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Treffpunkt netter Menschen
ОглавлениеDen ganzen Nachmittag freute sich Fabian auf ein geselliges Beisammensein. Seine beruflichen Verpflichtungen und die familiäre Situation gestatteten dem Ehepaar nur selten, abends auszugehen. Auf dem Weg zum Gemeinschaftshaus des Feriendorfs überlegte er sich, ob Bier oder eher Weißweinschorle die richtige Getränkewahl wäre. Herrlich waren Probleme, die so ein Urlaub mit sich brachte. Ernüchterung machte sich breit, als er die Cafeteria betrat. Die Barhocker an der Theke und fast alle Tische waren unbesetzt. An einem Tisch saßen drei Feriendorfgäste und lasen Zeitung.
„Ist das der Treffpunkt netter Menschen?“, fragte er etwas verunsichert in die Runde.
„Hmmh, ja – wir fangen gleich an“, antwortete eine der Zeitungsleserinnen, wobei sie kaum von ihrer Lektüre aufblickte.
„Na ja, ihr habt wirklich eine Bombenstimmung hier“, murmelte Fabian ironisch vor sich hin und überlegte im selben Moment, sich vom Treffpunkt netter Menschen diskret zurück zu ziehen.
„Ich heiße Johanna“, stellte sich eine der Zeitungsleserinnen vor und faltete das Journal, in dem sie gelesen hatte, zusammen. Sie mochte etwa Mitte vierzig sein, hatte ein freundliches Gesicht, kluge, blitzende Augen und dunkelblonde Haare, in die sich erste silberweiße Strähnen mischten.
Die anderen legten ihre Lektüre ebenfalls beiseite und stellten sich vor. Inga und Frank waren ihre Namen. Die drei waren Freunde, kamen aus Norddeutschland und verbrachten mit ihren Familien die Sommerferien auf der Schwäbischen Alb.
„Wir spielen TAC und würden uns freuen, wenn du mitspielst, uns fehlt der vierte Mann“, lud Johanna ihn zum Spiel ein.
„Was ist TAC?“, fragte Fabian.
Inga erklärte ihm das Spiel. TAC ist ein Brettspiel, das man als Mischung aus „Mensch ärgere Dich nicht“ und Kartenspiel bezeichnen könnte. Der Name TAC steht für das englische Wort „Tactic“. Ziel ist es, als erster die eigenen Spielkugeln in die Scheune zu bringen. Anstatt zu würfeln erfolgen die Spielzüge mit Hilfe von Spielkarten. Je zwei Spieler bilden ein Team. Die Teammitglieder dürfen Spielkarten miteinander tauschen und sie unterstützen sich im Spielablauf gegenseitig.
Fabian verspürte wenig Lust, ein neues Spiel zu lernen. Er hatte sich den Abend eher an der Bar bei anregenden Gesprächen vorgestellt, aber nun gab es kein Zurück, die „netten Menschen“ konnten nur spielen, wenn er mitmachte. Das Spiel begann, Johanna und Fabian bildete ein Team, er fand sich rasch in die Regeln ein, es war turbulent und bereitete ihm Freude. Sie bestellten sich Bier und Eis an der Bar, zwischendurch gaben die Spieler wechselseitig Gummibärchen-Runden und saures Brausepulver aus. Triumph und Tragödie jagten einander in rascher Folge. Fabian und Johanna verspürten sofort gegenseitige Sympathie, vermochten sich mit Blicken zu verständigen, obwohl sie sich noch nie zuvor begegnet waren. Mit den Worten „ich kann“ oder „ich kann nicht“, gab man bekannt, ob man eine Startkarte besaß, die die eigene Kugel dazu berechtigte, das Spielfeld zu betreten. Die Ansage erfolgte immer dann, wenn neue Spielkarten ausgegeben wurden. Neue Karten wurden ausgeteilt, Fabian vergaß mitzuteilen, ob er eine Startkarte gezogen hatte.
„Kannst du?“, fragte Johanna und lächelte ihn dabei freundlich an.
„Ähem, Johanna … findest du deine Frage nicht ein wenig indiskret?“, bemerkte Frank doppeldeutig.
Alle am Tisch johlten, weitere nette Menschen, die zwischenzeitlich den Raum füllten und an anderen Tischen spielten, wandten sich zu ihnen um. Die Spielgemeinschaft benahm sich ausgelassen wie Schüler auf einer Klassenfahrt mit heimlich eingepacktem Wodka, der nun seine volle Wirkung entfaltete. Erst lange nach Mitternacht war das Spiel zu Ende, die Runde blieb zusammen bis alle Süßigkeiten gegessen waren. Fabian kam es vor, als kenne er seine Mitspieler schon seit zwanzig Jahren.
Die Zeiten hatten sich geändert, häufig wechselten die Menschen ihre Arbeitsplätze und Wohnorte, Freundschaften und Kontaktpflege waren flüchtiger als zu seiner Jugendzeit. Zwischenmenschliche Beziehungen entstanden zu einem Gutteil in den sozialen Netzwerken des Internets und wurden dort auch gelebt. Ein persönliches Kennenlernen wie an diesem Abend war zu etwas Besonderem geworden.
Er hatte viele Bekannte und Kollegen, mit denen er sich gut verstand und eine Hand voll echter, langjähriger Freunde. Im Laufe der Jahre waren sie an entfernte Orte gezogen, hatten Familien gegründet und mit ihren eigenen Problemen zu tun. Man blieb in Kontakt, sah sich aber selten. Seine Freiheitsgrade waren im Laufe der Jahre weniger geworden. Selten ging er aus, familiäre und berufliche Verpflichtungen, überhaupt Zeitmangel, hatten die Möglichkeiten eingeschränkt, Kontakte zu pflegen und neue Freunde zu finden. Gelegentlich fühlte er sich einsam, ein Gefühl, das er früher nicht gekannt hatte.
Echte, tiefe Freundschaft und gemeinsam verbrachte Zeit mit Freunden waren ihm kostbar geworden. Es waren Glücksmomente, wenn sich fremde Menschen trotz der digitalen Durchdringung des Lebens an einem Tisch wie diesem trafen, einander näherkamen und zusammen fröhlich und glücklich sein konnten. War es möglich, dass die Menschen mehr und mehr die Fähigkeit zu solchen Begegnungen verloren? Ihm war es, als hätte ihn die Spielrunde auf einen Schlag von allem Schweren, aus aller latent empfundenen Isolation der vergangenen Jahre befreit. Lange war es her, dass er solch glückliche Leichtigkeit verspürt hatte.
Die Nacht war mondlos, das Gelände unbeleuchtet. Er hatte Mühe, den Rückweg ins Ferienhäuschen zu finden. Ab und zu blieb er stehen und betrachtete den lebhaft funkelnden Sternenhimmel. Abseits des Streulichts der Städte waren der Große Wagen, der Polarstern und das Band der Milchstraße in seltener Klarheit zu erkennen. Schon häufig hatte er in mondlosen Nächten den Sternenhimmel betrachtet, aber irgendetwas schien heute anders zu sein, eine merkwürdige Unruhe ging vom Himmel aus. Es dauerte einige Zeit, bis Fabian wahrnahm, dass die Unruhe nicht vom Himmel ausging, sondern von einem Geräusch. Ein sehr tiefer, bedrohlicher Brummton lag in der Luft. Der Ton erinnerte an das Brummen eines Transformators, nur war er tiefer und weniger gleichmäßig. Das Geräusch war nicht laut, aber deutlich wahrnehmbar und schien von etwas sehr Großem auszugehen. Voluminös und unheimlich zugleich war dieser Ton. Fabian konnte nicht feststellen, aus welcher Richtung das Brummen kam. Das Geräusch umhüllte ihn, kam von überall her. Lag es am Alkohol, den er getrunken hatte oder waren es gar die Vorboten eines Hörsturzes? Er fröstelte und tastete sich zurück ins Ferienhäuschen. Conny war im Wohnzimmer auf dem Sofa über einem Buch eingeschlafen, ihre gekrümmte Körperhaltung ließ Rückenschmerzen am nächsten Morgen befürchten, Fabian entschloss sich, seine Frau zu wecken. Conny gähnte, sie öffnete die Verandatür, um das Zimmer zu lüften. Gemeinsam traten sie auf den Balkon und betrachteten den sternenklaren Nachthimmel. Der Brummton war noch immer deutlich hörbar.
„Hörst du das auch?“, fragte Fabian. Conny hörte das Brummen ebenfalls, fand es unheimlich. Noch im Bett lauschten beide dem ominösen Ton, bis der Schlaf sie überkam. Am Morgen war das Geräusch verschwunden. Nach dem Frühstück suchte Conny mit ihrem Smartphone im Internet nach Informationen. „Tieffrequenter Brummton im Südwesten scheint lauter zu werden und wird von immer mehr Menschen gehört“, las sie aus einem wenige Tage alten Artikel der Stuttgarter Zeitung vor. Die Zeitung berichtete, dass seit einigen Jahren eine zunehmende Zahl von Menschen vor allem bei Nacht einen deutlichen Brummton hörte, der sie um ihren Schlaf brachte. Menschen, die die Fähigkeit besaßen, sehr tiefe Töne zu hören, mussten unter dem Geräusch besonders leiden. Bewohner der Region Stuttgart, einige Gebiete des Schwarzwaldes und die Schwäbische Alb waren durch das nächtliche Brummen besonders häufig beeinträchtigt. Messungen von Umweltbehörden hatten ergeben, dass es den tiefen Brummton tatsächlich gab, auch tagsüber, nur wurde er dann meist durch andere Geräuschen überdeckt. Der Brummton war in den vergangenen Monaten merklich lauter geworden, immer mehr Menschen hörten ihn und wandten sich hilfesuchend an die Behörden. Im Internet hatten sich mehrere Selbsthilfegruppen organisiert, um den Ursachen nachzugehen. Ergebnislos hatten die Behörden Kraftwerke, Fabriken, Gasleitungen, den Stuttgarter Flughafen, Eisenbahnstrecken und den unterirdischen Bahnhof von Stuttgart 21 als mögliche Geräuschquellen untersucht.
„Man könnte meinen, dass die Erde Magenknurren hat, die Frage ist nur, wen sie fressen möchte“, amüsierte sich Conny. „Wir trinken heute vor dem Schlafengehen eine Flasche Merlot, das vertreibt den Brummton“, entschied sie, „und wenn das nicht hilft, werde ich mich mit Endlos-Meeresrauschen aus dem Kopfhörer in den Schlaf wiegen lassen.“
Conny ahnte nicht, dass ihre scherzhaften Äußerungen Realität werden sollten. In den kommenden Nächten zog der Brummton bedrohlich herauf, sobald die Tagesgeräusche im Feriendorf der nächtlichen Stille wichen.