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Auf der Schwäbischen Alb

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Am Nachmittag stand eine geführte Wanderung zum Lochenstein auf dem Programm des Feriendorfs. Der Lochenstein ist ein markanter Berg am Rande der Schwäbischen Alb. An klaren Tagen kann man vom Gipfel bis in den Schwarzwald und zu den Schweizer Alpen sehen. Eine fröhliche Schar hatte sich am Treffpunkt versammelt. Die Wanderung begann hinter dem Feriendorf, sie führte die Gruppe zunächst über die Hochfläche der Schwäbischen Alb, dann entlang der steilen Traufkante, die das Mittelgebirge vom vorgelagerten Tiefland trennt. Wunderschön war es hier, den Wanderern boten sich phantastische Ausblicke. Wiesen mit seltenen Blumen, Wacholderbüsche und tanzende Schmetterlinge wechselten sich mit Wäldern ab, an deren Rändern windgepeitschte, knorrige Buchen wuchsen. Gesunde Buchen waren selten geworden, der Klimawandel hatte diese Baumart stark dezimiert. Es duftete intensiv nach Kleeblüten, Wald und Sommer, über der weiten Hochfläche flimmerte die Nachmittagshitze. Fabian ließ den Blick über das malerische Land schweifen. Weite und allgegenwärtige Reinheit waren wohltuend. Archaisch, unberührt und gesund schien die Gegend zu sein, ein Hauch von Ewigkeit umwehte alles. Nichts verstellte den Blick, es gab keine Häuser, Straßen, Stromleitungen und auch keine Bohrtürme. Fabian verringerte das Gehtempo und ließ die Wandergruppe an sich vorbeiziehen bis sie außer Hörweite war. Er lauschte den Geräuschen, die ihn umgaben. Wenn er stehen blieb, verstummte das Rascheln, das seine Schritte dem knöcheltiefen Gras entlockten. Nur noch das Summen unzähliger, emsiger Insekten war dann zu hören, sogar Bienen gab es noch hier. Kein menschengemachtes Geräusch drang zu ihm, kein Flugzeug zerschnitt den Himmel mit einem Kondensstreifen. Ein Gefühl stellte sich ein, als befände er sich auf einem fremden, unbevölkerten Kontinent inmitten eines großen Ozeans. Die starken Eindrücke inspirierten ihn, seine Seele suchte nach einer Möglichkeit, das Gesehene zu verarbeiten und mitzuteilen. Es blieb jedoch keine Zeit, um zu verweilen. Wollte er nicht den Anschluss an die Wandergruppe verlieren, musste er sich beeilen. Im Urlaub hatte man zwar frei, aber selbst in dieser Zeit war man nicht völlig frei.

Fabian kam mit einem Ehepaar mittleren Alters ins Gespräch. Iris und Manfred hatten beide katholische Theologie studiert, Manfred war Priester. Sie hatten geheiratet, nachdem der Papst den Zölibat abgeschafft hatte. Am Gipfel angekommen, machten beide mit ihren Smartphones Selfies und Panorama-Videos, die sie umgehend bei Facebook und YouTube posteten. „Oh, kaum gepostet und schon fünf Likes“, freute sich Manfred. Iris grollte, weil Manfred Likes von Damen erhalten hatte, die sie nicht kannte. Ihr blieb jedoch keine Zeit sich daran aufzuhalten, sie musste noch ein Foto vom Sonnenuntergang posten. Fabian stand etwas beiseite und ließ die Szenerie auf sich wirken. Die beiden lebten jeder für sich in ihren digitalen Welten, das reelle Leben lief nebenher. Viel zu sagen hatten sie sich offenbar nicht. Auch der schöne Sonnenuntergang vermochte nicht, ihnen ein gemeinsames Erlebnis zu stiften.

„Komm wir machen noch’n Foto, stell’n es irgendwo rein …“, hatte Sarah Conner vor vielen Jahren in einem Lied gesungen, dessen Titel Fabian vergessen hatte. Er summte die Melodie leise vor sich hin und dachte an eine Studie, die er vor einiger Zeit gelesen hatte. Viele Menschen hatten nie gelernt zu flirteten, weil Mobilgeräte ihre Aufmerksamkeit auch dann beanspruchten, wenn die Möglichkeit bestünde, Kontakt zu anderen zu knüpfen. Auf den Bahnsteigen und in öffentlichen Verkehrsmitteln, überall beschäftigten sich die Menschen mit ihren Geräten. Beziehungen begannen fast nur noch auf Online-Portalen. Die Algorithmen von Rechenzentren hatten die Fähigkeit zur persönlichen Kontaktaufnahme und das natürlichen Verhalten der Menschen teilweise ersetzt. Wenn sich zwei Menschen durch elektronische Vermittlung dann tatsächlich fanden und ineinander verliebten, überschattete die digitale Fixierung ihre Beziehung häufig so stark, dass dies mittlerweile der wichtigste Trennungsgrund von Paaren war. Spezialkliniken für den Digital-Entzug von Smombies setzten seit Jahren Milliardenbeträge um und waren zum einem wichtigen Wirtschaftszweig geworden. Längst hatte die digitale Abhängigkeit Nikotin- und Alkoholsucht zu Randerscheinungen werden lassen.

„Wie wär’s, wenn ich mit einem eurer Smartphones ein Foto von euch beiden aufnehmen würde?“, fragte er das Ehepaar.

Iris und Manfred schauten ihn mit großen Augen an. Es schien Fabian, als willigten sie nur aus Höflichkeit ein, als fühlten sie sich durch die unerwartete Gemeinschaft auf einem Foto überfordert. In die gereizte Diskussion, ob und wo das Foto zu posten sei, mischte sich Fabian nicht mehr ein. Auf dem Rückweg zum Feriendorf begann es zu regnen. Weder Conny noch das Theologenehepaar hatten Internetverbindung, um das Wetterradar aufzurufen. „Dieser Dienst ist derzeit nicht verfügbar“, hieß es auf sämtlichen Displays. Durchnässt kamen sie in ihrem Ferienhäuschen an. Nachdem die Kinder Abendbrot gegessen hatten und in ihren Betten lagen, kochte Conny aus dem restlichen Merlot, Kirschsaft und von zuhause mitgebrachten Gewürzen einen Glühwein. Sie gab reichlich Muskatnusspulver, gemahlene Nelken und Zimt in das Gebräu. Schließlich schmeckte sie die Kreation mit einem großzügigen Schuss Cognac ab. Die Gewürze und der heiße Alkohol entfalteten eine komatöse Wirkung, der Brummton hatte keine Chance. Durchwärmt und angeheitert gingen sie zu Bett.

Am anderen Morgen regnete es noch immer. Der Mann vom Brötchenservice erzählte ihnen, dass am nahen Plettenberg ein in der Erde verlegtes Stromkabel gerissen und der dortige Fernmeldeturm deshalb ausgefallen war. Man habe den Schaden bereits lokalisiert, es dauere jedoch noch zwei Tage, bis die Reparatur abgeschlossen und Handyempfang in der Gegend wieder möglich wäre.

„War es ein Erdrutsch?“, fragte Fabian den Brötchenmann.

„Nein, an der Stelle, an der der Bagger das beschädigte Kabel gerade freilegt, ist das Gelände ganz eben. Keine Ahnung, wie so ein Kabel einfach abreißen kann“, erwiderte der Mann.

Das Theologenpaar kam am Ferienhäuschen vorbei.

„Auch kein Internet-Empfang?“, grüßte Manfred.

Fabian nickte, er ahnte, dass dem Paar ein harter Entzug und schwierige Tage bevorstanden.

Am Nachmittag ließ der Regen nach. Die Kinder quengelten und drängten aus dem Ferienhäuschen.

„Wir machen einen Ausflug auf die Burg Hohenzollern“, entschied Fabian.

Kaum eine halbe Autostunde war die Burg vom Feriendorf entfernt. Der Wagen verließ die Bundesstraße und fuhr geradewegs auf den gleichnamigen Berg zu, der dem Rand der Schwäbischen Alb markant vorgelagert ist. Hoch über ihnen thronte die stattliche Anlage. Düstere Regenwolken umspielten nass glänzende, schwarze Dächer und den Bergwald. Fabian buchte am Burgtor eine Familienführung. Die Erwachsenen mussten graue Filzpantoffel über die Straßenschuhe stülpen, um die wertvollen Parkettböden zu schonen, den Kindern wurden rote Königsmäntelchen umgehängt, um ihnen das Gefühl zu geben, richtige Schlossherren zu sein. Es war Sommer, dennoch herrschten in der Burg kühle Temperaturen und eine düstere Atmosphäre. Die Gruppe bewegte sich von Raum zu Raum, die Schlossführerin erzählte kindgerecht die Geschichte der Burg und dem Geschlecht der Hohenzollern. In Schwaben steht ihre Stammburg, im fernen Preußen hatten sie es dann zu Königs- und Kaiserwürden gebracht. Von den Ölgemälden an den Wänden blickten längst verstorbene Hoheiten.

„Sein Blick ist verächtlich“, flüsterte Conny als sie an einem Jugendportrait Friedrich des Großen vorbeiging, der im Volksmund auch „Alter Fritz“ genannt wurde.

„Gut möglich, Friedrich der Große soll spöttisch gewesen sein, außerdem war er Männern offenbar mehr zugetan als Frauen“, raunte Fabian zurück. In einer Vitrine lag die weiße Totenmaske des berühmten Königs. Fabian betrachtete die konservierten Gesichtszüge des berühmten Mannes. Die Verbitterung über ein konfliktbeladenes Leben schien aus diesen letzten Zügen zu sprechen. Vielleicht hatte dieser Mann in seiner Todesstunde die schrecklichen Kriege bereut, die er gegen seine Nachbarn geführt hatte. Ein glückliches, erfülltes Leben hätte am Ende andere Gesichtszüge zurücklassen müssen. Wie ein Mahnmal schiene die Maske in der Vitrine zu liegen.

„Schnell komm weiter, ich will das nicht sehen“, bat Conny. Die Gruppe kam an die Tür eines kleinen Salons, der das Wohnzimmer einer Königin gewesen war.

„Wir können den Salon leider nicht betreten“, bedauerte die Burgführerin. „Heute Morgen wurde ein großer Riss in der Decke und in einer Wand bemerkt und bevor nicht geklärt ist, ob für Besucher Gefahr besteht, ist der Raum gesperrt. Sie können gerne von der Türschwelle aus einen Blick in den Raum werfen.“ Fabian blickte in den Raum. Die meisten Wände und die Decke waren mit dunklem Eichenholz vertäfelt, das mit reichem Schnitzwerk verziert war. Von einem Ölgemälde blickte ihn Königin Luise von Preußen an. Sie war eine Schönheit gewesen, zu Beginn des 19. Jahrhunderts galt sie als die hübscheste Königin Europas. In jungen Jahren hatte sie erleben müssen, wie Napoleon in mehreren Schlachten ihr Land unterworfen hatte, große Teile des Territoriums waren verloren gegangen.

Sie schien sich von ihren schwierigen Umständen dennoch frei gemacht zu haben, glücklich blickte sie auf die Besucher. Fabian empfand Sympathie für diese Frau. Er rätselte, worin die Quelle ihres Glücks wohl bestanden haben mochte.

Sein Blick wanderte zur Decke des Raums. Dort klaffte ein breiter Riss in der Holzvertäfelung, der durch den gesamten Raum lief und sich in einer der Wände bis zum Boden fortsetzte.

„War es ein Erdbeben?“, fragte eine Besucherin.

„Das wäre naheliegend. Die Burg wurde im Jahr 1978 durch ein Erdbeben schwer beschädigt, sie liegt tatsächlich in einem Erdbebengebiet. Wir haben hier oben jedoch Seismographen, also Messgeräte, die Erdstöße aufzeichnen können. Eine Auswertung heute Morgen hat allerdings ergeben, dass in den vergangenen Tagen kein Erdbeben stattgefunden hat“, erläuterte die Burgführerin der Besuchergruppe.

Die Führung war zu Ende, die Besucher verließen die Burg, der bereitstehende Shuttle-Bus brachte sie zum Parkplatz, der sich ein Stück unterhalb der Burg im Wald befand.

„Es war gerade so, als hätte sich in der Burg eine Spannung aufgebaut, die sich entladen hat und den Salon zum Bersten brachte“, überlegte Fabian laut vor sich hin.

„Ach was, die Schlossgespenster haben nachts Party gemacht und es richtig krachen lassen“, kicherte Conny. Fabian lachte, es war wohltuend, dass nichts auf der Welt Conny erschüttern oder ins Grübeln bringen konnte.

Das Wetter besserte sich wieder. Die Familie genoss die letzten Urlaubstage in vollen Zügen. Es war herrlich, ohne Termine und Pflichten einfach in den Tag hineinzuleben. Doch eines Morgens war der Abreisetag da. Conny saß am Frühstückstisch und las die Online-Ausgabe der Stuttgarter Zeitung, um sich auf die Rückkehr aus dem Urlaub einzustimmen.

„Bauschäden auf der Burg Hohenzollern – Denkmalbehörde prüft, ob Reparaturarbeiten nach Erdbeben 1978 ordnungsgemäß ausgeführt wurden“, las sie laut vor. Im Kommentar zum Artikel wurden Überlegungen angestellt, ob mangelhafte Reparaturarbeiten aus den 70erJahren tatsächlich die Ursache für den plötzlich eingetretenen Bauschaden sein konnten. Der befragte Sachverständige hielt dies für wenig wahrscheinlich. In diesem Fall, so führte er aus, wären zunächst kleine Risse aufgetreten, die sich ganz allmählich verbreitert hätten. Die Familie packte die Koffer, belud das Auto, nahm Abschied von ihrem Häuschen und trat die Heimreise nach Stuttgart an.

Asche und Stimme

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