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SatzSatz

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Wozu braucht man in einem Buch zum Nominalstil ein Begriffsverständnis von ‚Satz‘? In diesem Studienbuch wird ‚Nominalstil‘ als Komplementärkomplementärbegriff zu ‚VerbalstilVerbalstil‘ ausgearbeitet. Das bedeutet, dass die Funktionsweise des Nominalstils systematisch mit der Funktionsweise des Verbalstils verglichen wird. Zentrale Frage ist dabei, was eigentlich die Konsequenzen sind, wenn eine Information, die auch in verbalstilistischer Form ausgedrückt werden könnte, nominalstilistisch kodiert wird. Da sich der Verbalstil in der Domäne Satz entfaltet, benötigen wir als Basis für den angestrebten systematischen Vergleich ein Verständnis von ‚Satz‘.

Diskurs: Verschiedene Perspektiven auf den Satzbegriff

Es ist naheliegend, dass es eine besondere Herausforderung darstellt, ein für die Grammatik so zentrales Konzept wie ‚SatzSatz‘ zu bestimmen. Laut Müller (1985), der sich in einer Monographie mit dem definitorischen Problem des ‚Satz‘ auseinandergesetzt hat, waren bereits in den dreißiger Jahren über 200 Satzdefinitionen bekannt. Die Anzahl ist seitdem natürlich stetig weiter gestiegen. Das ist kein Wunder, denn, so begründet Müller seine Auseinandersetzung mit dem Satzbegriff im Vorwort seiner Monographie: „Es zeigte sich dann indessen bald, dass im Grunde jede sprachtheoretische und jede über das Morphemniveau hinausgehende linguistische Probemstellung direkt oder indirekt zurückweist auf die Frage nach der Identität des Satzes – und dass gerade diese Frage noch immer einer Lösung harrt.“ Müller selbst definiert den Satz wie folgt: „Der Satz ist ein Zeichen, dessen signifiant signifiantdurch seine komplexe Struktur genau einen illokutiven Anspruch völlig signalisiert.“ (Müller 1985: 150)

Dabei kann man nicht behaupten, dass Müller die Frage ein für allemal gelöst hätte. Vielmehr lässt sich in Bezug auf ‚Satz‘ besonders gut Saussures Gesichtspunkt-Gegenstand-Theorem nachvollziehen: „vielmehr ist es der Gesichtspunkt, der das Objekt Objekterschafft“ (Saussure 1916: 9). Jede Syntaxtheorie hat ihren eigenen Satzbegriff; aber auch im Allgemeinen werden für unterschiedliche linguistische Zwecke unterschiedliche Satzbegriffe benötigt. An Müllers Satzdefinition können wir nachvollziehen, was mit ‚Gesichtspunkt‘ bei Saussure gemeint sein könnte. So vereint diese Definition insgesamt drei Perspektiven auf den Satzbegriff: Mit signifiant verweist Müller auf ein zeichentheoretisches Verständnis; mit komplexe Struktur auf seine formale Gestalt und mit illokutivem Anspruch auf den pragmatischen pragmatischKontext seiner Verwendung. Damit sind zweifelsohne wesentliche Aspekte eines Satzes erfasst. Dennoch hängt die Verwendbarkeit einer Satzdefinition von ihrem Verwendungskontext ab, sodass sich die Frage stellt, ob es überhaupt ein realistisches Ziel ist, das Definitionsproblem lösen zu wollen.

Wir werden hier die Grundidee weiter verfolgen, dass ein Satz eine Form- und eine Inhaltsseite hat. Für die Bestimmung der Formseite reicht allerdings der allgemeine Hinweis auf eine „komplexe Struktur“ nicht aus. In Grammatiken des Gegenwartsdeutschen wird die Formseite meist über ‚PrädikatPrädikat/finites VerbVerbfinit‘ und ‚VerbvalenzVerbvalenz‘ bestimmt: „Ein Satz ist eine Einheit, die aus einem Prädikat mit einem finiten Verb und den zugehörigen Ergänzungen Ergänzungund Angaben Angabebesteht.“ (Dudengrammatik 2016: 776) „Sätze sind übergreifende Konstruktionsformen, die mindestens aus einem finiten Verb und dessen – unter strukturellen und kontextuellen Gesichtspunkten – notwendigen Komplementen bestehen.“ (IdS-Grammatik 1997: 91) Eine solche Herangehensweise ist dann hilfreich, wenn man den Satzbegriff operationalisieren will, d.h., wenn man aus einer Satzdefinition Kriterien für die Identifikation von Sätzen in natürlichsprachlichen Texten ableiten will. Dass das alles andere als trivial ist, zeigen die Unterschiede in den beiden Definitionen: In der IdS-Grammatik-Definition ist nur vom finiten Verb die Rede, in der Dudengrammatikdefinition vom Prädikat mit finitem Verb. Dabei ist es eigentlich nur das Vollverb Vollverb(das nicht das finite Verb sein muss), das über eine Valenzpotenz Valenzpotenzverfügt. Darüber hinaus ist offensichtlich, dass die auf den ersten Blick so eindeutig erscheinenden Definitionen eigentlich eine komplette Valenztheorie Valenztheoriemit genauen Bestimmungen zur Unterscheidung von Ergänzungen (Komplementen) und Angaben (SupplementenSupplement) voraussetzen. Vor diesem Hintergrund mag sich die Frage ergeben, ob es nicht am einfachsten ist, den Satz orthographisch orthographischals durch Satzschlusszeichen Satzschlusszeichenabgeschlossene Einheit zu bestimmen. Das ist für grammatische Analysen keine zufriedenstellende Lösung, weil in Abhängigkeit von der Äußerungsabsicht nicht jeder grammatische Satz mit einem Satzschlusszeichen abgeschlossen wird (vgl. Ágel 2017: 120).

Der Tatsache, dass es wegen der Multiperspektivik auf den Satzbegriff schwierig ist, den Satz in einer eindimensionalen Definition zu bestimmen, tragen die Autoren der Dudengrammatik und der IdS-Grammatik wie folgt Rechnung: In der Dudengrammatik werden der bereits zitierten Definition zwei weitere Definitionen gegenübergestellt. Eine dieser Definitionen hebt auf die pragmatisch-funktionale Perspektive ab: „Ein Satz ist die kleinste Einheit, mit der eine sprachliche Handlung vollzogen werden kann.“ (2016: 777) In der IdS-Grammatik ist die funktionale Perspektive nicht Gegenstand der Satzdefinition, sondern Bestandteil der Bestimmung des übergeordneten Begriffs der ‚kommunikativen Minimaleinheit‘. In der IdS-Grammatik ist ein Satz ebenso eine kommunikative Minimaleinheit kommunikative Minimaleinheitwie auch eine EllipseEllipse. Folglich gelten die Definitionskriterien der kommunikativen Minimaleinheit auch für den Satz. Sie lauten: „Kommunikative Minimaleinheiten sind die kleinsten sprachlichen Einheiten, mit denen sprachliche Handlungen vollzogen werden können. Sie verfügen über ein illokutives Potential und einen propositionalen GehaltGehalt, propositional.“ (IdS-Grammatik 1997: 91) Zum pragmatischen pragmatischBegriff der Illokution Illokutionkommt hier also noch der satzsemantische SatzsemantikBegriff der Proposition Propositionhinzu.

Der umfangreichen Diskussion zum Satzbegriff können wir entnehmen, dass wir nicht davon ausgehen können, dass es möglich ist, eine allgemeingültige Satzdefinition vorzulegen. Eine Begriffsbestimmung kann folglich nur jeweils mit Bezug auf den angestrebten Verwendungskontext der Satzdefinition erfolgen. Ich denke, es ist bereits klar geworden, was eine Satzdefinition in diesem Studienbuch in erster Linie leisten muss: Sie muss eine Vergleichbarkeit von Verbalstil Verbalstilund Nominalstil Nominalstilgewährleisten. Das bedeutet:

1 Das Satzverständnis muss eine funktionale Perspektive aufweisen, damit die Annahme einer Vergleichbarkeit der Domäne Satz mit der Domäne Nominalgruppe begründet werden kann. Deshalb werden wir dem Satzinhalt Satzinhalteinen eigenen Abschnitt zur Begriffsbestimmung widmen.

2 Das Satzverständnis muss eine formale Perspektive aufweisen, die so gestaltet ist, dass Sätze in natürlichsprachlichen Texten identifizierbar sind, damit auch quantifizierbare Aussagen möglich werden wie etwa „Der nominalstilische Text enthält kürzere Sätze als der verbalstilististische Vergleichstext“.

Die unter 2. beschriebene Herausforderung soll nun an einem Beispiel illustriert werden:

(9) Am Morgen blieb der alte Mann lange im Bild liegen, um neun läutete das Fotoalbum, der Mann stand auf und stellte sich auf den Schrank, damit er nicht an die Füße fror, dann nahm er seine Kleider aus der Zeitung, zog sich an, schaute in den Stuhl an der Wand, setzte sich dann auf den Wecker an den Teppich, und blätterte den Spiegel durch, bis er den Tisch seiner Mutter fand. (Peter Bichsel [1995]: Ein Tisch ist ein Tisch)

Das Beispiel enthält genau einen orthographischen SatzSatzorthographisch, denn es hat genau ein SatzschlusszeichenSatzschlusszeichen. Dabei könnte man sicherlich mehrere Punkte setzen (beispielsweise nach liegen oder nach Fotoalbum), was darauf hindeutet, dass wir es mit mehreren grammatischen Sätzen Satzgrammatischzu tun haben. Doch wie viele sind es genau? Das hängt davon ab, was man als Kriterium festlegt. Wir haben hier also (mindestens) die folgenden Möglichkeiten:

1 Man geht vom Finitum Finitumaus und betrachtet als Sätze Einheiten mit einem finiten Prädikat Prädikatund seinen Ergänzungen Ergänzungunabhängig davon, ob es sich um Einfachsätze, HauptsätzeHauptsatz, Nebensätze Nebensatzoder Koordinationsellipsen handelt. Der orthographische Satz Satzorthographischenthält dann 11 grammatische SätzeSatzgrammatisch.

2 Man betrachtet Satzgefüge Satzgefüge(bspw. stellte sich auf den Schrank, damit er nicht an die Füße fror) als jeweils einen Satz. Die Anzahl der Sätze reduziert sich dann auf 9.

3 Man betrachtet die Koordinationsellipsen (bspw. […] und stellte sich auf den Schrank) nicht als Sätze. Man könnte dann je nach Umgang mit 1. und 2. von 6 oder 4 Sätzen und 5 Koordinationsellipsen sprechen.

Wie gesagt hängt die Entscheidung darüber, welches Kriterium als wichtig angesehen wird, immer von der vorgesehenen Verwendung des Begriffs ab. Für unsere Zwecke ist die Diskussion um Koordinationsellipsen nicht zentral. Für den Vergleich von Verbalstil Verbalstilund Nominalstil Nominalstilist das Vollverb Vollverbdie zentrale Größe im SatzSatz, denn es kann Gegenstand einer Überführung von Verbalstil in Nominalstil sein (NominalisierungNominalisierung). Sein Vorhandensein ist deshalb für unsere Zwecke die wichtigste Bedingung für die Annahme eines Satzes. Die Satzhaftigkeit wird in dieser Hinsicht nicht durch das Vorliegen einer KoordinationKoordinationsellipse Koordinationsellipseeingeschränkt; ohnehin ist die koordinationselliptische Konstituente Konstituenteim syntaktischen Kontext vorhanden. In Bezug auf den Vergleich der Möglichkeiten 1 und 2 ist anzumerken, dass Nebensätze Nebensatzsich in der Regel in die Satzgliedstruktur des Satzgefüges Satzgefügeeingliedern. Ich lege mich deshalb hier auf Möglichkeit 2 fest.

Satz Satz

Ein SATZ ist eine selbstständige syntaktische Einheit, die über einen Satzinhalt Satzinhaltund eine prototypischePrototyp lineareLinearstruktur und hierarchische Struktur Struktur, hierarchischeverfügt. Die hierarchische Struktur ist dadurch gekennzeichnet, dass das Vollverb Vollverbauf der Basis seiner Valenzpotenz Valenzpotenzbestimmte Ergänzungen Ergänzungverlangt. Der Satz kann darüber hinaus auch nicht valenzgebundene valenzgebundenAngaben Angabeenthalten. Da Ergänzungen und Angaben (= SatzgliederSatzglied) auch in Form eines Nebensatzes realisiert werden können, gilt nach diesem Verständnis auch ein Satzgefüge Satzgefügeals Satz.

Die Definition verweist u.a. auf die prototypische Prototyplineare linearund hierarchische Struktur. Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass wir auch bei der Begriffsbestimmung von ‚Attribut‘ auf Prototypik zurückgegriffen haben. Unter einem Prototyp versteht man in der Linguistik den besten Vertreter einer Klasse. Mit dem Hinweis auf ein prototypisches Verständnis gibt man an, dass man mit einer Begriffsbestimmung nicht den Anspruch erhebt, das gesamte Spektrum des Begriffsfelds zu erfassen. Man kann das als eine Verlegenheitslösung betrachten; der Vorteil besteht aus meiner Sicht darin, dass diese Strategie es ermöglicht, einen Kernbereich eines Begriffs in den Blick zu nehmen. In diesem Sinne könnten wir die diskutierten Koordinationsellipsen beispielsweise als Abweichung vom Prototyp beschreiben, wir schließen sie dadurch aber nicht aus der Begriffsbestimmung aus.

Die Definition enthält auch einen Hinweis auf die Linearstruktur Linearstrukturdes Satzes. Sie ist m.E. konstitutiv für das Satzverständnis, da das reine Vorhandensein eines Vollverbs Vollverbund seiner Ergänzungen Ergänzungnoch nicht automatisch zu einem grammatischen Satz führt (bspw. der Mutter Rosen der Junge schenkt). Die Linearstruktur wird in der Germanistik gewinnbringend mit dem sogenannten Felderstrukturmodell Felderstrukturmodellbeschrieben. Dieses muss hier aber nicht ausführlicher dargestellt werden, weil für den Vergleich von Verbalstil Verbalstilund Nominalstil Nominalstildie hierarchische hierarchischSatzstruktur Satzstrukturvon zentralem Interesse ist.

Die Definition enthält darüber hinaus keine Anhaltspunkte dazu, was mit ‚Satzinhalt‘ gemeint ist. Diesem Bereich wird nun ein eigener Abschnitt gewidmet.

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