden waren. Ein Großteil der staatlichen Fördermittel war zugunsten der neuen Öl- und Gaswirtschaft umgeschichtet worden. Er selbst fuhr zwar mit dem Mountainbike ins Büro, für Connys Tätigkeit als Hebamme war ein Auto jedoch unverzichtbar. Fabian dachte an die Worte von Albert Schweizer, der einst gesagt hatte: „Das Wenige, das du tun kannst, ist viel“, aber er fühlte sich in Marktmechanismen, Politik und Sachzwängen gefangen. Ohne es zu wollen trugen er und seine Familie Mitverantwortung für negative Umweltfolgen, und nun sollte er für den Verlag im Auftrag eines Energie-Magazins auch noch eine Reportage über Fortschritte beim Fracking und die glänzenden Zukunftsperspektiven der Öl- und Gaswirtschaft berichten. Überall taten sich ihm Widersprüche auf. Leichte Gartenarbeit und eine Fahrradtour mit der Familie brachten ihn auf andere Gedanken, wie immer verging das Wochenende wie im Flug.

Asche und Stimme

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