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In den Urlaub

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Dr. Fabian Marz atmete tief durch, endlich hatte er Urlaub. Der Stuttgarter Talkessel lag hinter ihm, zügig ging es voran, nur wenige Fahrzeuge waren am späten Vormittag auf der B 27 unterwegs. Seine Gedanken kreisten, waren noch bei der Arbeit, erst vor wenigen Minuten hatte er das Büro verlassen. Langsam drückte er das Gaspedal nach unten, mit zunehmender Geschwindigkeit schien sich die Anspannung der vergangenen Wochen allmählich zu lösen. Er fuhr gerne selbst, den Autopilot benutzte er nur selten. Zügig ging die Fahrt nach Süden, am Horizont tauchten bläulich schimmernd die Berge der Schwäbischen Alb auf. Neben ihm saß seine Frau Conny, hinten dösten Sophia und Niklas in ihren Kindersitzen. Die Gedanken schweiften zurück in die Vergangenheit. Fünf Jahre war es nun her, dass er seine Anstellung als Geologe bei einem internationalen Öl- und Bergbaukonzern aufgegeben hatte, weil er Mitte 40 endlich sesshaft werden wollte und der monatelangen Arbeitsaufenthalte in Wüsten, Regenwäldern und arktischer Kälte überdrüssig geworden war. Die ersehnte Sesshaftigkeit im Häuschen am Stadtrand und ein geregeltes Familienleben waren nun der Preis für eine Arbeit, die aus endlosen Bürotagen und ständigem Zeitdruck zu bestehen schien. Er fühlte sich ausgelaugt, die zurückliegenden Monate waren anstrengend gewesen. Fabian hatte sich schon seit längerem eingestanden, dass er sich die Arbeit in der Wissenschaftsredaktion eines Stuttgarter Verlags einfacher vorgestellt hatte. Sein Einkommen war jedoch auskömmlich, das Haus musste abbezahlt werden, der weitere Lebensweg war also vorgezeichnet. Kurz vor Tübingen dachte er an seine frühere Arbeit, die ihn unter anderem auch nach Brasilien geführt hatte. Wehmütige Erinnerungen stellten sich ein. Technische Defekte an Bohrtürmen hatten damals gelegentlich für angenehme Arbeitsunterbrechungen gesorgt und ihm unverhofft freie Zeit beschert. Zeit zu lesen, Musik zu hören oder schriftstellerischen Neigungen nachzugehen, die er seit seiner Schulzeit immer wieder in sich gespürt hatte. Gerne hatte er Erlebtes in Form von Reimen und Kurzgeschichten verarbeitet und in Notizbüchern niedergeschrieben. Ausgerechnet die Arbeit in einem Verlag ließ ihm dazu keine Zeit mehr. Zeit war in seinem Leben ein knappes Gut geworden. Hörbar stieß er die Luft zwischen den Lippen hervor. Conny blickte fragend von ihrem Smartphone auf, er sagte nichts. Nun war Urlaub, er versuchte abzuschalten. Die Reise ging über Tübingen und Balingen auf die Schwäbische Alb, in ein Feriendorf am Rande der Ortschaft Tieringen. Vierzehn Tage heile Welt in einer wunderschönen Landschaft, er freute sich. Ein Schwimmbad gab es dort, schöne Wanderungen und Ausflüge in die Umgebung lockten. Für die Kinder gab es Ponyreiten, Streicheltiere, Spielplätze und Jungscharaktivitäten. Die Familie reiste bereits den vierten Sommer nach Tieringen, das Ferienhäuschen war ihnen bekannt. Ein wenig war ihm, als wäre er nach langer Abwesenheit auf dem Rückweg in die Heimat.

Sie fuhren jetzt durch das Neckartal. Vor ihnen tauchte Tübingen mit dem Österberg auf. Hier hatte er sein Geologiestudium begonnen und Conny kennen gelernt, es waren glückliche Jahre gewesen. Das Studium war ihm nicht nur Ausbildung, sondern auch eine wunderbare, unbeschwerte Lebensform gewesen. Damals war es möglich gewesen, sich selbst und Neues auszuprobieren, Fehler zu machen und daraus zu lernen. Bachelor- und Masterstudiengänge hatten viele dieser Freiheiten mittlerweile eingeschränkt. Es schien ihm, als verenge sich das Leben immer mehr, als werde jeder Lebensbereich von Nützlichkeitskriterien und Effizienzsteigerung bestimmt. Wo lagen die Grenzen dieser Entwicklung, wo und wann würde es nicht mehr so weitergehen? Würden seine Kinder im Erwachsenenalter noch ein gelingendes, erfülltes Leben führen können? Er fand keine Antworten auf diese Fragen, fühlte, dass sich sein Nacken verspannte. „Lass uns in Tübingen zum Neckarmüller fahren und etwas essen“, schlug er Conny vor. Seine Frau war begeistert und suchte mit ihrem Smartphone die Speisekarte des Gasthauses. Der Neckarmüller ist ein Brauereigasthaus mit großem Biergarten in der Tübinger Innenstadt direkt am Ufer des Neckars. Viele unvergesslich fröhliche Abende hatte er hier unter alten Kastanienbäumen zusammen mit seinen Kommilitonen verbracht.

„Unsere Tagesgerichte sind heute Schweizer Wurstsalat mit Bauernbrot aus dem Holzofen oder Salatteller mit Putenstreifen, angebraten in Sesam. Dazu empfehlen wir ein frisches Pils vom Fass“, las Conny vor.

Es war herrlich im Biergarten. Beide Kinder freuten sich an Pommes Frites und Hamburgern. Conny und Fabian hatten Flammkuchen bestellt, weil der Salatteller mit den Putenstreifen von der Tageskarte gestrichen worden war. Fabian empfand eine gewisse Genugtuung darüber. Auch die digitale Welt, die das Leben der Menschen weitgehend durchdringen und optimieren wollte, zeigte immer wieder Schwächen. Der Betriebsausflug einer Metzgerei und die kurzfristig ausgefallene Fleischlieferung hatten den Küchenchef kurzfristig genötigt, die Speisekarte umzustellen. Erinnerungen an wunderbar analoge Zeiten kamen in ihm hoch, in denen der Gastwirt sein Tagesgericht mit Kreide auf eine Schiefertafel geschrieben hatte, die neben der Eingangstür zum Restaurant hing.

Weiter ging die Fahrt Richtung Südwesten, Conny saß am Steuer. Conny, Anfang vierzig, war Hebamme. Sie hatte rotbraune Locken, grüne Augen und eine attraktive weibliche Figur. In ihrer Freizeit traf sie sich ab und zu mit Freundinnen zum Bauchtanz oder um entspannt Zigarre zu rauchen. Sie war eine humorvolle Frau, ihr heiteres Wesen tat Fabian gut, da er selbst gelegentlich zu Grübeleien neigte. Ein Witz oder eine Grimasse von ihr konnten ausreichen, um ihn wieder auf andere Gedanken zu bringen. Fabian genoss es, von ihr chauffiert zu werden, sie war eine gute Autofahrerin und überhaupt eine patente Frau.

Er blickte auf die vorbeiziehende Landschaft und den nicht enden wollenden Wald aus Bohrtürmen. Wie an vielen anderen Orten im Land wurde auch hier Fracking betrieben. Die jahrelangen Kriege im Nahen Osten, Russland und den U.S.A. hatten Mitte der 2020er Jahre die weltweite Ölförderung zum Erliegen gebracht. Deutschland war darauf angewiesen, den Energiebedarf durch Selbstversorgung zu decken. Beim Fracking werden öl- und gashaltige Gesteinsschichten angebohrt. Ein Gemisch aus Wasser, Sand und Chemikalien wird unter hohem Druck in die Bohrlöcher gepresst. Im Untergrund bilden sich dadurch weit verzweigte Risse. Öl und Gas, die im Gestein eingeschlossen sind, lösen sich mit Hilfe der Chemikalien und werden anschließend durch die Bohrlöcher an die Erdoberfläche gepumpt. Der Sand in der Frackingflüssigkeit verhindert, dass sich die Risse im Gestein wieder schließen. In weiten Teilen Baden-Württembergs befinden sich öl- und gashaltige Gesteinsschichten im Untergrund, die nun mit dieser Methode ausgebeutet wurden. Tausende Frackingbohrungen durchlöcherten den Untergrund wie einen Schweizer Käse. Fabian dachte wieder an seine Zeit in Brasilien. Damals steckte Fracking noch in den Kinderschuhen, aber innerhalb weniger Jahre hatten sich die technischen Möglichkeiten revolutionär verändert. Heute wurde keine Anstrengung gescheut, um die letzten Energiereserven auszubeuten. Wie Junkies waren die Menschen in den Industrienationen mehr als jemals zuvor abhängig von Öl und Gas. Er selbst war Verbraucher dieser Ressourcen und damit Teil dieses Systems. Die Möglichkeiten, sich davon unabhängig zu machen waren beschränkt und noch immer viel zu teuer. Bei der Stadt Balingen erreichten sie den Fuß der Schwäbischen Alb. Die Passstraße wand sich in engen Serpentinen bergauf. Conny spürte, dass Fabian grübelte und stellte das Autoradio an. “Route 66” in einer Coverversion von Depeche Mode wurde gespielt.

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Sie stellte das Radio laut und sang mit: “Well it winds from Chicago to L.A. more than two thousand miles all the way get your kicks on Route 66.“ Sportlich steuerte sie die Passstraße hinauf. Fabian schloss die Augen und träumte sich aus Raum, Zeit und Problemen. Er atmete ruhig, der Rhythmus der Musik und die Bewegungen des Fahrzeugs harmonierten perfekt, befreiten ihn von seinen Gedanken. Die Passhöhe war erreicht. Alles, was ihn belastet hatte, schien auf der Passstraße liegen geblieben zu sein. Conny nahm den Fuß vom Gas. Fabian öffnete die Augen, er fühlte sich leicht und wunderbar.

Wenige Minuten später waren sie am Ziel, vor dem roten Ferienhäuschen stieg die Familie aus dem Wagen. Überall duftete es nach Wald, Wiese und Freiheit. Die Tage im Feriendorf waren heiter und erholsam. Wanderungen, Hallenbadbesuche, Lagerfeuerromantik und nette Kontakte zu anderen Familien wechselten einander ab. Abstand vom Alltag und Linderung körperlicher Beschwerden stellten sich ein. Schon seit längerem hatte Fabian Probleme mit seiner Stimme. Endlose Telefonate und Besprechungen in der Redaktion hatten zu einer chronischen Überlastung des Stimmapparats geführt. Seine Stimme klang rau und brüchig, häufig verspürte er einen Reiz sich zu räuspern, gerade so als hätte er einen Fremdkörper in den Bronchien. Dr. Glückmann, sein langjähriger Hausarzt, hatte ihn zum Logopäden überwiesen, nach dem Urlaub würde er sich einen Therapeuten suchen und in Behandlung begeben.

„Heute ist um 19:30 Uhr Treffpunkt netter Menschen in der Cafeteria des Gemeinschaftshauses“, las Conny nach dem Mittagessen aus dem Tagesprogramm des Feriendorfs vor. Sie warfen eine Münze, das Los fiel auf Fabian. Er würde den Treffpunkt besuchen, Conny bei den Kindern im Ferienhäuschen bleiben.

Asche und Stimme

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