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Nominal + Stil

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Für eine erste Annäherung an den Begriff des Nominalstils erscheint es sinnvoll, gängige sprachwissenschaftliche Lexika zu Rate zu ziehen. Im „Metzler Lexikon Sprache“ sowie in Bußmanns „Lexikon der Sprachwissenschaft“ finden wir die folgenden Angaben:

Nominalstil Nominalstil(auch: Substantivstil) Kein Terminus; ungenaue Bez. für die stilist. Charakterisierung von Sach- und Fachprosa in Technik, Wiss., Recht, Verwaltung (Fachsprache) und Presseveröffentlichungen nach dem Merkmal des Auftretens komprimierter komprimiertSätze, die einer ökonom. und rationellen Kommunikation dienlicher erscheinen, obwohl sie das Verstehen u.U. erschweren; Amtssprache. Der N. ist gekennzeichnet durch Nominalisierungen, FunktionsverbgefügeFunktionsverbgefüge, die Häufung von (SubstantivSubstantiv-) Komposita Kompositum(z.B. Rückerstattungsmöglichkeitsausschluss), erweiterte Attribute (z.B. der ehemals in Paris tätige Botschafter). Komplexe Sätze und subordinierte Attributhäufungen werden durch den N. in komprimierte Konstruktionen verwandelt (z.B. Die Inkraftsetzung der Maßnahme des Bundesamtes für Verkehrssicherung zur begleitenden Förderung des Ausschusses des Bundesrates zwecks Sicherstellung eines unfalltotenfreien Schulanfangs) und können durch Paraphrasen verständlicher gemacht werden. – Der N. ist beliebtes Objekt von Sprachpflege und Sprachkritik und der normativen Stilistik. (Glück/Rödel 2016: 467)

NominalstilNominalstil. Bezeichnung eines Stils, dessen grammatisches Hauptmerkmal der häufige Gebrauch abstrakter Substantive Substantivist. An die Stelle von selbstständigen oder untergeordneten Sätzen mit einem finiten Verb Verbfinittreten nominale Satzglieder Satzgliedmit einer Nominalisierung Nominalisierungals KernKern: Das Scheitern der Gespräche war erwartet worden statt Es war erwartet worden, dass die Gespräche scheiterten. Dem abstrakten Substantiv können weitere Informationsteile angegliedert werden, z. B. als Adjektivattribute Adjektivattribut(widerwillige elterliche Zustimmung statt Die Eltern stimmen widerwillig zu), Genitivattribute Genitivattributmit mehrfacher Subordinierung (die Zustimmung der Mitglieder des Vorstands der Reederei), erweiterte Partizipialattribute Partizipialattributerweitert(die damals vom Vorstand beschlossene Erklärung) oder als Kompositionsglieder (Verkehrsberuhigungsmaßnahme). Von Sprachpflege und normativer Stilistik wurde der N. oft als „Papierstil“ oder „Hauptwörterseuche“ kritisiert, doch empfiehlt sich unter funktionalem Aspekt ein differenzierteres Urteil: Syntaktisch-morphologische Verdichtung und das Implizitbleiben der semantischen Beziehungen (Anklage des Ministers, Gesetzesvorlage) erschweren zwar die Verständlichkeit, doch ermöglicht der Nominalstil konzentrierte Informationsvermittlung, abstrahierende Begriffsbildung (vgl. Verantwortlichkeit, Rechtsmittelbelehrung) und mit dem Funktionsverbgefüge Funktionsverbgefügesystematische semantische Differenzierungen des Aspekts. Der N. ist daher ein funktional durchaus angemessener Stilzug informationsvermittelnder Textsorten, besonders in den Fachsprachen von Technik, Wissenschaft und Verwaltung. (Bußmann 2002: 472)

Diesen beiden Begriffsbestimmungen können wir zunächst entnehmen, dass es sich bei ‚NominalstilNominalstil‘ um ein vielschichtiges Konzept handelt:

 Es handelt sich um einen ‚StilStil‘: Das deutet erstens, wie das Metzler Lexikon sagt, darauf hin, dass es kein Terminus im engeren Sinne ist. ‚Stil‘ bedeutet zweitens immer, dass wir es mit Wahlmöglichkeiten innerhalb eines Systems zu tun haben.

 Im Sinne von Wahlmöglichkeiten steht das Credo „SubstantiveSubstantiv (resp. Nomen) statt VerbVerben“ im Mittelpunkt des Konzepts; offenbar geht es darum, dass wir in Kontexten, in denen wir auch Verben verwenden könnten, auf Substantive bzw. Nomen zurückgreifen.

 ‚NominalstilNominalstil‘ ist Gegenstand der Sprachkritik: Nominalstil wird häufig kritisch diskutiert; einschlägige Ratgeber zielen deshalb auf „VerbVerben statt SubstantiveSubstantiv“ ab.

 Von der Wahlmöglichkeit des Nominalstils wird nur in bestimmten kommunikativen DomäneDomänekommunikativn Gebrauch gemacht, offenbar vor allem in Fach- und Wissenschaftssprache, juristischer Sprache und Behördensprache. Gemeint sind damit zweifelsohne die geschriebensprachlichen Ausprägungen dieser Kommunikationsbereiche. Nominalstil Nominalstilist folglich kein Phänomen der Alltagskommunikation und der gesprochenen Sprache.

 Nominalstil Nominalstilist kein Selbstzweck, sondern hat in den genannten kommunikativen DomäneDomänekommunikativn eine funktionale Dimension: Die damit verbundene komprimierte komprimiertSyntax wird mit einem Ökonomiegebot in Verbindung gebracht.

 Die schreiberseitige Wahl eines nominalen Stils hat Auswirkungen auf die RezeptionRezeption: Ökonomie führt offenbar nicht zu Einfachheit, sondern die komprimierte komprimiertSyntax erschwert das Verstehen. Zumindest aus dieser Perspektive haben wir es also auch mit Komplexität Komplexitätzu tun.

Vor diesem Hintergrund müssen wir zunächst eine Eingrenzung vornehmen: Das vorliegende Studienbuch behandelt nicht alle hier genannten Perspektiven auf das Konzept des Nominalstils. Insbesondere verzichtet es auf eine systematische Berücksichtigung textlinguistischer Fragestellungen. Das bedeutet: Auf Textbeispiele greifen wir zurück, beschäftigen uns aber nicht dezidiert mit der Frage, inwieweit Nominalstil zur Textprofilbildung in solchen Kommunikationsbereichen beiträgt, wie sie in den beiden Begriffsbestimmungen genannt werden.

Der Schwerpunkt des Studienbuches liegt vielmehr auf der grammatischen Dimension des Nominalstils. Das führt zunächst zu der Frage: Was ist eigentlich Stil Stilund wie passen ‚Nominal-‘ und ‚-stil‘ zusammen? ‚Nominal‘ ist ja ein grammatisches Phänomen, wie passt das zu ‚Stil‘?

Diskurs: Stilbegriff

‚StilStil‘ ist ein viel gebrauchter und schwer zu fassender Begriff. Bußmann definiert ‚Stil‘ zunächst einfach als „charakteristische[n] Sprachgebrauch“ (2002: 651). Sie weist darauf hin, dass der Begriff im Deutschen zunächst „für die individuelle, als Ausdruck der Person geltende Schreibweise eines Autors“ verwendet wurde (vgl. auch die Ausführungen von Eroms zu Epochenstil und Individualstil 2014: 17f.), später dann „als neutraler Begriff für „Art und Weise, wie man schreibt“ (ebd.). Den Zusammenhang von Stil und „Schreibart“ erklärt Köller damit, dass der „Terminus Stil […] auf das lateinische Wort stilus zurück[geht], mit dem ursprünglich der Griffel für die Beschriftung von Wachstafeln bezeichnet worden ist“ (2009: 1213). Die Stilistik war ursprünglich eine Teildisziplin der Rhetorik (vgl. Eroms 2014: 13). Der Terminus ‚Stil‘ ist verschiedenen funktionalen Anwendungsfeldern von Sprache zugänglich, man spricht diesbezüglich von „Funktionalstilen“ (vgl. Eroms 2014: 111ff.; Hoffmann 2007). Eroms unterscheidet in diesem Kontext Alltagssprachstil, Gebrauchssprachstil und Kunstsprachstil. Innerhalb der Funktionalstile kann Stil in verschiedenen Textsorten variieren. Stil hat also auch eine textlinguistische Dimension. Grundlegende Zusammenhänge zwischen Stil und Text bringen Fix/Poethe/Yos wie folgt auf den Punkt (2003: 27):

„- Stil ist Information des Produzenten an den Rezipienten über die dem Text zugrunde liegende Situation.

- Stil ist auch immer Selbstdarstellung des Textproduzenten.“

Die Tatsache, dass ein Textproduzent mit Stil Effekte der Selbstdarstellung erzeugen kann, impliziert, dass er Wahlmöglichkeiten hat. So ist Stil ein „Wahl-Akt“ (Eroms 2014: 23). Bei der Entscheidung für einen bestimmten Stil geht es letztendlich darum, „ein Kommunikationsziel adäquat zu erreichen“ (ebd.). Zum Wahl-Akt und zur Selbstdarstellung gehört auch, dass Stil quasi eine Gratwanderung zwischen Norm und Abweichung bedeutet. Eroms spricht von einem „Doppelcharakter“, einem „Janusgesicht“ des Stils: Wir erwarten „einerseits die Einhaltung der Normen […] andererseits aber bis zu einem gewissen Grade gerade deren Durchbrechung“ (2014: 16).

Das Besondere am Begriff ‚Nominalstil‘ gegenüber dem übergeordneten Konzept ‚Stil‘ ist nun, dass ‚Stil‘ – eigentlich ein Terminus, den wir mit Rhetorik, Texten, Epochen, Gattungen etc. in Verbindung bringen – hier zusammen mit einem Terminus für einen grammatischen Phänomenbereich gebraucht wird. Köller stellt die Verbindung in seinem Überblicksartikel zu „Stil und Grammatik“ wie folgt her:

Erstens können wir die beiden Phänomene als natürliche Teilgrößen der Gesamtgröße Sprache ansehen. Dann lässt sich das Phänomen Stil als ein Ordnungszusammenhang verstehen, der sich methodisch auf der Betrachtungsebene der parole erschließt, und das Phänomen Grammatik als einer, der methodisch auf der der langue zugänglich wird. In diesem Denkrahmen kann dann der Stil eines Texts als eine spezifische personen-, epochen- oder textsortenbedingte Auswahl von Formen aus einem vorgegebenen sprachlichen Formenrepertoire verstanden werden. (Köller 2009: 1212)

Zentral erscheint mir der Hinweis auf die „Auswahl von Formen“. Die folgende Übersicht versucht, das zu veranschaulichen:

Abb. 7:

Nominalstil und Verbalstil als auf Auswahl basierende Bündelungen sprachlicher Formen

Das bedeutet: Das grammatische System stellt uns ein Formenrepertoire zur Verfügung. Aus diesem Formenrepertoire treffe ich in der Kommunikation auf der Basis der Rahmenbedingungen eine Auswahl. Das folgende Beispielpaar aus der Begriffsbestimmung des Nominalstils von Bußmann veranschaulicht das:

(11) Das Scheitern der Gespräche war erwartet worden
(11‘) Es war erwartet worden, dass die Gespräche scheiterten.

Beide Sätze sind systemkonform, d.h., beide Sätze entsprechen den Regeln der deutschen Grammatik. Es handelt sich also um Ausdrucksvarianten, die mir zur Wahl stehen. In beiden Sätzen wird eine Aussage (PropositionProposition) in eine Bezugsstelle Bezugsstelleeiner anderen Aussage eingebettet Einbettung(von Polenz 2008: 232ff.). D. h., die Aussage ‚X war erwartet worden‘ ist übergeordnet, die Aussage ‚die Gespräche scheiterten‘ ist eingebettet. In (11‘) geschieht die Einbettung mit einem NebensatzNebensatz, in (11) mit einer NominalisierungNominalisierung. Da (11‘) einen Nebensatz mit einem Verb enthält, wird man dieses Beispiel als verbalstilistischer Verbalstilempfinden als die Variante (11), in der die Nominalisierung dazu führt, dass die Einbettung innerhalb eines Einfachsatzes vonstatten geht und die eingebettete Aussage folglich kein Verb beinhaltet. Die Wahl der einen oder anderen Variante führt zur Nutzung weiterer Formmerkmale: Beispielvariante (11) enthält neben der Nominalisierung als Kern Kernder Nominalgruppe Nominalgruppeden bestimmten Artikel Artikeldas sowie das Genitivattribut Genitivattributder Gespräche. Gemeinsam bilden Artikel, Kern und Attribut eine Nominalgruppe. Diese weist die folgenden nominalen Kategorien Kategorienominalauf: Neutrum, Singular, Nominativ. In Variante (11‘) ist der Nebensatz mit dem Subjunktor Subjunktordass eingeleitet. Die Nebensatzform wird darüber hinaus durch die Endstellung des finiten Verbs Verbfinitkodiert. Das finite Verb lässt sich wie folgt in Bezug auf die verbalen Kategorien Kategorieverbalbestimmen: 3. Person Plural Indikativ Aktiv Präteritum. Der Unterschied zwischen (11) und (11‘) liegt folglich nicht nur in der Wahl eines Nomens resp. Verbs, vielmehr sind mit dieser Wahl verschiedene Konsequenzen in Bezug auf das genutzte Formenrepertoire verbunden. Wir haben es also jeweils mit Formenbündeln zu tun und können vor diesem Hintergrund Nominalstil Nominalstilund Verbalstil als eine Menge an Formen einer nominalen resp. verbalen Ausdrucksweise verstehen.

Auf diese Weise dürfte auch deutlich geworden sein, wie die beiden scheinbar so unterschiedlichen Bereiche Grammatik und Stil im Nominalstil oder auch Verbalstil zusammentreffen: Die Grammatik stellt das Formenrepertoire zur Verfügung, Stil hingegen ist das Ergebnis einer Auswahl aus diesem Repertoire.

Nominalstil

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