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Einen Traum als Geschenk

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„Wie geht es ihrer Stimme?“, fragte Sarah Schneider.

„Mäßig, ich musste heute in der Redaktion viele Telefonate führen, das hat die Stimme angestrengt, sie ist kratzig und ich räuspere mich ständig.“ Fabian war müde, er hätte sich gerne zuhause in seinem Arbeitszimmer auf die Couch gelegt und Musik gehört, aber er hatte Logopädiestunde. Frau Schneider lächelte freundlich und sah ihm lange in die Augen.

„Sie sind müde, Herr Marz. Bitte legen sie sich hier auf die Behandlungsliege, wir beginnen mit der atemtherapeutischen Massage und dem Tönen. Ich singe ihnen verschiedene Tonfolgen vor, und sie singen mir einfach nach.“

Fabian legte sich auf den Rücken und schloss die Augen. „Wüüa-Wümm, Wüüa-Wamm, Mjam-Mjam-Mjamm, Wüüüü“, sang Frau Schneider. Zwischen den einzelnen Tonfolgen machte sie Pausen, damit Fabian den Gesang wiederholen konnte. Frau Schneider massierte dabei sein Zwerchfell und triggerte kraftvoll seine Nackenmuskulatur.

„Das ist ein fieser Punkt, tut es hier weh?“, fragte sie. Es tat höllisch weh. Sie fand sein rechtes Schulterblatt, das seit einigen Tagen verspannt war und bearbeitete es, nichts entging ihr. Die Behandlung dauerte wohl zwanzig Minuten, andächtig lauschte Fabian dem Gesang seiner Therapeutin. Noch nie in seinem Leben hatte er eine solch schöne Stimme singen gehört, schon gar nicht so nahe an seinem Ohr. Kraftvoll klar, warm und unbeschreiblich melodiös sang Frau Schneider. Ihre zierliche Gestalt ließ eine solch voluminöse Stimme nicht vermuten. Er fühlte, wie sich tief in seinem Inneren Spannungen lösten, von deren Existenz er nichts gewusst hatte. Es war ihm, als würde seine Seele aus einem Käfig befreit.

„So, setzen sie sich langsam hin und lassen sie noch einige Atemzüge durchgehen“, bat Frau Schneider. Fabian setzte sich benommen auf die Behandlungsliege und ließ die Beine baumeln.

„Wie fühlen sie sich?“

„Ich fühle mich sehr leicht, und eben merke ich, dass die Stimme viel weniger kratzig ist als vorhin, auch muss ich nicht mehr räuspern.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ja, ich höre es. Wir machen jetzt noch Sprech- und Atemübungen, dazu habe ich ein Gedicht ausgewählt.“

Es war das Gedicht ‚Der Mann im Mond‘ von Mascha Kaléko. Frau Schneider sprach jeweils eine Zeile auswendig vor, er musste nachsprechen und zuvor ganz langsam tief einatmen. In diesem Gedicht geht es um Träume, die der Mann im Mond allnächtlich an Silberschnüren in die Abendbäume hängt. Seine Frau, die Mondfrau, spinnt diese Träume passend für verschiedenste Menschen. Am Ende des Gedichts bekommt der Leser einen Traum geschenkt.

http://www.schulzens.de/Grundschule/Allgemeines/Gedichte_3/gedichte_3.html

Fabian gefiel es. Er fühlte, wie eine künstlerische Saite in seinem Inneren leise zu schwingen begann. Ein schönes Gedicht konnte bei ihm eine starke Wirkung entfalten, ihn ganz persönlich ansprechen. In seiner Phantasie verschmolzen dann Poesie und Realität. Wie schön, Frau Schneider schenkte ihm mittels eines Gedichts einen handgesponnenen Traum. Er war hier in einer wundersamen, wunderbaren Welt. Voll Heiterkeit und dem Nachhall schöner Töne in seinem Inneren trat er den Heimweg an.

Asche und Stimme

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