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Frau Schneider

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Der erste Arbeitstag nach dem Urlaub war zu Ende. Fabian fuhr mit dem Mountainbike in die nahe gelegene Türstraße, die Logopädiepraxis befand sich in einem gründerzeitlichen Backsteingebäude. Er klingelte, ein automatischer Türöffner ließ ihn eintreten. Im Flur der Praxis befand sich ein Wartebereich mit mehreren Stühlen, die Rezeption war nicht besetzt. Etwas unschlüssig nahm Fabian auf einem der Stühle Platz. Er war früh dran, offenbar waren alle Logopäden gerade in Therapiesitzungen. Durch die geschlossenen Türen der Behandlungsräume ringsum drangen seltsam summende, blubbernde und singende Laute, die immer wieder durch anleitende Worte der Therapeuten unterbrochen wurden.

„Bitte die Straßenschuhe ausziehen und Filzpantoffel anziehen“, stand auf einem Schild neben einer Kiste mit verschiedenfarbigen Filzpantoffeln.

„Wo bin ich da hingeraten?“, fragte er sich und schlüpfte mit Befremden in ein Paar grüngelb gestreifte Filzpantoffeln. Pünktlich um 17:00 Uhr öffneten sich die Türen der Behandlungszimmer, es war „Schichtwechsel“. Patienten verließen die Praxis, neue Patienten traten ein. Eine junge Frau kam auf Fabian zu. „Guten Abend, sie sind sicher Herr Dr. Marz. Freut mich sehr, mein Name ist Sarah Schneider, ich bin ihre Stimmtherapeutin.“

Sarah Schneider war Mitte 20, zierlich und sehr sportlich. Ihre Körperhaltung war aufrecht, die Bewegungen durch jahrelanges Faszientraining geschmeidig wie die einer Katze. Sie hatte schulterlange, kastanienbraune Locken und braune Augen.

Frau Schneider sprach Hochdeutsch und hatte feine Manieren, sie trug ein lilafarbenes Oberteil, die Farbe der Therapeuten und der Kreativen.

Die Therapie begann mit einer ausführlichen Anamnese. Fabian berichtete von seinem Räusperreiz, der ihn schon lange quälte. Verschiedene Ärzte hatte er aufgesucht, allerhand Ursachen waren ausgeschlossen worden, eine überlastete Stimme erschien Dr. Glückmann letztlich als der wahrscheinlichste Grund für sein Leiden.

„Das ist gut möglich, ihre Stimme klingt rau und etwas kratzig“, stellte Frau Schneider fest.

„Müssen Sie häufig gegen Widerstände anreden, fühlen sie sich stimmlich oft angestrengt?“

Fabian dachte nach. In der Redaktion kam es tatsächlich oft vor, dass unterschiedliche Auffassungen ausdiskutiert wurden. Diese Auseinandersetzungen strengten ihn an, auch wenn sie sachlich ausgetragen wurden. Dazu kamen zahlreiche Besprechungen und Telefonate, die seine Stimme beanspruchten. Zuhause forderten zwei kleine Kinder viel Stimmkraft bei der Erziehungsarbeit, es strengte ihn tatsächlich an, laut und disziplinierend zu reden. Dazu kam noch der gerade abgeschlossene Umbau seines Hauses. Er hatte es alt und abgewohnt gekauft, die Renovierung hatte mehr als zwei Jahre gedauert. Zahlreiche Besprechungen und aufreibende Auseinandersetzungen mit Handwerkern und dem Architekten hatten ihn emotional und stimmlich erschöpft. Dr. Glückmann hatte ihm geraten, beruflich kürzer zu treten, die Situation in der Redaktion ließ dies nicht zu. Ab und zu fühlte er sich am Rande eines Burnouts, vielleicht hatte er bereits eine leichte Form dieser Erkrankung entwickelt. Ja, er fühlte sich schon seit längerer Zeit nicht richtig „gut drin“ in seinem Leben, irgendwie auf halbem Wege verkantet und steckengeblieben, so sein bildlicher Vergleich. Ohne fremde Hilfe schien er sich aus dieser misslichen Lage nicht befreien zu können.

Frau Schneider hatte ihm konzentriert zugehört. „In der Summe war ihr Pensum in den vergangenen Jahren eindeutig zu viel für sie. Manche Menschen bekommen einen Herzinfarkt oder Magenbeschwerden, wenn sie andauernd überlastet sind. Bei ihnen ist die Stimme erkrankt, dies scheint ihr Schwachpunkt zu sein. Es ist gut, dass sie die Therapie nicht länger aufgeschoben haben, vermutlich hätte ihre Stimme bald vollständig versagt. Aber keine Sorge, ihr Leiden ist gut therapierbar, sie sind bei uns in guten Händen. Wir werden Übungen machen, die die Muskeln ihres Stimmapparats trainieren, ganz so wie ein Bodybuilder seine Bauchmuskeln zu einem Sixpack trainiert. Wichtig für die Stimme ist, dass sie, tagsüber genügend trinken, vermeiden sie Alkohol, Tabak und scharfe Gewürze. Diese Dinge belasten ihre Stimme. Summen sie ab und zu vor sich hin oder singen sie ein Lied. Alles, was den Kehlkopf zum schwingen bringt, ist gut für ihre Stimme.“ Während sie redete, hatte sie ihn intensiv und freundlich angesehen. Fabian war es, als hätte sie versucht in seinen Augen und in seinem Gesicht zu lesen, als sei es ihr wichtig, nichts zu übersehen, was für die Therapie von Bedeutung sein könnte. Er fühlte sich tatsächlich gut aufgehoben bei Frau Schneider, sie schien ihre Arbeit als Berufung und nicht nur als Job zu verstehen.

„Wie wird die Behandlung nun konkret ablaufen?“, fragte er. „Wir werden Stimmübungen machen, um ihren Stimmapparat zu trainieren. Parallel erhalten sie atemtherapeutische Massagen. Außerdem zeige ich ihnen gymnastische Übungen, die ihren Gleichgewichtssinn und ihre Körperhaltung stärken. Stimme, Körperhaltung und Atmung hängen untrennbar zusammen. Eine gesunde Atmung und eine gute Körperhaltung sind Voraussetzung für eine gesunde, kräftige Stimme. Auch werden wir mit Hilfe von Gedichten Sprechübungen machen.“

Fabian lächelte, seine Gedanken schweiften ab. In früheren Jahren hatte er zum eigenen Vergnügen Gedichte und Geschichten verfasst. Seine Mutter und ein Onkel waren talentierte Maler, ein Großvater war schriftstellerisch tätig gewesen, die Großmutter eine beachtete Geigerin. Er wusste, dass Kreativität und die Liebe zur Kunst in seinen Genen schlummerte und freute sich auf die kommenden Therapiestunden.

„Zum Abschluss zeige ich ihnen noch eine kleine Übung“, holte Frau Schneider ihn aus seinen Gedanken zurück.

„Zählen sie auf zwanzig“, Fabian gehorchte, seine Stimme klang rau.

„Nun ziehen sie mit der rechten Hand einen imaginären Draht aus ihrem Mund und singen sie dabei ein gedehntes wüüüüüü. Dabei stehen sie aufrecht und fixieren durchs Fenster einen Punkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite.“

Sie machte es vor und Fabian wiederholte die Übung einige Male.

„Nun zählen sie nochmals auf zwanzig“, Fabian zählte. Zu seinem eigenen Erstaunen war seine Stimme deutlich geschmeidiger als zuvor, für einige Augenblicke ließ auch der Räusperreiz nach. Frau Schneider nickte und lächelte ihn freundlich an. Die Therapiestunde war zu Ende, mit leichtem Herzen und guter Laune stieg er auf sein Mountainbike und fuhr nach Hause. Es war ihm, als lägen heilsame und kurzweilige Termine vor ihm.

Asche und Stimme

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