Читать книгу Schwarzer Kokon - Matthias Kluger - Страница 15
Die Flucht beginnt
ОглавлениеDer Sonnenaufgang wurde von vielen Sperlingen begrüßt, die überschwänglich für Aba zwitscherten. Doch Aba hörte weder den Gesang der Vögel noch das morgendliche Treiben des Sklavendorfs. Wie in einem nebligen Schleier war sie auf Zola konzentriert, die ohne Regung vor ihr lag.
»Zola, Zola.«
Aba benetzte die Lippen ihrer Tochter mit Wasser und rüttelte sanft an ihren Schultern. Das linke Auge Zolas war zugeschwollen und hatte sich blau, violett und grün verfärbt. Jeden Moment, dessen war sich Aba bewusst, würde der Vorarbeiter erscheinen, um sie aufs Feld zu schicken.
Just in diesem Augenblick blickte dieser in die Hütte. »Aba, kwenda nje katika uwanja«, was so viel hieß wie: »Komm jetzt, raus aufs Feld.«
Aba sah ihn an, dann deutete sie auf Zola, leblos auf der Schlafdecke liegend.
»Ni nini kilichotokea (Was ist passiert)?«
»Zola ni kujeruhiwa vibaya. I hawajui. Mimi kukaa pamoja naye (Zola ist schwer verletzt, ich muss bei ihr bleiben).«
Eindringlich sah sie ihren Landsmann an, doch der Vorarbeiter konnte keine Rücksicht nehmen. Schon trat er auf sie zu, um sie aus der Hütte zu zerren. Seine Finger umschlossen ihr Handgelenk. Dies war der Augenblick, da eine furchtbare Energie seinen ganzen Körper erfasste. Als hätte er nach einer Stromquelle mit mehreren tausend Volt gegriffen, war er nicht in der Lage, seine Hand von Abas Handgelenk zu lösen.
Wie am Rande eines Wirbelsturms verloren seine nackten Füße den Kontakt zum Boden und eisiger Wind riss ihn in die Höhe. Unkontrolliert zuckte sein Körper in der Luft – verschweißt an Abas Handgelenk, um nicht davonzufliegen. Seine weit aufgerissenen Augen waren auf die von Aba gerichtet und obwohl er schreien wollte, war er außerstande, auch nur einen Ton von sich zu geben.
Abas Augen veränderten sich schlagartig. Die runden Pupillen verformten sich zu zwei Ellipsen, während ihr sonst so sanfter Blick sich in eine gleißend grüne Lichtquelle wandelte. Der kleine Raum mutierte, von sichtbaren Wellen durchzogen, zu einer riesigen, hell erleuchteten Halle. Laut dröhnte es in den Ohren des Farbigen, der nach wie vor herumgewirbelt an Abas Handgelenk gefesselt schien. Durch den schmerzhaft hallenden Laut hindurch sowie vom grünen Lichtstrahl Abas Augen gebannt, drang eine Stimme zu ihm, ohne dass Aba ihre Lippen bewegte. Ihre Gedanken umwoben im Bruchteil von Sekunden die seinen. Wie eine Spinne, die ihren klebrigen Faden um den zappelnden Schmetterling im Netz spinnt, umspannen Abas Gedanken seine weiche Gehirnmasse.
»Uqando gejuna daque, uqando gejuna daque, uqando gejuna daque.«
Wieder und wieder drangen diese geheimnisvollen Worte, die keiner Sprache zuzuordnen waren, dunkel hallend in seinen Verstand; durchspülten jenen, versickerten in jeder noch so kleinen, weichen Gehirnwindung. Kleine Blutstropfen fanden den Weg durch die Tränendrüsen des Farbigen und füllten seine Augen.
So schnell, wie die schmerzende Kraft Besitz von seinem wirbelnden Körper ergriffen hatte, war sie auch wieder verschwunden. Er fiel wie ein Stein auf den staubigen Boden direkt vor Abas Füße.
Plötzliche Ruhe.
Kein Hauch war zu spüren.
Benommen, angsterfüllt, blickte er zu Aba.
»Geh jetzt und sage nichts!«, befahl sie.
Am ganzen Körper zitternd, noch immer das Schauspiel nicht begreifend, stand er langsam auf und verneigte sich vor ihr wie vor einer Gottheit. Er, die Urgewalt des Übermächtigen soeben erlebt, flüchtete nach draußen.
Geschwächt sank Aba neben Zola in sich zusammen. Sie ahnte von dieser Kraft, kannte sie aus ihren Träumen, nun wissend, dass sie außerstande war, dies Übernatürliche zu steuern. Ihre Mutter, »die Weise« ihres Stammes im kleinen Dorf in Ghana, hatte Aba, als kleines Mädchen, oft davon erzählt. Es waren liebevolle Erzählungen von engelsgleichen Kräften der Seelen der Ahnen, die gebündelt wie Wellen des Ozeans den Körper der Auserwählten durchspülen. Doch keine der Geschichten hatte ansatzweise das wiedergegeben, was soeben passiert war.
Zolas Zeigefinger zuckte. Stille, absolute Ruhe; wie in der Unendlichkeit des Alls schwebend. Eine kleine, grün schillernde Fliege krabbelte auf Zolas rechtem Handrücken. Wieder bewegte sich Zolas Finger. Sie öffnete ihr zuckendes rechtes Augenlid. Das linke war zu verschwollen, als dass sie es hätte bewegen können.
Zolas Hand suchte zitternd die Abas und drückte sie schwach. Tränen liefen Zolas Wangen herab – noch war sie nicht in der Lage, etwas zu sagen. Wie in einem bösen Traum erschien vor ihr das gespenstische Antlitz von Clexton Baine.
Nun stammelte sie leise flüsternd: »Baine, Baine, Baine.« Immer wieder raunte sie den Namen. Ihre Hände zitterten immer heftiger, je öfter »Baine« über ihre Lippen kam.
Abas Augen wurden feucht. Die Erleichterung, ihr junges Mädchen zwar schwach, aber bei Bewusstsein zu sehen, rückte von einer Sekunde auf die andere in den Hintergrund, als sie Baines Namen hörte. Augenblicklich wusste sie, was Zola geschehen war. Welche Pein und Angst ihre Tochter ausgestanden hatte!
Sie streichelte Zola zärtlich die Wange: »Zola, beruhige dich. Du bist in Sicherheit.«
Unbändiger Zorn stieg in Aba hoch, wissend, dass sie beide in Lebensgefahr schwebten. Mr. Baine würde es nicht zulassen, dass Zola als Opfer und sie als Mitwisserin des Geschehens am Leben blieben.
»Zola, wir müssen fliehen. Mr. Baine wird uns beide umbringen.«
Keine weitere Sekunde durfte sie verstreichen lassen. Zu übermächtig war die Gefahr. Aba schob ihren linken Arm unter Zolas Rücken und zog sie zu sich. Zola nahm mit letzter Kraft, in sich gekauert, auf der Decke Platz.
»Hier, zieh das an.« Sie reichte ihr ein grob gewebtes, braunes Baumwollkleid. Zolas Glieder schmerzten, als sie die Arme anhob, um das Kleid über ihren Kopf zu streifen.
Unterdessen spähte Aba aus dem Eingang ihrer Hütte, um das noch rege Treiben auf dem Gelände zu beobachten. Die Vorarbeiter überwachten den Trubel und drängten die Sklaven zur Eile. Wenn sie Zola ins Freie schleppen würde, wäre das Risiko erheblich, dass einer der Vorarbeiter Aba von Zola trennen würde. Sie mussten warten, bis alle auf den Feldern ihrer Arbeit nachgingen und Ruhe im Camp einkehrte.
Sie nutzte die Zeit, gab Zola einen Schluck Wasser, dann setzte sie sich neben ihre Tochter, die Angst im Nacken, dass jeden Moment Mr. Baine auftauchen würde.
Allmählich verstummten alle Geräusche, die vor ihrer Behausung ins Innere drangen, und Ruhe stellte sich ein. Zweifelsfrei bestand die einzige Chance zu fliehen darin, unbemerkt zum Fluss zu kommen. Wie weiter, würde sie dort entscheiden müssen.
Schritte vor der Strohhütte.
Todesangst stieg in ihnen hoch.
Aba und Zola drückten ihre Rücken an die Holzplanken der Hütte und saßen umarmt, kauernd, mit angezogenen Knien auf Abas schäbiger Schlafdecke, ganz so, als ob sie hierdurch unsichtbar werden würden. Das Loch des Eingangs erschien in diesem Moment wie das weit aufgerissene Maul eines sie sogleich verschlingenden Ungeheuers.
Ein Gesicht, welches von hinten mit Tageslicht beschienen und somit im Schatten lag, erschien und Aba erkannte beide Personen erst, als sie eintraten. Tumelo, gefolgt von Sam Haskins. Niemand sagte ein Wort – die ganze Situation glich einem schweigsamen Gebet in der Kirche. Sam trat zu Zola, hob mit Zeige- und Mittelfinger leicht ihr Kinn und betrachtete das zugeschwollene Auge.
Aba, erleichtert, nicht mehr alleine zu sein, sah Sam an, anschließend Tumelo, und entblößte erst Zolas Schulter, anschließend ihre Beine. »Baine!«, durchbrach sie die Stille.
Sam Haskins war der Erste, der die Situation erfasste. Keine Ahnung, was genau geschehen war. Wurde sie von Mr. Baine bestraft, gezüchtigt? In diesem Moment war dies auch egal. Die Sklavin hatte das Herrenhaus unerlaubt verlassen.
Zola zitterte, hob ihren Rock und deutete ungeniert auf ihre Scham. Ihre Geste war derart schockierend, dass Tumelo Übelkeit beschlich, als er begriff, was Zola zugestoßen war. In ihm entbrannte der Hass des betrogenen Liebhabers, der er nie war, aber gerne gewesen wäre.
»Mr. Haskins, was wir tun? Zola sonst sterben«, entfuhr es Tumelo aufgeregt.
Zola, trotz ihrer Qualen bewundernswert gefasst, brach nun in Tränen aus. Keine Tränen der Angst oder gar Scham, sondern funkensprühender Hass, entfesselte Wut. Tief, ihren glasigen Blick in die Augen von Sam Haskins bohrend, zischte Zola: »Ich werde töten Mr. Baine.«
Sam wusste, dass es nie so weit kommen würde, wenn sie hier in der Hütte blieben. »Packt eure Sachen, wir müssen raus hier, bevor Mr. Baine kommt.«
Da sie nichts hatten, was man packen konnte, halfen sie Zola hoch und von Tumelo gestützt standen sie am Ausgang der Hütte.
Es schien zu spät.
In einer Entfernung von etwa achtzig Metern sah Sam drei Personen vom Herrenhaus her kommen. »Schnell, da sind sie.«
Sam deutete in Richtung des angrenzenden Waldes, in dessen Areal auch der ›Schlund‹ seinen Platz hatte. Das angrenzende Buschwerk würde ihnen erst einmal Deckung geben, denn der direkte Weg zum Ashley River bot ihnen auf ganzer Strecke keinen Sichtschutz.
In der Hoffnung, nicht von den drei näher Rückenden entdeckt zu werden, huschten sie blitzschnell und geduckt hinter Abas Hütte. Von dort aus ging es, die weiteren eng stehenden Hütten als Deckung, circa hundert Meter weiter, bis sie den dicht bewucherten Rand des Areals erreichten. Allen war bewusst, dass sie als Fliehende und Fluchthelfer in Lebensgefahr waren. Nur eine Minute später und sie wären entdeckt worden.
Hinter dem Gebüsch sackte Zola erneut in sich zusammen. Zu mächtig waren die Ereignisse der letzten Stunden und sie fühlte sich elend.
Sam und Tumelo schoben Zweige eines Steppenläuferstrauchs zur Seite und beobachteten, wie Mr. Baine, von zwei Negern eskortiert, sowohl vor als auch in der Hütte suchte, in der sie selbst noch vor wenigen Minuten standen. Mr. Baine blickte um sich. Schon dachte Sam, dass Baines Blick in Richtung der Sträucher verweilte.
Nachdem einer der Farbigen im Inneren der Hütte verschwunden war, um sogleich wieder herauszukommen, machten sich die drei zu Sams Erleichterung auf den Weg zu den Baumwollfeldern.
»Sie werden Aba auf den Feldern suchen«, sagte Sam. »Wir haben nicht viel Zeit. Schnell, wir müssen zum Fluss.«
Der Ashley River stellte die einzige Möglichkeit dar, zu entkommen, jedoch auch das größte Hindernis. Das gesamte Ufergelände war gut bewacht, um diejenigen abzuschrecken, die eine Flucht aus der Leibeigenschaft planten. Die Wachen waren mit Gewehren bewaffnet und Sam wusste, dass sie Mr. Baine hörig waren und seinen Schießbefehl ohne Rücksicht ausführen würden. Sam fasste unter Zolas Beine und Schulter und führte die Gruppe durch das Dickicht. Er stolperte mehrfach, da das Wurzelwerk den Boden uneben machte. Schweiß lief ihm in die Augen.
Nach einer guten Stunde, unterbrochen durch eine kurze Pause, in der Tumelo Zola übernahm, hatten sie es geschafft. Sie spürten die höhere Luftfeuchtigkeit und konnten durch das Gestrüpp hindurch das Ufer erkennen. Sam schlich voraus, dann duckte er sich ruckartig. Die anderen taten es ihm gleich. Vor ihnen, etwa fünfzig Schritte entfernt, patrouillierte eine Wache, ihnen den Rücken zugekehrt.
Sam dachte nach. Was, wenn er zum Schwarzen gehen und ihn durch ein Gespräch ablenken würde? Er hatte schon des Öfteren mit den Wachen geplaudert, wenn er an einem freien Sonntag mit seinem ›Kahn‹ auf den Fluss hinausfuhr, um Barsche zu angeln. Sicher, er war bekannt unter ihnen, doch würden sie misstrauisch werden, da es in der Woche war? Früher oder später hätte Mr. Baine davon erfahren und eins und eins zusammengezählt. Nein, sie mussten sich weiter rechts der Felder halten, um eine Lücke zwischen den Spähern zu finden.
Ihm kam seine kleine Barke in den Sinn. Sie würde sich für eine Flucht eignen, doch lag diese genau in entgegengesetzter Richtung, fest vertäut, mit Gestrüpp verdeckt am Ufer.
Leise schlich die kleine Gruppe flussaufwärts durch das Geäst, bis Sam den nächsten, ebenfalls bewaffneten Posten erspähte. Beide Wachen waren keine zweihundert Meter voneinander postiert, was es unmöglich machte, unentdeckt zum Ufer zu gelangen. Nur im Schutz der Dunkelheit würde das beinah aussichtslose Unterfangen vielleicht doch gelingen.
Sam wandte sich an Tumelo: »Wir müssen zurück und die Nacht abwarten. Mr. Baine darf nicht erfahren, dass wir hier waren.« Und an Aba und Zola gerichtet: »Geht weiter zurück ins Dickicht, ruht euch aus und kommt, wenn es dunkel wird. Tumelo und ich werden auch da sein. Versteckt euch so lange im Buschwerk.«
Dann rannten Sam und Tumelo los. Sie mussten wieder zur Stelle sein, bevor Baine zum Herrenhaus zurückkam. Während sie hetzten, drehten sich Sams Gedanken um Mr. Baine. Was, wenn er einen Suchtrupp nach den beiden zusammenstellt? Die Chancen von Aba und Zola waren minimal.