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Die Welt wird schöner

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Sarah Schneider war motiviert, sie spürte, dass Fabian voll guter Laune zur Therapiestunde gekommen war. Mit ausgeprägter Empathie und sanfter Freundlichkeit vermochte sie Herzen zu öffnen, ihre Fröhlichkeit war ansteckend. Sie liebte ihren Beruf und war ihren Patienten herzlich zugetan, diese fühlten sich angenommen und verstanden.

Fabian lag auf der Behandlungsliege, gefühlvoll bearbeitete sie sein Rippenfell und triggerte seine Nackenmuskulatur, dazu sang sie wieder geheimnisvolle Tonfolgen, die er nachsingen musste. Um den Hals trug sie eine feine silberne Kette mit einem Kreuz, das im Takt ihrer Bewegungen hin und her baumelte und Zeichen ihres Glaubens war. Die atemtherapeutische Massage war abgeschlossen, Sarah bot ihrem Patienten eine Tasse Orangenblütentee an.

„Bei der Massage habe ich festgestellt, dass sie ziemlich flach atmen, hatten sie einmal eine Erkrankung im Brustraum, vielleicht eine Lungenentzündung oder etwas Ähnliches?“, wollte sie wissen.

Fabian überlegte. „Ja, vor etwa dreißig Jahren hatte ich einmal eine schwere Entzündung des Rippenfells, wenn ich erkältet bin, schmerzen mich ab und zu noch die alten Narben.“

„Das erklärt Einiges“, antwortete Frau Schneider.

„Wegen der Narben nimmt ihr Brustkorb beim Einatmen manchmal unbewusst eine Schonhaltung ein und deswegen atmen sie flach. Wir werden daran arbeiten und ihrer Atmung wieder Tiefe geben, das wird sich positiv auf ihre Stimme und auch auf ihre Stimmung auswirken.“ Sie lächelte ihn lange an, eine starke, helle Kraft schien in ihr zu sein und von ihr auszustrahlen.

Fabian war verblüfft. So jung Frau Schneider war, nichts entging ihr. Aufmerksam beobachtete sie ihre Patienten und hörte deren Schilderungen zu, um manchmal Wochen später im Gespräch daran anzuknüpfen. Sie schien über die langjährige Erfahrung zu verfügen, die er von einer Therapeutin gegen Ende ihres Berufslebens erwarten würde.

Weiter ging es mit Stimmübungen. Frau Schneider hatte das Gedicht ‚Frühlingsglaube‘ von Ludwig Uhland ausgewählt. Zeile für Zeile sprach sie auswendig vor, Fabian wiederholte ganz langsam, sie achtete auf seine Atmung und das Sprechtempo.

Das Gedicht handelt vom blühenden Frühling. Es berichtet, dass die Welt mit jedem Tag schöner wird, und man nicht weiß, wo das noch hinführen werde. Auf jeden Fall fordert das Gedicht das Herz des Lesers dazu auf, alle Qual zu vergessen, weil sich nun alles, alles wenden müsse.

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Frau Schneiders kraftvolle, schöne Stimme und die Botschaft der Worte entfalteten eine angenehm beruhigende Wirkung. Mit dem wechselseitigen Gedichtvortrag fühlte er Heilung in seinen Körper einziehen. Mehrmahls sprachen sie die Verse im Wechsel, immer wieder ermahnte sie ihn zur Langsamkeit, zuletzt war seine Stimme kraftvoll, glatt und geschmeidig.

„Frau Schneider, die Therapiestunde war heute wunderschön. Es fällt mir schwer, das zu fassen, was wir hier tun. Diese Übungen entziehen sich einer einfachen Beschreibung mit Worten, aber sie berühren die Seele. Vielleicht könnte man sie Performance-Art nennen, eine Art Gesamtkunstwerk aus Tönen, Bewegungen und Berührungen…?“, überlegte Fabian laut. Frau Schneider nickte kaum wahrnehmbar, ihre Augen strahlten. Für die meisten Patienten waren die Therapiestunden nicht mehr als eine Krankenkassenleistung, die vom Arzt verordnet wurde, und die es hinter sich zu bringen galt wie einen Zahnarzttermin. Manchmal war sie darüber traurig. Jedem Patienten und jeder Therapiestunde schenkte sie ihre Phantasie, Kreativität und Liebe, ein Teil von sich selbst. Jede Stunde bereitete sie sorgfältig vor. Nur wenige Menschen erkannten dies, Fabian war einer dieser Menschen.

„Ja, Herr Marz, es ist Kunst, und es ist mehr als ein Job“, antwortete sie leise. „Ich habe gesehen, dass sie mit dem Fahrrad zur Therapie kommen. Fahren sie fleißig mit dem Rad, das ist gut für die Atmung und ihre Stimme.

Asche und Stimme

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